BT-Drucksache 16/4985

Anwendung der EU-mitgliedstaatlichen Systeme sozialer Sicherheit bei vorübergehender Auslandsbeschäftigung

Vom 4. April 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4985
16. Wahlperiode 04. 04. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Monika Knoche, Dr. Hakki Keskin,
Katja Kipping, Alexander Ulrich und der Fraktion Die LINKE.

Anwendung der EU-mitgliedstaatlichen Systeme sozialer Sicherheit bei
vorübergehender Auslandsbeschäftigung

Nach den Verordnungen (EWG) 1408/71 und (EWG) 574/72) unterliegen die
Wanderarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer innerhalb der EU dem Sozialver-
sicherungssystem des EU-Mitgliedstaates, in dessen Gebiet sie beschäftigt wer-
den. Wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aber bei einem Unternehmen
in einem EU-Mitgliedstaat beschäftigt und von diesem Unternehmen und für
dessen Rechnung für die Ausführung einer bestimmten Arbeit in das Gebiet
eines anderen EU-Mitgliedstaates entsandt werden, bleiben sie weiterhin dem
Sozialversicherungssystem des entsendenden Landes unterstellt und die Sozial-
versicherungspflicht im Gastland entfällt. Voraussetzung hierfür ist, dass die
Dauer der Entsendung zwölf Monate nicht überschreitet, wobei eine Verlänge-
rung um weitere zwölf Monate möglich ist, und es sich nicht um eine bloße
Ablösung anderer entsandter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer handelt,
für die die Entsendezeit abgelaufen ist. Die Befreiung von der Sozialversiche-
rungspflicht des Gastlandes setzt voraus, dass zwischen den entsandten Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern und dem entsendenden Unternehmen ein
Arbeitsverhältnis fortbesteht, insbesondere dass das Entgelt bezahlt und die
Sozialversicherungsbeiträge vom entsendenden Unternehmen weiter abgeführt
werden.

Zum Nachweis der Voraussetzungen für diese Befreiung von der Sozialver-
sicherungspflicht werden Entsendebescheinigungen (auch E-101-Bescheini-
gungen) von den zuständigen Behörden des entsendenden Landes ausgestellt,
deren inhaltliche Richtigkeit nach der ständigen Rechtsprechung des Europäi-
schen Gerichtshofs von den Behörden und den Gerichten des Gastlandes nicht
überprüft werden darf. Die grundsätzliche Problematik dieser Entsendebeschei-
nigungen liegt darin, dass durch sie eine zweijährige Befreiung von der Sozial-
versicherungspflicht im Gastland begründet wird, sie selbst aber nur eine
Momentaufnahme zum Zeitpunkt ihrer Beantragung darstellt. Hinzu kommt,
dass sich die E-101-Bescheinigungen mit jedem Scanner und Computer inner-
halb von wenigen Minuten fälschen lassen, ohne dass sich die Fälschung ohne
weiteres erkennen ließe.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich an die geltende EU-Rechtsgrundlage
und an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gebunden gesehen
und in seinem Urteil vom 26. Oktober 2006 (1 StR 44/06) entschieden, dass die
Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen für in Deutschland beschäf-
tigte EU-Ausländerinnen und -Ausländer nicht bestraft werden kann, wenn eine
E-101-Bescheinigung vorliegt. Eine Prüfung der Richtigkeit der Entsende-
bescheinigungen stehe den deutschen Behörden und Gerichten selbst dann

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nicht zu, wenn erhebliche Zweifel bestehen, dass diese Bescheinigungen durch
Manipulation oder Täuschung erlangt und verwendet werden oder die Voraus-
setzungen für die Erteilung der Bescheinigung entfallen sind. Selbst der BGH
sieht hier eine Verbesserung der europäischen Rechtsgrundlage angezeigt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele entsandte Wanderarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer arbeiteten
durchschnittlich in Deutschland

a) in der Zeit vom 1. Januar 1997 bis zum 31. Dezember 2006 (insgesamt
und in den einzelnen Jahren),

b) in der Zeit vom 1. Mai 2004 bis zum 31. Dezember 2006 (insgesamt und
in den einzelnen Jahren)?

