BT-Drucksache 16/4989

Ausländerrechtliche Fragen im Zusammenhang mit dem Fall Murat Kurnaz

Vom 4. April 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4989
16. Wahlperiode 04. 04. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Jan Korte und der Fraktion
DIE LINKE.

Ausländerrechtliche Fragen im Zusammenhang mit dem Fall Murat Kurnaz

Die öffentliche Diskussion über die Verantwortung „der Deutschen“ für „den
Türken“ Kurnaz, über die Frage der Einbürgerung von Murat Kurnaz und über
(angebliche) Sicherheitsgefahren, die von Kurnaz ausgegangen seien oder noch
ausgehen, verdeutlicht die allgemeine ausländerpolitische Bedeutung des Fal-
les: „Politisch ist der Fall Kurnaz ein trauriges Exempel für die Unbarmherzig-
keit deutscher Ausländerpolitik und für die exekutive Unerbittlichkeit beim
Hantieren mit den Paragrafen des Ausländerrechts. (…) Das Denken kreist um
Ausweisung und Abschiebung, nicht um Integration. Und im Kern dieses
Denkens steht der Satz: Die gehören nicht zu uns“ (Heribert Prantl in der Süd-
deutschen Zeitung vom 25. Januar 2007).

Bereits bei der Verabschiedung der Anti-Terror-Gesetze infolge des 11. Septem-
ber 2001 war die Kritik vorgebracht worden, die Ausweisungs-, Versagungs-
und Einreiseverbotsbestimmungen im Zusammenhang mit der Gefährdung der
freiheitlich demokratischen Grundordnung seien zu generalklauselartig verfasst
und schafften damit Rechtsunsicherheit (vgl. nur die Presseerklärung von PRO
ASYL vom 2. November 2001). Der Fall Murat Kurnaz wirft ein Schlaglicht
auf die Folgen des Abstimmungsprinzips im deutschen Staatsangehörigkeits-
recht, auf restriktive Einbürgerungsbestimmungen, auf die Ausweisungspraxis
gegenüber in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Menschen nicht-
deutscher Staatsangehörigkeit und auf das prekäre Verhältnis von Rechtsstaat-
lichkeit und Sicherheitsdenken.

Die nachfolgenden Fragen beziehen sich nicht auf die nachrichtendienstliche
Tätigkeit deutscher Sicherheitsbehörden, zu der die Bundesregierung nur in den
dafür vorgesehenen Gremien des Deutschen Bundestages Stellung nimmt. Par-
lamentarische Fragen zum konkreten Fall und zu politischen Bewertungsfragen
über den Einzelfall hinaus sind durch die Einrichtung eines Untersuchungsaus-
schusses nicht unzulässig geworden. Dies gilt auch und gerade vor dem Hinter-
grund, dass die Mehrheit der Mitglieder des Innenausschusses des Bundestags
es abgelehnt hat, von der Bundesregierung eine entsprechende Berichterstat-
tung zu verlangen und so als zuständiges Gremium von seinen ureigenen parla-
mentarischen Informations- und Kontrollrechten Gebrauch zu machen.
Wir fragen die Bundesregierung:

1. Hat das Bundesministerium des Innern (BMI) an der Zusammenstellung von
Fragen für eine Befragung von Murat Kurnaz am 23./24. September 2002
durch Beamte des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) und des Bun-
desnachrichtendienstes (BND) in Guantánamo mitgewirkt, und in welcher
Weise?

Drucksache 16/4989 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

2. Regte das BMI in diesem Zusammenhang Fragen an, die zur Klärung die-
nen sollten, ob eine Wiedereinreise von Murat Kurnaz nach Deutschland
aus Sicherheitsgründen untersagt werden sollte, und wenn ja, sind diese
Fragen gestellt worden?

3. Kann die Bundesregierung bestätigen, dass das BMI in einem Vermerk
vom 30. Oktober 2002 (dokumentiert in der Frankfurter Rundschau vom
25. Januar 2007) davon ausging, dass eine Rückkehr in die Bundesrepublik
Deutschland von US-Seite offenbar angestrebt sei?

