BT-Drucksache 16/4627

Angemessenes Gedenken an die Beteiligung der Reichsbahn am Holocaust sicherstellen

Vom 8. März 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4627
16. Wahlperiode 08. 03. 2007

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dag ˘delen, Jan Korte, Dorothee
Menzner, Kornelia Möller, Kersten Naumann und der Fraktion DIE LINKE.

Angemessenes Gedenken an die Beteiligung der Reichsbahn am Holocaust
sicherstellen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. ein angemessenes und würdiges Gedenken an die Opfer der Beteiligung der
Reichsbahn an den Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungs-
lager zu ermöglichen, in deren bestimmenden Mittelpunkt das Gedenken an
die zehntausenden jüdischen Kinder und die Kinder aller anderen Opfergrup-
pen steht, wie dies die französischen und deutschen Initiatoren des Geden-
kens seit zwei Jahren fordern. Die Bundesregierung setzt dabei alle zur Ver-
fügung stehenden Mittel ein, um die volle Kooperation der Bahn AG zu ge-
währleisten.

2. Das hierfür zu entwickelnde und mit den zuständigen Gremien des Bundes-
tages abzustimmende Konzept soll folgende Eckpunkte enthalten:

a) Die Ausstellung ist eine Wanderausstellung. Sie wird auf allen zentralen
Umsteigebahnhöfen sowie auf allen anderen geeigneten Bahnhöfen der
Bahn AG gezeigt.

b) Die Ausstellung wird in zentralen Bereichen der Bahnhöfe gezeigt, die für
alle Fahrgäste und Besucher leicht zu erreichen sind.

c) An der inhaltlichen Konzeption wirken als Kommissionsmitglieder so-
wohl Vertreter der bestehenden Initiativen in Deutschland als auch Beate
und Serge Klarsfeld mit, die die bereits in französischen Bahnhöfen mit
großem Erfolg gezeigte Ausstellung „11 000 Kinder“ initiiert haben. Die
institutionelle Leitung der Kommission liegt beim Bundesministerium für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.

d) Zur Ausstellung erscheint ein Begleitheft, das die zentralen Ausstellungs-
stücke mit Erläuterungen dokumentiert, sich der Rolle der Reichsbahn bei
den Deportationen widmet und zeigt, in welchem Maße die Reichsbahn
von diesen Deportationen, der Beteiligung am Vernichtungskrieg der
Wehrmacht in Ost- und Südosteuropa und der Ausbeutung von Zwangs-

arbeiterinnen und Zwangsarbeitern profitiert hat.

e) Die Eröffnung der Ausstellung soll am 1. September 2007 sein.

Berlin, den 7. März 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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Begründung

Unter den Hunderttausenden jüdischer Menschen, die während der deutschen
Besatzung im Zweiten Weltkrieg aus Frankreich deportiert worden waren, be-
fanden sich auch rund 11 000 Kinder. Ihre Deportation in die Vernichtungslager
wäre ohne die aktive Beihilfe der Reichsbahn nicht möglich gewesen.

In Frankreich wird des Schicksals dieser Kinder mit einer Ausstellung gedacht,
die bereits an zahlreichen größeren Bahnhöfen zu sehen war. lnitiator ist die Or-
ganisation „Fils et Filles des Deportes Juifs de France“ (Paris). Die Ausstellung
auch auf deutschen Bahnhöfen zu zeigen, wird bislang von der Bahn AG abge-
lehnt. Diese verweist auf das Nürnberger Bahnmuseum.

Vor über zwei Jahren, zum Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers
Auschwitz durch Soldatinnen und Soldaten der Roten Armee, wandten sich Per-
sonen aus Wissenschaft, Kunst und Publizistik in einem Offenen Brief an die
Deutsche Bahn AG und den Vorstandsvorsitzenden Hartmut Mehdorn: „Eine
Marginalisierung der Erinnerung durch Verweis des Ausstellungsgedenkens in
das Bahnmuseum Nürnberg lehnen wir ab. Eine solche Präsentation wäre un-
angemessen, weil nur einer beschränkten Öffentlichkeit zugänglich. Wir möch-
ten Sie bitten, eine in sämtlichen Teilen der Bundesrepublik Deutschland wahr-
nehmbare Darstellung des Schicksals der 11 000 Kinder und der übrigen Depor-
tierten im Fahrgastbereich Ihres Unternehmens noch im Laufe dieses Jahres zu
ermöglichen. Für diesen Fall bieten wir unsere Unterstützung an.“

Auch von anderer Seite wird die Ausstellung im Nürnberger Bahnmuseum als
ungeeignet bezeichnet. In einem Beitrag im Deutschlandfunk wurde geäußert,
der Teil, der sich der historischen Verantwortung der Reichsbahn widme, wirke
„wie ein lästiger Wurmfortsatz“; es fehle der Bahn „am Mut, der nötig wäre,
diese Rolle der Bahn mit demselben Engagement und der gleichen Akribie auf-
zuarbeiten, mit der man zuvor von Spurbreiten, Dampfromantik und dann von
technischer Innovation erzählt hat und erzählt“ (Deutschlandfunk Kultur, Bei-
trag von Bernd Noack, 4. Dezember 2006).

Obwohl sich in den letzten zwei Jahren zahlreiche Initiativen in Deutschland der
Forderung nach der Präsentation der französischen Ausstellung auf deutschen
Bahnhöfen angeschlossen und mit Aktionen und Erklärungen für dieses Vor-
haben geworben haben, zeigt die Bahn AG nur wenig Kompromissbereitschaft.