2. Wie hoch sind die Zahl und der prozentuale Anteil derjenigen Wanderarbeit-
nehmerinnen und -arbeitnehmer, die in Deutschland (nach den offiziellen
Statistiken und nach den inoffiziellen Einschätzungen der zuständigen deut-
schen Sozialversicherungsträger und der Gewerkschaften), die von der
Praxis der sozialversicherungsfreien grenzüberschreitenden Beschäftigung
mittels missbräuchlich erlangten und verwendeten Entsendebescheinigun-
gen betroffen sind?

3. Aus welchen EU-Mitgliedstaaten (aufgeschlüsselt nach Zahlen) werden die
von der E-101-Praxis betroffenen Wanderarbeitnehmerinnen und Wander-
arbeitnehmer nach Deutschland entsandt:

a) für den Zeitraum 2000 bis 2004,

b) für den Zeitraum 2004 bis 2007?

4. In welchen Branchen sind die von der E-101-Praxis betroffenen Wander-
arbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer tätig, und welche Zahlen liegen hierzu
vor?

5. Wie beurteilt die Bundesregierung das Urteil des BGH vom 26. Oktober
2006 (1 StR 44/06), und welche rechtspolitischen Konsequenzen wird sie
aus ihm ziehen?

6. Wie schätzt die Bundesregierung insgesamt die gegenwärtige rechtspoliti-
sche Situation ein, bei der nach dem geltenden EU-Recht Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer aus anderen EU-Ländern mit der Vorlage von E-101-
Bescheinigungen in Deutschland sozialversicherungsfrei beschäftigt werden
können, ohne dass die zuständigen deutschen Behörden und Gerichte über-
prüfen dürfen, ob die Voraussetzungen für die Befreiung von der Sozialver-
sicherungspflicht gegeben sind, insbesondere wenn begründete Zweifel be-
stehen, dass diese Voraussetzungen nicht vorliegen?

7. Wie beurteilt die Bundesregierung die neunte VO (EG) Nr. 883/2004, die
nach dem Inkrafttreten einer neuen Durchführungsverordnung die geltende
VO (EWG) Nr. 1408/71 und VO (EWG) 574/72 ersetzen soll, hinsichtlich
der Verlängerung der Entsendungsdauer von einem auf zwei Jahre?

8. Lässt sich seit der EU-Erweiterung 2004 aus Sicht der Bundesregierung eine
Änderung beobachten ggf. in welcher Hinsicht bezüglich

a) der Zahl und des prozentualen Anteils der entsandten EU-Arbeitnehmerin-
nen und -arbeitnehmer in Deutschland, die von der Praxis der sozialversi-
cherungsfreien grenzüberschreitenden Beschäftigung mittels missbräuch-
lich erlangten und verwendeten Entsendebescheinigungen betroffen sind,

b) der Branchen, in denen die von der E-101-Praxis betroffenen Wander-

arbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer tätig sind?

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9. Ist die Bundesregierung der Meinung, dass angesichts des EU-Beitritts
Bulgariens und Rumäniens neue Tendenzen zu erwarten sind ggf. in wel-
cher Hinsicht bezüglich

a) der Zahl und des prozentualen Anteils der entsandten EU-Arbeitnehme-
rinnen und -arbeitnehmer in Deutschland, die von der Praxis der sozial-
versicherungsfreien grenzüberschreitenden Beschäftigung mittels miss-
bräuchlich erlangten und verwendeten Entsendebescheinigungen
betroffen sind,

b) der Branchen, in denen die von der E-101-Praxis betroffenen Wander-
arbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer tätig sind?

10. Trifft es nach Informationen der Bundesregierung zu, dass es in einigen
Branchen (z. B. der Fleischindustrie) zu einer Verdrängung von E-101-
Wanderarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern durch Wanderarbeitnehme-
rinnen und -arbeitnehmer aus den zum 1. Januar 2007 der EU beigetrete-
nen Staaten Bulgarien und Rumänien kommt und wo liegen gegebenen-
falls hierfür die Ursachen?