4. Trifft es zu, dass durch das BMI eine Wiedereinreisesperre angestrebt oder
beschlossen wurde, obwohl nach Auffassung des Befrager-Teams Murat
Kurnaz unschuldig war und „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich-
keit“ bei einer Freilassung „kein Gefährdungspotential“ besaß (vgl. Frank-
furter Rundschau vom 26. Januar 2007), und wenn ja, mit welcher
Begründung?

5. War dem BMI bei Verhängung der Wiedereinreisesperre die Einschätzung
des Generalbundesanwalts vom Februar 2002 bekannt, dass kein Anfangs-
verdacht gegen Murat Kurnaz wegen des Verdachts auf Bildung einer
terroristischen Vereinigung vorliege?

6. Erteilte das BMI dem Bremer Innenministerium eine Einzelweisung nach
§ 65 AuslG, die Aufenthaltserlaubnis von Murat Kurnaz als erloschen zu
betrachten und ihn im Ausländerzentralregister (AZR) bzw. im Schengener
Informationssystem (SIS) zur Durchsetzung der Wiedereinreisesperre aus-
zuschreiben?

7. Nahm das BMI im Fall Kurnaz in sonstiger Weise auf formellem oder
informellem Wege Kontakt zur Bremer Innenbehörde auf, und wenn ja,
welche Ziele verfolgte sie dabei, und welche Absprachen wurden getrof-
fen?

8. Wie sind in diesem Zusammenhang die Äußerungen des Sprechers der
Bremer Innenbehörde, Markus Beyer, zu bewerten, der sagte, dass das aus-
länderrechtliche Vorgehen mit dem Bund abgestimmt worden sei, aber
nicht die Stadt Bremen Murat Kurnaz die Wiedereinreise verweigert habe
(vgl. afp vom 24. Januar 2007)?

9. War der Erlöschensbescheid der Bremer Ausländerbehörde mit einer Ein-
tragung im Ausländerzentralregister bzw. im SIS verbunden?

10. In wie vielen Fällen sind in Deutschland Aufenthaltstitel widerrufen wor-
den oder erloschen (bitte nach Jahren, seit 1997, und nach Aufenthaltstitel
auflisten), und welche anderen Gründe für den Widerruf oder ein Erlö-
schen des Aufenthaltstitels gibt es neben der Bestimmung des § 44 Abs. 1
Nr. 3 AuslG (vgl. Antwort auf die Fragen 6 und 7 der Abgeordneten Petra
Pau; PlPr 16/78, S. 7781, Anlage 3)?

11. Wer ist generell auf welcher Rechtsgrundlage zur Verhängung einer Einrei-
sesperre befugt, welche Möglichkeiten bestehen für die Betroffenen, von
einer solchen Einreisesperre zu erfahren, und welche Beschwerde- oder
Rechtswege stehen ihnen offen?

12. Hat die Bundesregierung bzw. hat ihres Wissens irgendeine deutsche Be-
hörde bis Mai 2004 versucht, Murat Kurnaz in Guantánamo die Nachricht
zukommen zu lassen, dass er einen Antrag zur Fristverlängerung stellen
müsse, um seine Aufenthaltserlaubnis nicht zu verlieren?

13. Hätte Murat Kurnaz einen solchen Antrag in der Haft in Guantanámo
stellen können, und auf welchem Wege hätte dieser Antrag der Ausländer-

behörde in Bremen zugestellt werden können?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4989

14. a) War dem BMI die Rechtssprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu
den Folgen einer unverschuldeten Versäumung materieller Ausschluss-
fristen bekannt (keine Rechtsvernichtung bei Fristversäumnis aufgrund
„höherer Gewalt“; vgl. VG Bremen, a. a. O., S. 11), als es sich mit dem
weiteren Umgang mit seinem Aufenthaltsstatus befasst hat?

b) Hält das BMI diese Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im
Fall Kurnaz für anwendbar, wie es im Urteil des VG Bremen ausgeführt
wurde, wenn nein, warum nicht?

15. Trifft es zu, dass trotz fehlender gerichtsverwertbarer Hinweise auf eine
„Gefährlichkeit“ von Murat Kurnaz am Einreiseverbot festgehalten wurde
(vgl. Süddeutsche Zeitung vom 20. Januar 2007 und Frankfurter Rund-
schau vom 26. Januar 2007), und wie wurde dies ggf. begründet?

