BT-Drucksache 16/4643

Schutz von Opfern geschlechtsspezifischer Verfolgung

Vom 8. März 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4643
16. Wahlperiode 08. 03. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Kirsten Tackmann, Jan Korte,
Kersten Naumann, Petra Pau, Sevim Dag˘delen und der Fraktion DIE LINKE.

Schutz von Opfern geschlechtsspezifischer Verfolgung

Im Bericht zur Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes, der den Abgeordneten
des Bundestages seit Juli 2006 vorliegt, wird in einem kurzen Abschnitt auch die
„Geschlechtsspezifische Verfolgung“ als Teil des Flüchtlingsschutzes benannt.
Das Bundesministerium des Innern verweist an dieser Stelle darauf, dass die
„Befürchtung“, die Asylbewerberzahlen würden durch die rechtliche Anerken-
nung der geschlechtsspezifischen Verfolgung im Rahmen der Prüfung der
Flüchtlingseigenschaft einen „sprunghaften Anstieg“ erleben, keine Bestätigung
gefunden habe. Diese Feststellung ist vor dem Hintergrund der jahrelangen er-
bitterten Debatten zu diesem Thema bemerkenswert.

Im Mittelpunkt des öffentlichen und auch des parlamentarischen Interesses steht
die Genitalverstümmelung als Flucht- bzw. Anerkennungsgrund. Doch ge-
schlechtsspezifische Verfolgung gerade auch von nichtstaatlicher Seite geht weit
darüber hinaus: Zwangsverheiratung, Zwangsprostitution, Zwangsabtreibung,
Zwangssterilisation, rituelle Tötungen (z. B. Witwenverbrennungen), sexuelle
und massive häusliche Gewalt im privaten Umfeld, die nicht wirksam staatlich
sanktioniert wird, Vergewaltigung in Zusammenhang mit Krieg und rassistisch
motivierter Vertreibung, strafbewehrte Vorschriften über Kleiderordnungen
oder über das Auftreten in der Öffentlichkeit (z. B. Zwangsverschleierung), Be-
drohung wegen frauenpolitischer Aktivitäten usw. Sowohl Frauen als auch Män-
ner sind Opfer von Verfolgung wegen ihrer sexuellen Orientierung in Ländern,
in denen fundamentalistisch-religiöse Kräfte politisch-gesellschaftliche Domi-
nanz ausüben.

Der Evaluationsbericht ist in der Bewertung der Umsetzung des Flüchtlings-
schutzes in diesem Bereich nicht völlig eindeutig. Anknüpfungspunkt für die
Feststellung einer Verfolgung ist die soziale Gruppe, in diesem Fall also Men-
schen, die bestimmte Identitätsmerkmale teilen. Gleichzeitig spricht der Bericht
davon, dass „die Entwicklung einer abschließenden und umfassenden Systema-
tik in der Praxis noch nicht abgeschlossen“ sei.

Eine grundsätzliche Schwierigkeit bei der Bewertung der Umsetzung des Schut-
zes vor geschlechtsspezifischer Verfolgung ist, dass betroffene Frauen aus
Scham bei der Asylantragstellung drohende oder erlittene Verstümmelung nicht

als Fluchtgrund angeben. Auch Frauen, die in Bürgerkriegen oder infolge rassis-
tisch motivierter Vertreibungen Vergewaltigungen erleiden mussten, geben dies
nicht immer als Fluchtgrund an, auch wenn dadurch zum Teil schwerwiegende
Traumatisierungen ausgelöst wurden. Dies erschwert eine abschließende Be-
wertung, inwieweit die Neuregelungen in § 60 Abs. 1 Satz 3 des Aufenthalts-
gesetzes (AufenthG) im gewünschten Maße wirksam sind.

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Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Frauen haben 2005 bzw. 2006 bei der Asylantragstellung oder zu
einem späteren Zeitpunkt des Verfahrens geschlechtsspezifische Verfol-
gungsgründe vorgetragen. (Bitte auch in Relation zur Gesamtzahl der An-
tragstellerinnen und Antragsteller bzw. der Antragstellerinnen angeben; falls
keine genauen Zahlen vorliegen: Wie hoch war der Anteil schätzungsweise?
Wie viele Antragstellerinnen waren minderjährig?)

2. a) Wie viele von den Frauen, die geschlechtsspezifische Verfolgungsgründe
geltend machten, wurden anerkannt?

b) Gibt es einen Unterschied in der Anerkennungsrate zwischen denen, die
gleich bei der Antragstellung geschlechtsspezifische Formen der Ver-
folgung geltend machten, und denen, die dies zu einem späteren Zeitpunkt
taten?