11. In welcher Höhe werden nach Einschätzung der Bundesregierung Sozial-
versicherungsbeiträge den zuständigen Trägern in Deutschland durch-
schnittlich entzogen

a) seit 1997 (insgesamt und in den einzelnen Jahren),

b) für die Zeit nach dem 1. Mai 2004 (insgesamt und in den einzelnen
Jahren)?

12. Wie beurteilt die Bundesregierung die missbräuchliche E-101-Beschäf-
tigungspraxis, bei der den zuständigen Trägern in Deutschland Sozialver-
sicherungsbeiträge in wesentlicher Höhe entzogen werden?

13. Ist der Bundesregierung bekannt

a) wie hoch die Sozialversicherungsbeiträge in den Herkunftsländern der
in Deutschland betroffenen Wanderarbeitnehmerinnen und -arbeitneh-
mer sind,

b) wie hoch die ersparten Sozialversicherungsbeiträge für die deutschen
Unternehmen durch die E-101-Beschäftigten (aufgegliedert nach Bran-
chen) sind,

c) ob sich hieraus Lohnunterschiede zwischen der einheimischen Bevölke-
rung und den E-101-Beschäftigten (aufgegliedert nach Branchen) erge-
ben?

14. Sind der Bundesregierung Fälle bekannt

a) bei denen die zuständigen deutschen Behörden die zuständigen Behör-
den des entsendenden Landes zu einer Überprüfung der Richtigkeit der
in Deutschland vorgelegten Entsendebescheinigung bzw. zu einem
Widerruf dieser Bescheinigung aufgefordert haben,

b) wenn ja, wie viele, und welche waren die entsendenden Länder im Ein-
zelnen,

c) in wie vielen Fällen davon ist eine Überprüfung bzw. ein Widerruf
durch die ausstellende Behörde tatsächlich erfolgt?

15. Sind der Bundesregierung Fälle bekannt, bei denen aufgrund einer man-
gelnden Übereinstimmung zwischen den zuständigen deutschen Behörden
und der ausstellenden Behörde hinsichtlich der Richtigkeit der in Deutsch-
land vorgelegten Entsendebescheinigung

Drucksache 16/4985 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

a) mit der Frage des anzuwendenden mitgliedstaatlichen Sozialrechts die
Verwaltungskommission der Europäischen Gemeinschaft über die
soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer befasst wurde,

b) wenn ja, wie viele, und mit welchem Ergebnis?

16. Sind der Bundesregierung Fälle bekannt, bei denen

a) mangels einer Lösung durch die Verwaltungskommission der Europäi-
schen Gemeinschaft über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitneh-
mer die Überprüfung der Richtigkeit einer E-101-Bescheinigung von
den deutschen zuständigen Behörden zum Gegenstand eines Vertrags-
verletzungsverfahrens vor dem EuGH (Artikel 227 EGV) gemacht
wurde,

b) wenn ja, wie viele, und mit welchem Ergebnis?

17. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung des BGH, dass eine Verbesse-
rung der gegenwärtigen europäischen Rechtsgrundlage angezeigt ist, mit,
und wenn ja, was soll aus Sicht der Bundesregierung verbessert werden?

18. Wie beurteilt die Bundesregierung die Möglichkeit für Verbesserungen der
Zusammenarbeit zwischen den deutschen Behörden und den Behörden, die
E-101-Bescheinigungen ausstellen, im Rahmen der Ausarbeitung der
neuen Durchführungsverordnung zur VO 883/2004?

19. Wie verhält sich die Bundesregierung generell zu einer Reform des gelten-
den koordinierenden EU-Sozialrechts im Zusammenhang mit der sozial-
versicherungsfreien grenzüberschreitenden Beschäftigung?

