BT-Drucksache 16/5139

Kommerzialisierungstendenzen im Schulwesen stoppen - Bildungsteilhabe für alle Kinder und Jugendlichen sichern

Vom 25. April 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5139
16. Wahlperiode 25. 04. 2007

Antrag
der Abgeordneten Cornelia Hirsch, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte,
Volker Schneider (Saarbrücken), Elke Reinke und der Fraktion DIE LINKE.

Kommerzialisierungstendenzen im Schulwesen stoppen – Bildungsteilhabe für
alle Kinder und Jugendlichen sichern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Statt allen Kindern und Jugendlichen die Teilhabe an Bildung zu ermöglichen,
reproduziert und verschärft das deutsche Bildungssystem soziale Ungleichhei-
ten. Im Ergebnis hängt der Bildungserfolg ursächlich mit der sozialen Herkunft
der Schülerinnen und Schüler zusammen. Um diese soziale Diskriminierung
abzubauen, müsste die Enttabuisierung der Schulstrukturfrage bundesweit ganz
oben auf die bildungspolitische Agenda gesetzt werden. Die Bundesregierung
nimmt die Verantwortung dafür allerdings nicht wahr. Im Zuge der Föderalis-
musreform gab sie ihre Möglichkeiten zur Unterstützung, Steuerung und ge-
samtstaatlichen Planung im Bildungsbereich noch weiter an die Länder ab. Das
hat zur Folge, dass sie die bildungspolitische Verantwortung an die Länder de-
legiert.

Neben der ausgrenzenden Schulstruktur führen zunehmend auch Kommerziali-
sierungstendenzen im Schulwesen zu einer Verschärfung der sozialen Schief-
lage. Beispiele sind:

● Die wachsende Bedeutung privater Nachhilfe – begründet in den mangeln-
den Förderangeboten im öffentlichen Schulwesen – ist ein Privileg, das sich
nur besser verdienende Eltern für ihre Kinder leisten können.

● Durch die Aufhebung der Lernmittelfreiheit können viele Eltern die Kosten
für die Schulmaterialien ihrer Kinder nicht mehr aufbringen. Die Kosten für
die Mittagsverpflegung in Ganztagsschulen übersteigen vielfach den hierfür
vorgesehenen Anteil des ALG-II-Regelsatzes (0,97 Euro für Kinder bis 14
Jahre).

● Die Zahl der Schülerinnen und Schüler an Privatschulen wächst, was vor
allem bei kommerziellen Schulträgern mit einer sozialen Sortierung einher-
geht.

● Die Lücke, die durch die schlechte finanzielle und personelle Ausstattung
öffentlicher Schulen entsteht, wird zunehmend von Unternehmerverbänden
und privaten Stiftungen zur gezielten Eigenwerbung sowie für die Veranke-
rung eigener Vorstellungen von Bildungsinhalten genutzt.

Ungeachtet der generellen Verantwortung der Länder für das Schulwesen ver-
fügt die Bundesregierung bei diesen Fragen über konkrete Einflussmöglichkei-
ten. Diese Einflussmöglichkeiten muss sie im Sinn eines sozial gerechten Bil-

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dungswesens nutzen. Allen voran setzt eine sozial gerechte Bildungspolitik
eine bessere finanzielle Ausstattung des öffentlichen Schulwesens voraus.
Dazu ist eine grundlegende Umkehr in der Steuer- und Finanzpolitik des Bun-
des unerlässlich. Darüber hinaus muss die Bundesregierung kurzfristige Maß-
nahmen auf den Weg bringen, die die Kommerzialisierungstendenzen im
Schulwesen stoppen und somit eine Verschärfung des Ausschlusses von Bil-
dung aus sozialen Gründen abwehren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, kurzfristig

1. durch Änderungen im Umsatzsteuergesetz bzw. in den Ausführungsbestim-
mungen sicherzustellen, dass kommerzielle Nachhilfeanbieter umsatzsteuer-
pflichtig sind, um die steuerliche Subventionierung privater Bildungsdienst-
leister zu beenden;

