BT-Drucksache 16/5877

Inlandseinsätze der Bundeswehr nach Artikel 35 des Grundgesetzes und Unterstützungsleistungen für Veranstaltungen Dritter seit 1990

Vom 3. Juli 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5877
16. Wahlperiode 03. 07. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dag˘delen, Inge Höger, Jan Korte
und der Fraktion DIE LINKE.

Inlandseinsätze der Bundeswehr nach Artikel 35 des Grundgesetzes und
Unterstützungsleistungen für Veranstaltungen Dritter seit 1990

Vertreter der Bundesregierung fordern kontinuierlich, die Möglichkeiten für den
Einsatz der Bundeswehr im Innern zu erweitern. Der Bundesminister des Innern,
Dr. Wolfgang Schäuble, will Soldaten im Inland „zu Schutzzwecken“, also zu
polizeilichen Aufgaben, einsetzen. Presseberichten zufolge haben sich die Re-
gierungsfraktionen auf eine Änderung von Artikel 35 des Grundgesetzes ge-
einigt, um dem Militär künftig auch in Friedenszeiten den Einsatz schweren
Kriegsgeräts im Inland zu ermöglichen (u. a. http://www.tagesschau.de vom
16. Mai 2007).

Artikel 35 des Grundgesetzes definiert die Zulässigkeit von Inlandseinsätzen
außerhalb des Verteidigungsfalls. In Absatz 1 heißt es: „Alle Behörden des Bun-
des und der Länder leisten sich Amtshilfe.“ Die Bundeswehr kann nach Absatz 2
auf Anforderung eines Landes zur „Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei
einem besonders schweren Unglücksfall“ verwendet werden, ggf. – nach den
Vorgaben des Absatzes 3 – auch ohne Anforderung durch die Länder.

Die Bundesregierung interpretiert insbesondere die Amtshilfe-Regelung groß-
zügig, indem sie bei der Fußball-Weltmeisterschaft und beim Besuch des US-
Präsidenten im Sommer 2006 sowie beim G8-Gipfel im Juni 2007 bis zu meh-
rere tausend Soldaten einsetzte. Insbesondere beim G8-Gipfel hat die Bundes-
wehr mittels Spähpanzern und Tornados direkte Zuarbeit für die Polizei geleis-
tet. Die massive Präsenz von Soldaten sowohl vor als auch hinter polizeilichen
Absperrungen war ebenfalls geeignet, das innerstaatliche Kräfteverhältnis zu
verschieben und den Willen von Bürgerinnen und Bürgern zu beeinflussen, so
dass der Militär- einem Polizeieinsatz zumindest nahe kam.

Hinzu kommt eine weitere Kategorie von Inlandseinsätzen: Unterstützungsleis-
tungen für Veranstaltungen Dritter. Hier ist beispielhaft auf die Münchner
Sicherheitskonferenz im Februar 2007 zu verweisen, wo 400 Soldaten im Ein-
satz waren. Von diesen waren 90 mit Pistolen bewaffnet und mit der Ausübung
des Hausrechts beauftragt, sie hatten also Zwangsbefugnisse (siehe Antwort der
Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundes-
tagsdrucksache 16/4312).
Amtshilfeeinsätze wie Unterstützungsleistungen können von der Bundeswehr
auch ohne zwingende Erforderlichkeit ausgeführt werden, da entsprechende
Prüfkriterien bislang fehlen und die Zustimmung des Parlaments nicht eingeholt
werden muss. Solche Einsätze können geeignet sein, um die Bevölkerung an den
Anblick von Soldatinnen und Soldaten im Straßenbild zu gewöhnen und so Ak-
zeptanz zu schaffen für noch weitergehende Inlandseinsätze des Militärs. In die-

Drucksache 16/5877 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

sem Sinne können sie dazu dienen, die von der Bundesregierung angestrebte Er-
weiterung der Einsatzmöglichkeiten im Inland vorzubereiten.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie häufig wurden im Zeitraum seit 1990 Inlandseinsätze der Bundeswehr
durchgeführt

a) auf Grundlage von Artikel 35 Abs. 1 (Amtshilfe),

b) auf Grundlage von Artikel 35 Abs. 2 (Hilfe bei Naturkatastrophe oder
besonders schwerem Unglücksfall),

c) auf Grundlage von Artikel 35 Abs. 3 (überregionale Naturkatastrophen
oder Unglücksfälle)

(bitte jeweils den Anlass benennen, die Angaben nach einzelnen Jahren auf-
gliedern und auf etwaige Überschneidungen zwischen den Rechtsgrundlagen
hinweisen)?

2. Wie viele Soldaten bzw. Reservisten wurden jeweils eingesetzt?

3. Welche und wie viele militärische Fähigkeiten bzw. Gerätschaften wie ge-
panzerte Fahrzeuge, Hubschrauber und dergleichen wurden dabei eingesetzt
(bitte jeweils den Anlässen zuordnen)?