3. In wie vielen Fällen wurde die Befragung durch besonders geschulte Mit-
arbeiterinnen/Mitarbeiter des BAMF durchgeführt, in wie vielen Fällen er-
folgte eine Sprachmittlung bei der Anhörung bzw. die Anhörung selbst auf
ausdrücklichen Wunsch der Antragstellerinnen durch eine Frau, und in wie
vielen Fällen wurde eine solche Anhörung bzw. Sprachmittlung trotz aus-
drücklichen Wunsches der Antragstellerinnen nicht gewährleistet?

4. a) In welcher Form (schriftlich, mündlich, wann, in welchen Sprachen) wer-
den Asylantragstellerinnen darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit
einer Anhörung bzw. Sprachmittlung durch Frauen besteht?

b) In welcher Form (schriftlich, mündlich, wann, in welchen Sprachen)
werden Asylantragstellerinnen darauf hingewiesen, dass geschlechtsspe-
zifische Verfolgung, insbesondere auch durch privat erlittene häusliche
Gewalt und Diskriminierungen, die im Einklang mit der herrschenden
patriarchalischen Gesellschaftsordnung des Herkunftslandes stehen, im
Asylverfahren relevant sind und zur Anerkennung führen können, und
wenn es keine solchen Hinweise gibt, warum nicht?

c) Wird das Vorbringen einer geschlechtsspezifischen Verfolgung nach der
Erstanhörung im Regelfall als „gesteigertes Vorbringen“ bewertet, oder
gibt es interne Anweisungen dazu, dass ein solches späteres Vorbringen
auch daraus resultieren kann, dass den Betroffenen die Relevanz ge-
schlechtsspezifischer Verfolgungsgründe, insbesondere wenn sie von
nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, nicht bewusst war bzw. dass sie aus
Scham schwiegen?

d) Inwieweit schließt sich die Bundesregierung vor diesem Hintergrund den
Forderungen von Flüchtlingsorganisationen an, wonach Asylsuchenden
vor der Erstanhörung eine unabhängige Beratung über das Asylverfahren
und ihre Rechte garantiert oder zumindest ermöglicht werden sollte, und
wie interpretiert sie in diesem Zusammenhang Artikel 10 der Richtlinie
2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005?

5. a) Wie viele Frauen haben 2005 bzw. 2006 bei Asylfolgeanträgen eine dro-
hende oder erlittene geschlechtsspezifische Verfolgung als Asylgrund an-
gegeben, und in wie vielen Fällen führte dies zur Anerkennung (bitte wie
in Frage 1 differenzieren bzw. zumindest Schätzungen angeben)?

b) Wie viele Asylfolgeanträge wurden unter anderem oder ausschließlich mit
der zum 1. Januar 2005 geänderten Rechtslage begründet, und in wie vie-
len Fällen waren diese Anträge erfolgreich?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4643

6. a) In wie vielen Fällen wurde 2005 bzw. 2006 ein Abschiebungsschutz nach
§ 60 Abs. 7 AufenthG durch das BAMF aufgrund geschlechtsspezi-
fischer Gefahren ausgesprochen (bitte soweit möglich nach den Gefah-
rengründen und in Relation zur Zahl der Asylantragstellerinnen – siehe
Frage 1 – differenzieren)?

b) Was waren die Gründe dafür, dass in diesen Fällen keine Anerkennung
nach § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ausgesprochen wurde?

7. Gibt es Auskünfte dazu, in wie vielen Fällen im Jahr 2005 bzw. 2006 Ab-
schiebeschutz nach § 60 Abs. 1 Satz 3 aufgrund geschlechtsspezifischer
Verfolgung durch die Verwaltungsgerichte gewährt wurde, und wenn ja,
welche?

8. Wie wird im Einzelnen bei den vorliegenden Fällen im Bereich der nicht-
staatlichen Verfolgung entschieden, wenn

a) befürchtete, an das Geschlecht anknüpfende Verfolgung von einer Grup-
pe ausgeübt wird, die kein Gewaltmonopol im Herkunftsland ausübt?

b) bekannt ist, dass beispielsweise Genitalverstümmelungen zur „herrschen-
den Kultur“ im Herkunftsland gehören (also durch die Verstümmelung
keine Ausgrenzung aus der übergreifenden Friedensordnung stattfindet)?

9. Welches sind die bestehenden Unsicherheiten im Bereich der Feststellung
geschlechtsspezifischer Verfolgung, die nach Angabe des Evaluationsbe-
richts auch in anderen Staaten bestehen, die die Genfer Flüchtlingskonven-
tion anwenden (bitte differenzierte Auflistung gegebenenfalls mit Nennung
des konkreten anderen Signatarstaates mit ähnlichen Problemen)?