2. auf die Länder einzuwirken, dass die Aufhebung der Lernmittelfreiheit rück-
gängig gemacht wird und die Länder ihre Verantwortung für eine sozial aus-
gewogene Versorgung mit dem Ziel einer vollständigen Lernmittelfreiheit
wahrnehmen. Eine sozial ausgewogene Finanzierung der Kosten für die
Mittagsverpflegung für Geringverdienende und Sozialleistungsbeziehende
ist darüber hinaus zu gewährleisten. Solange und soweit die Länder dieser
Verpflichtung noch nicht ausreichend nachkommen, ist durch eine Ände-
rung im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) den Bezieherinnen und
Beziehern von Arbeitslosengeld II für schulische Lernmittel über die Regel-
leistung nach § 20 SGB II hinausgehende aufstockende Leistungen als indi-
viduell nachzuweisender Mehrbedarf nach § 21 SGB II zu gewähren. Ebenso
sind die über den Regelsatz hinausgehenden Kosten der Mittagsverpflegung
sowie der Einschulung zu decken. Analoge Regelungen werden ins SGB XII
sowie ins Asylbewerberleistungsgesetz aufgenommen;

3. die bundesweiten Voraussetzungen zur Anerkennung von Privatschulen in
Artikel 7 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) sowie die aktuelle Genehmigungs-
praxis zu überprüfen und dahingehend zu ändern, dass kommerzielle Schul-
träger, deren vorrangiges Ziel es ist, durch den Privatschulbetrieb Gewinne
zu erwirtschaften, von der Genehmigung ausgeschlossen sind;

4. bei der Ausgestaltung des Ganztagsschulprogramms dafür Sorge zu tragen,
dass zusätzliche Angebote gebührenfrei wahrgenommen werden können
und in öffentlicher Verantwortung liegen;

5. im Rahmen ihrer Mitarbeit im Georg-Eckert-Institut für internationale
Schulbuchforschung auf einen Ausschluss von Schulbüchern und Lernmate-
rialien zu drängen, mit denen Unternehmerverbände oder private Stiftungen
an den Schulen gezielt für ihre Interessen werben.

Berlin, den 25. April 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Eine der Hauptursachen für die soziale Diskriminierung im Bildungssystem
liegt in der Schulstruktur. Statt alle zu fördern und niemanden zurückzulassen,
werden Schülerinnen und Schüler durch das gegliederte Schulsystem aussor-
tiert und „nach unten“ abgeschoben. Rund ein Viertel aller Schülerinnen und
Schüler verlassen die Schule weitgehend ohne Perspektive. Diese Situation kann

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nicht länger akzeptiert werden. Neben der grundsätzlichen Herausforderung, das
gegliederte Schulsystem zu überwinden, die vor allem von den Bundesländern
zu meistern ist, muss die Bundesregierung weiteren Kommerzialisierungsten-
denzen, die die sozialen Benachteiligungen verstärken, entgegenwirken. Ent-
scheidende Voraussetzung ist eine bessere finanzielle Ausstattung der Schulen,
die nur durch eine grundlegende Umkehr in der Steuer- und Finanzpolitik des
Bundes zu erreichen ist. Daneben sollten mehrere kurzfristige Maßnahmen auf
den Weg gebracht werden.

Zu Nummer 1

Die Anbieter kommerzieller Nachhilfe sind durch die Regelungen des Umsatz-
steuergesetzes von der Umsatzsteuer befreit. Hintergrund ist die Umsatzsteuer-
richtlinie 112, mit der Angebote privater Nachhilfe als Teil des Bildungswesens
anerkannt werden. Durch diese Festsetzung fallen sie unter die Sechste EG-
Richtlinie, die eine Privilegierung hinsichtlich der Steuerzahlungspflicht vor-
sieht. Mit der Umsatzsteuerbefreiung verzichtet die Bundesregierung jedes Jahr
auf Einnahmen in Millionenhöhe. Diese Gelder fehlen unter anderem für eine
bessere Ausstattung des öffentlichen Schulwesens. Um die steuerliche Subven-
tionierung privater Bildungsdienstleister zu stoppen und das öffentliche Schul-
wesen zu stärken, dürfen private Nachhilfeangebote im Umsatzsteuergesetz
nicht mehr als Teil des Bildungswesens anerkannt werden. Damit würde die
Sechste EG-Richtlinie nicht mehr greifen. Die Bundesregierung muss hierzu
Änderungen im Umsatzsteuergesetz bzw. in den Ausführungsbestimmungen
beschließen.