4. Welche Kosten sind dabei jeweils entstanden?

5. a) Wie viele Amtshilfeersuchen auf Grundlage von Artikel 35 Abs. 1 sind im
Zeitraum seit 1990 abgelehnt worden (bitte jeweils den Anlass für das
Ersuchen, die ersuchende Behörde und den Grund für die Ablehnung
benennen)?

b) Wie viele Hilfsanforderungen auf Grundlage von Artikel 35 Abs. 2 sind
im Zeitraum seit 1990 abgelehnt worden (bitte jeweils den Anlass für die
Anforderung, die anfordernde Behörde und den Grund für die Ablehnung
benennen)?

6. Welche Kriterien legt die Bundesregierung bei der Prüfung von Amtshilfe-
ersuchen und Hilfsanforderungen an, und wo sind diese Kriterien niederge-
legt?

a) Wird dabei geprüft, ob der Einsatz der Bundeswehr sachlich geboten ist
oder ob die Kapazitäten anderer Behörden bzw. privater Dienstleister aus-
reichend sind?

b) Welche Instanzen sind mit der Prüfung betraut?

c) Sind diese Kriterien im Zeitraum seit 1990 geändert worden (bitte ggf.
erläutern)?

d) Erwägt die Bundesregierung, die Kriterien zu ändern (bitte ggf. erläu-
tern)?

7. Wie häufig wurden im Zeitraum seit 1990 Unterstützungsleistungen für Ver-
anstaltungen Dritter gewährt?

a) Um welche Veranstaltungen handelte es sich dabei, und was war der
Grund für die Unterstützung (bitte nach Jahren aufgliedern)?

b) Wie viele Soldaten waren dabei jeweils eingesetzt, und wie viele von die-
sen waren bewaffnet?

c) Wie viele und welche Gerätschaften der Bundeswehr sowie typischen

militärischen Fähigkeiten wurden dabei jeweils verwendet?

d) Welche Kosten sind dabei jeweils entstanden?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5877

8. Welche Kriterien legt die Bundesregierung bei der Prüfung von Anfragen
nach Unterstützungsleistungen zu Grunde, und wo sind diese Kriterien nie-
dergelegt?

a) Wird dabei geprüft, ob die Unterstützung der Bundeswehr für die Durch-
führung der Veranstaltung tatsächlich erforderlich ist?

b) Wird dabei geprüft, inwiefern die Unterstützung durch die Bundeswehr
sich nachteilig auf die Privatwirtschaft, insbesondere private Dienstleis-
ter, auswirkt?

9. Wie viele Anfragen nach Unterstützungsleistungen sind im Zeitraum seit
1990 abgelehnt worden (bitte jeweils nach Jahren, Anlass und Grund der
Ablehnung aufgliedern)?

10. Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, es handle sich bei
der Verwendung von Soldaten, die, ohne einen Auftrag zur Gewaltanwen-
dung zu haben, außerhalb militärischer Anlagen patrouillieren, um einen
Einsatz, der unter Zulassungsvorbehalt gemäß Artikel 87a fällt, weil allein
ihre Präsenz eine willensbeeinflussende Wirkung auf die Bürgerinnen und
Bürger haben kann, und wenn nein, warum nicht?

11. Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, es handle sich bei
der Verwendung von Soldaten, die mit Zwangsbefugnissen ausgestattet sind
wie beispielsweise der Wahrnehmung des Hausrechts außerhalb militäri-
scher Liegenschaften, um Veranstaltungen Dritter zu unterstützen, um einen
Einsatz, der unter Zulassungsvorbehalt gemäß Artikel 87a fällt?

Wenn nein, warum nicht, wenn ja, auf welcher Rechtsgrundlage finden nach
Ansicht der Bundesregierung solche Einsätze statt?

12. Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, es handle sich bei
der Verwendung von Soldaten, die ein Tätigwerden der Polizei entweder
erst ermöglicht oder unterstützt und die Polizei in die Lage versetzt, mehr
Kräfte einzusetzen, um einen Einsatz, der unter Zulassungsvorbehalt gemäß
Artikel 87a fällt, und wenn nein, warum nicht?

13. Ist es aus Sicht der Bundesregierung mit dem Trennungsgebot zwischen
Polizei und Militär vereinbar, dass die Bundeswehr der Polizei direkte
Zuarbeit leistet, wie etwa in Form von Überflügen mittels Aufklärungs-
tornados und der Bereitstellung und Bedienung von Spähpanzern auch
dann, wenn die daraus gewonnenen Erkenntnisse nicht etwa der Suche nach
vermissten Personen dienen, sondern Eingang in obrigkeitliche Tätigkeiten
wie die Bekämpfung von Demonstrationen finden (bitte begründen)?

14. Welche Rolle spielt das neu eingerichtete „territoriale Netzwerk“ für zivil-
militärische Zusammenarbeit bei Entscheidungen, die Bundeswehr nach
Artikel 35 Abs. 2 anzufordern?

Inwieweit sind die im ZMZ-Bereich (ZMZ: Zivil-Militärische Zusammen-
arbeit) eingesetzten Reservisten bzw. Beauftragten der Bundeswehr in den
Kreis- und Bezirksverbindungskommandos an der Entscheidung über eine
mögliche Anforderung der Bundeswehr beteiligt?

Berlin, den 28. Juni 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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