10. Nutzt die Bundesregierung bzw. das BAMF die Richtlinie des UNHCR zum
internationalen Schutz in Bezug auf geschlechtsspezifische Verfolgung zur
Klärung etwaiger „Unsicherheiten“ im Bereich der Feststellung ge-
schlechtsspezifischer Verfolgung, wenn nein, warum nicht, wenn ja, welche
Unsicherheiten lassen sich anhand dieser Richtlinie nicht klären?

11. Sind seitens der Bundesregierung im Rahmen der „Harmonisierung“ der
Asylpolitik der EU-Staaten während der deutschen Ratspräsidentschaft
(oder später) Initiativen geplant, um die genannten Unsicherheiten gemein-
sam ausräumen zu können, und wenn ja, welche?

12. a) Wie ist die Formulierung im Evaluierungsbericht „Auswirkungen rein
privater (familiärer) Konflikte, vor denen das Flüchtlingsrecht keinen
Schutz bietet“ (S. 48) mit § 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG vereinbar, wo-
nach eine asylrelevante Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren
ausgehen kann, wenn staatliche, quasi-staatliche oder internationale Ak-
teure keinen wirksamen Schutz vor Verfolgung bieten (können)?

b) Zeugt diese Formulierung im Evaluationsbericht nicht davon, dass die
Autorinnen/Autoren des Berichts das Konzept der Anerkennung nicht-
staatlicher Verfolgungsgründe offenbar nicht verstanden haben?

13. a) Wie ist nach Auffassung der Bundesregierung der Satz im Evaluations-
bericht „Die im Verlaufe des Gesetzgebungsverfahrens verschiedentlich
geäußerte Befürchtung, diese Verbesserung des Flüchtlingsschutzes
werde – ebenso wie die Ausdehnung des Flüchtlingsschutzes auf Opfer
nichtstaatlicher Verfolgung – zu einem sprunghaften Anstieg der Asylbe-
werberzahlen führen, hat sich nicht bewahrheitet“ (S. 48) zu bewerten?

b) Erfolgte die u. a. vom UNHCR seit langem geforderte Anerkennung ge-
schlechtsspezifischer Verfolgungsgründe über Jahre hinweg vor allem
deshalb nicht, weil mit steigenden Asylbewerber/-innenzahlen gerechnet

wurde?

Drucksache 16/4643 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
c) War bzw. ist nach Ansicht der Bundesregierung das Ziel des Gesetzge-
bers die Verbesserung des Flüchtlingsschutzes oder die Reduzierung der
Asylbewerber/-innenzahlen?

d) Welcher logische Zusammenhang besteht zwischen beiden möglichen
Zielen (bitte begründen)?

14. Ist es zutreffend, dass das BAMF im April 2005 eine „Information“ zur
nichtstaatlichen und geschlechtsspezifischen Verfolgung für die Asylsach-
bearbeiter/-innen herausgab, in der es heißt, dass die Anerkennung einer
Verfolgung aus Gründen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen
Gruppe aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit voraussetze, dass nahezu
alle Frauen oder Männer des entsprechenden Landes unterschiedslos, d. h.
allein aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit mit beachtlicher Wahrschein-
lichkeit von der Verfolgungsmaßnahme bedroht oder betroffen sind?

a) Wenn ja, was beinhaltete diese Information weiterhin, und wann wurde
sie aus welchen Gründen wieder aufgehoben, und wurden Ablehnungen,
die auf der Grundlage der Information erfolgten, von Amts wegen über-
prüft und gegebenenfalls zurückgenommen?

b) Wenn nein, welche internen Vorgaben sind im BAMF zu welchem Zeit-
punkt zur geschlechtsspezifischen Verfolgung gemacht worden, und wie
lauten die derzeit aktuellen Vorgaben?

c) Ist der Bundesregierung Absatz 31 der Richtlinie des UNHCR zur ge-
schlechtsspezifischen Verfolgung bekannt, wonach unter anderem nicht
zur Bedingung gemacht werden sollte, dass jedem Mitglied einer sozia-
len Gruppe Verfolgung droht, und wird sie sich für eine wirksame Um-
setzung der UNHCR-Richtlinie in diesem und in anderen Punkten in der
Verwaltungspraxis einsetzen, wenn nein, warum nicht?

15. Sind der Bundesregierung Grundsatzurteile der Rechtsprechung zur Frage
der geschlechtsspezifischen Verfolgung bekannt?

Wenn ja, welche sind dies, und was beinhalten sie?

16. Sind der Bundesregierung Urteile aus erster Instanz bekannt, mit denen der
Begriff der geschlechtsspezifischen Verfolgung nicht im Sinne des Gesetz-
gebers ausgelegt wird?

Wenn ja, welche sind dies, und was beinhalten sie?

Berlin, den 6. März 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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