20. Wie beurteilt die Bundesregierung die Möglichkeit einer materiellrecht-
lichen Harmonisierung des EU-Sozialrechts im Hinblick auf die sozialver-
sicherungsfreie grenzüberschreitende Beschäftigung

a) als einen möglichen Ansatz für die Reform des gegenwärtigen koordi-
nierenden EU-Sozialrechts im Zusammenhang mit der sozialversiche-
rungsfreien grenzüberschreitenden Beschäftigung?

b) Welche Vorteile und welche Nachteile wären bei der Durchsetzung von
einheitlichen Standards auf EU-Ebene zu erwarten?

c) Würde die praktische Ausführung dieses theoretischen Ansatzes auf
Schwierigkeiten stoßen ggf. welche?

21. Wie beurteilt die Bundesregierung die Durchsetzung von Mindeststandards
im Hinblick auf die sozialversicherungsfreie grenzüberschreitende Be-
schäftigung

a) als einen möglichen Ansatz für Reform des gegenwärtigen koordinie-
renden EU-Sozialrechts im Zusammenhang mit der sozialversiche-
rungsfreien grenzüberschreitenden Beschäftigung?

b) Welche Vorteile und welche Nachteile wären bei der Durchsetzung von
Mindeststandards auf EU-Ebene zu erwarten?

c) Wäre hier eine „Harmonisierung von unten“ zu befürchten?

d) Würde die praktische Ausführung dieses theoretischen Ansatzes auf
Schwierigkeiten stoßen ggf. welche?

22. Wie beurteilt die Bundesregierung die Verankerung des Grundsatzes, die
Sozialversicherung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nach dem
Sozialversicherungsrecht jenes EU-Staates zu unterstellen, in dem die
Arbeit tatsächlich geleistet wird, wobei Regelungen auf EU-Ebene zur
Summierung der Beiträge der einzelnen Zeitarbeiten geschaffen werden

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/4985

a) als einen möglichen Ansatz für Reform des gegenwärtigen koordinie-
renden EU-Sozialrechts im Zusammenhang mit der sozialversiche-
rungsfreien grenzüberschreitenden Beschäftigung?

b) Welche Vorteile und welche Nachteile wären dabei zu erwarten?

c) Würde die praktische Ausführung dieses theoretischen Ansatzes auf
Schwierigkeiten stoßen ggf. welche?

23. Wie beurteilt die Bundesregierung eine EU-weite Durchsetzung von hohen
Standards im Sozialversicherungsbereich im Hinblick auf die sozialver-
sicherungsfreie grenzüberschreitende Beschäftigung

a) als einen möglichen Ansatz für Reform des gegenwärtigen koordinie-
renden EU-Sozialrechts im Zusammenhang mit der sozialversiche-
rungsfreien grenzüberschreitenden Beschäftigung?

b) Welche Vorteile und welche Nachteile wären bei einer EU-weiten
Durchsetzung von hohen Standards im Sozialversicherungsbereich zu
erwarten?

c) Würde die praktische Ausführung dieses theoretischen Ansatzes auf
Schwierigkeiten stoßen ggf. welche?

24. Wie beurteilt die Bundesregierung die Abschaffung des Mechanismus der
E-101-Bescheinigungen und die Einführung eines EU-weiten Sozialver-
sicherungsregisters, in dem alle Sozialversicherungspflichten innerhalb der
EU eingetragen werden und für die nationalstaatlichen Behörden die Mög-
lichkeit besteht, jederzeit eine Online-Überprüfung zu unternehmen, um
absichern zu können, dass die Beschäftigten im entsendenden Land tat-
sächlich sozialversichert sind

a) als einen möglichen Ansatz für Reform des gegenwärtigen koordinie-
renden EU-Sozialrechts im Zusammenhang mit der sozialversiche-
rungsfreien grenzüberschreitenden Beschäftigung?

b) Welche Vorteile und welche Nachteile wären dabei zu erwarten?

c) Würde die praktische Ausführung dieses theoretischen Ansatzes auf
Schwierigkeiten stoßen ggf. welche?

Berlin, den 28. März 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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