Zu der französischen Ausstellung gehören ausführliche Tabellen und Hunderte
von Kinderfotos. Serge Klarsfeld konnte 85 Deportationslisten rekonstruieren,
auf denen Namen und Geburtsorte festgehalten sind. Die Kinder sollen so der
Anonymität entrissen werden. Teile der Ausstellung befinden sich inzwischen
im Museum der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem (Israel) und dem Holo-
caust-Museum in Washington, D. C. Dennoch hält Bahnchef Hartmut Mehdorn
laut „DER TAGESSPIEGEL“ (s. o.) daran fest, dass die „von Frau Klarsfeld
konzipierte Ausstellung aus fachlicher Sicht als nicht sehr überzeugend angese-
hen“ werde, ohne zu benennen, auf welches Fachwissen er sich dabei beruft.

Als am 27. Januar 2007, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus,
auf mehreren Bahnhöfen im Bundesgebiet Demonstrationen für die Ausstellung
stattfanden, reagierte die Bahn abwehrend.

In Halle forderten die lokalen Verantwortlichen der Bahn AG die Polizei auf, ge-
gen das dortige Gedenken vorzugehen. Auf den Bahnhöfen Würzburg und
Schweinfurt wurde den Veranstaltern untersagt, sich in Redebeiträgen an die
Reisenden zu wenden. In Göttingen rissen Bahnbedienstete Fotos und Doku-
mente der 11 000 deportierten jüdischen Kinder von einer provisorischen Aus-
stellungswand im dortigen Hauptbahnhof. In Frankfurt am Main verhinderte das
Bahn-Management, dass Informationsmaterial an Reisende verteilt werden

konnte. Mit Gewalt versuchten Bahnbedienstete Demonstrierenden im Berliner

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4627

Hauptbahnhof ein Transparent mit der Aufschrift „Was die DB nicht zeigen will:
11 000 jüdische Kinder – verfolgt, deportiert, ermordet“ zu entreißen (alle An-
gaben: german-foreign-policy.com vom 29. Januar 2007, „Konsens aufgekün-
digt“). Es ist offenbar davon auszugehen, dass eine Weisung des Bahnvorstandes
zur Unterbindung des öffentlichen Gedenkens ergangen war.

Die Bundesrepublik Deutschland hat die Ratspräsidentschaft in der Europäi-
schen Union angetreten und steht auch nach Ende der Ratszeit in einer beson-
deren, europaweiten Verpflichtung. Diese Verpflichtung ergibt sich aus den
während des Zweiten Weltkriegs durch deutsche Unternehmen und Vertreter des
Staates begangenen Verbrechen, die zum Erbe der Bundesrepublik Deutschland
gehören.

Angesichts der besorgten Berichterstattung in den ausländischen Medien und in
Rücksicht auf den angestrebten Börsengang der Bahn wurde der Widerstand
durch die Bahn AG am 1. Dezember 2006 zwischenzeitlich zwar aufgegeben,
danach aber mit unverminderter Härte wieder aufgenommen. Der Widerstand
der Bahn gilt dabei vor allem der Beteiligung von Beate und Serge Klarsfeld an
der Ausstellungskonzeption. Wie sowohl der Bundesminister für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung in einer schriftlichen Stellungnahme gegenüber den Mit-
gliedern des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestages sowie der Parla-
mentarische Staatssekretär Achim Großmann in einer schriftlichen Antwort auf
die Anfrage des Abgeordneten Volker Beck (Köln) bestätigt haben, sind die
deutschen Initiatoren der Gedenkausstellung von der praktischen Konzeption
ebenfalls ausgeschlossen.

Ein erfolgreiches Gedenkprojekt kann nur unter Einbeziehung aller relevanten
gesellschaftlichen Kräfte, insbesondere nur durch direkte konzeptionelle Mit-
wirkung der französischen und deutschen Initiatoren, angemessen und zeitnah
gestaltet werden. Gesellschaftliches Engagement ist eine unverzichtbare Basis
für jegliches demokratisches Gedenken an die Opfer des Faschismus. Grenz-
überschreitendes Zusammenwirken von Bürgerinnen und Bürgern ist in diesem
Zusammenhang besonders zu fördern und nicht zu behindern. Das vom Bundes-
minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung angekündigte Ausstellungs-
vorhaben, das am 27. Januar 2008 eröffnet werden soll, ist ohne die genannte
direkte konzeptionelle Mitwirkung insgesamt in Frage gestellt. Durch den bis-
herigen faktischen Ausschluss der Initiatoren, die der Bahn AG lediglich Mate-
rial und Hilfskräfte zur Verfügung stellen sollen, aber auf das Ausstellungskon-
zept keinen bestimmenden Einfluss haben, muss der Verdacht entstehen, dass es
der Bahn AG um die Durchsetzung eines eigenen, fragwürdigen Geschichtsbil-
des geht.

Angesichts dieser Entwicklung hat der Bund als Mehrheitseigentümer der Bahn
AG die Verantwortung für das Gedenkprojekt zu übernehmen und es nicht län-
ger der Bahn zu überlassen, wie sie Geschichtspolitik ausgestalten möchte. Der
Bundesminister des Innern steht hier in der Verantwortung, gemeinsam mit den
bisherigen Initiatorinnen und Initiatoren des Gedenkens an die Bahn-Deporta-
tionen zu einer schnellen Lösung zu kommen. Andernfalls riskiert die Bundes-
regierung im Jahr ihrer EU-Ratspräsidentschaft die Fortdauer eines Konflikts,
der im Begriff ist, auch in den Nachbarstaaten für erhebliches Unverständnis zu
sorgen.

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