Zu Nummer 2

Mit der erfolgten Aufhebung und Reduktion der Lernmittelfreiheit werden
Eltern inzwischen in fast allen Bundesländern in unterschiedlicher Höhe zur
Finanzierung der Lernmaterialien ihrer Kinder herangezogen. Die Kosten für
die Schulspeisung sowie der Einschulung werden maßgeblich den Eltern über-
lassen. Dies betrifft auch und insbesondere die Bezieherinnen und Bezieher von
Arbeitslosengeld II, Sozialgeld sowie Leistungen nach dem Asylbewerberleis-
tungsgesetz. Prinzipiell sind die Länder für diese Aufgaben zuständig. Solange
und soweit diese Aufgabenerfüllung aber defizitär ist, muss der Bund ergän-
zend einspringen.

Die im Regelbedarf enthaltenen Beträge reichen für diese Ausgaben nicht aus.
Ähnlich wie zur Finanzierung mehrtägiger Klassenfahrten muss deshalb auch
im Fall von schulischen Lernmitteln eine entsprechende Anpassung im SGB II,
SGB XII sowie im Asylbewerberleistungsgesetz vorgenommen werden. Mittel-
fristig muss die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den Ländern die Vor-
aussetzungen für eine Wiedereinführung der Lernmittelfreiheit schaffen.

Zu Nummer 3

Neben gemeinnützigen Schulträgern treten im Privatschulwesen auch verstärkt
kommerzielle Schulträger auf. Ein Beispiel ist die Phorms Management AG,
die in Berlin eine erste Privatschule eröffnet hat und in München, Köln und
Frankfurt weitere Niederlassungen plant. Ihr vorrangiges Ziel ist es, durch den
Privatschulbetrieb Gewinne zu erwirtschaften. Auf dieser Grundlage ist ein
sozial gleicher Zugang nicht mehr zu erwarten. Die Regelungen in Artikel 7
Abs. 4 GG zur Anerkennung von Privatschulen müssen vor diesem Hinter-
grund überprüft und gegebenenfalls geändert werden.

Zu Nummer 4

Unter anderem bieten sich die beiden marktführenden Institute privater Nach-
hilfe – „Schülerhilfe“ und „Studienkreis“ – den Schulen als Kooperationspart-
ner für die Ausgestaltung des Ganztagsschulangebots an. Sie werben unter an-
derem damit, dass ihre Angebote billiger seien, als über die Beschäftigung

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ausgebildeter Lehrerinnen und Lehrer. Mit einer guten Qualität der Angebote
und dem Erhalt sozialer Rechte der Beschäftigten ist dieser Weg allerdings
nicht vereinbar. Darüber hinaus ist zu befürchten, dass Nachmittagsangebote
teilweise kostenpflichtig werden, was zu einer sozialen Benachteiligung von
Kindern und Jugendlichen aus einkommensschwachen Schichten führen
würde. Aus diesem Grund muss die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit
den Ländern für eindeutige Kriterien zur Ausgestaltung des Ganztagsschulpro-
gramms sorgen.

Zu Nummer 5

Unternehmerverbände und private Stiftungen bieten sich zunehmend als Ko-
operationspartner für Schulen an, indem sie unter anderem Schulbücher und
sonstige Lernmaterialien zur Verfügung stellen. Beispielsweise bietet der Bun-
desverband deutscher Banken Schulbücher für einen sog. praxisnahen Wirt-
schaftsunterricht an. Von der Firma Balsen gibt es Materialien zum Lesenlernen
in der Grundschule. Die Firma Microsoft sponsert Computer. Diese Angebote
sind erstens direkte Werbung für die Produkte der jeweiligen Unternehmen und
dienen zweitens dem Prestigegewinn und sind somit als Werbung zu betrach-
ten. In vielen Fällen werden gezielt Gymnasien oder Schulen in guter Lage in
Großstädten unterstützt. Hauptschulen, Schulen an sozialen Brennpunkten oder
in ländlichen Gebieten gehen leer aus. Sowohl die Beeinflussung der Schülerin-
nen und Schüler als auch die soziale Ungleichheit sind abzulehnen.

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