16. Was führte letztlich zu der Entscheidung, dass Murat Kurnaz kein „Sicher-
heitsrisiko“ sei und wieder nach Deutschland einreisen dürfe, wer traf
diese Entscheidung und wann, warum dauerte diese Prüfung so lange, und
welche Behörden waren daran beteiligt?

17. Welche Rolle spielte während des kompletten Vorgangs der Gesichtspunkt,
dass Murat Kurnaz de jure als türkischer Staatsbürger von türkischer Seite
konsularischen Beistand hätte bekommen müssen, und inwiefern hat sich
die Bundesregierung um ein abgestimmtes Vorgehen mit der türkischen
Seite bemüht?

18. Wurde seitens des Auswärtigen Amts zu irgendeinem Zeitpunkt versucht,
mit der türkischen Seite dahingehend Einvernehmen zu erzielen, dass
Murat Kurnaz in der Türkei hätte Aufnahme finden können?

19. Teilt die Bundesregierung die rechtliche Einschätzung, dass durch die Ent-
sendung einer Befrager-Delegation nach Guantánamo und infolge der an-
fänglichen Gespräche über eine mögliche Freilassung von Murat Kurnaz
der Bundesregierung eine „Garantenpflicht“ für Murat Kurnaz – unabhän-
gig von seiner türkischen Staatsangehörigkeit – erwachsen ist, und welche
Konsequenzen ergeben sich hieraus?

20. Wie bewertet die Bundesregierung den Vorschlag der Generalsekretärin
von amnesty international, Barbara Lochbihler (vgl. Frankfurter Rund-
schau vom 10. Februar 2007), der Präsidentenrunde im Kanzleramt eine/n
Menschenrechtsbeauftragte/n beizustellen, die/der auf eine strikte Wah-
rung der Menschenrechte bei Entscheidungen der Sicherheitsbehörden zu
achten hätte?

21. Sieht die Bundesregierung bei entsprechendem Antrag die Voraussetzun-
gen für eine Einbürgerung von Murat Kurnaz gegeben oder plant sie im
Fall der Antragstellung eine Intervention bei den zuständigen Landes-
behörden, und wenn ja, mit welchem Ziel?

22. Wäre nach Auffassung der Bundesregierung eine Einbürgerung von Murat
Kurnaz wegen des öffentlichen Interesses und zur Vermeidung einer be-
sonderen Härte auch unabhängig von der Frage, ob Murat Kurnaz sich und
seine Familie zu ernähren imstande ist (vgl. § 8 Abs. 2 StAG), möglich,
und wie wäre dies zu begründen?

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23. Wie können Antragsteller im Einbürgerungsverfahren nach Auffassung der
Bundesregierung im Zweifelsfall glaubhaft machen, dass sie die freiheit-
lich-demokratische Grundordnung und Sicherheit der Bundesrepublik
Deutschland nicht im Sinne des § 11 Satz 1 Nr. 2 und 3 StAG gefährden?

Welche Maßstäbe und Grundsätze gelten nach Auffassung der Bundes-
regierung diesbezüglich generell

a) im Einbürgerungsverfahren,

b) in aufenthaltsrechtlichen Verfahren,

c) in Visaverfahren?

24. Erfüllen nach Auffassung der Bundesregierung die Antiterrorbestimmun-
gen, im Aufenthalts- und im Einbürgerungsrecht zur Vermutung der „Ge-
fährlichkeit“ vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus dem Fall von
Murat Kurnaz das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot (bitte begründen)?

25. Sieht die Bundesregierung angesichts des Falles von Murat Kurnaz Veran-
lassung, das Staatsangehörigkeitsrecht dahingehend zu ändern, dass die
Geburt in Deutschland maßgeblich für die Frage der Staatsangehörigkeit
von Menschen sein sollte (bitte begründen)?

26. Plant die Bundesregierung in diesem Zusammenhang politische Initiativen
mit dem Ziel, ein Ausweisungsverbot für in Deutschland geborene Men-
schen gesetzlich zu verankern (bitte begründen)?

Berlin, den 2. April 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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