BT-Drucksache 16/4469

Konsequenzen der Raketenabwehrsysteme der NATO und der USA für die nukleare Abrüstung und die europäische Sicherheit

Vom 26. Februar 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4469
16. Wahlperiode 26. 02. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Monika Knoche, Wolfgang Gehrcke, Heike
Hänsel, Inge Höger, Katrin Kunert, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Konsequenzen der Raketenabwehrsysteme der NATO und der USA für die
nukleare Abrüstung und die europäische Sicherheit

Nach derzeitigem Informationsstand planen die USA auch in Europa Elemente
für das strategische Raketenabwehrsystem (Ballistic Missile Defense – BMD)
aufzustellen. Mit den Regierungen in Polen und der Tschechischen Republik
wurden bereits Gespräche über die Stationierung entsprechender Radarsysteme
und Abschussrampen geführt.

Das Ballistic Missile Defense System soll den USA in erster Linie einen
Schutz gegen (atomar bestückte) Raketen interkontinentaler Reichweite von
über 5 500 km (ICBM) bieten, über die derzeit nur China, Frankreich, Groß-
britannien, Russland und die USA verfügen. Das BMD-System soll aus ver-
schiedenen Einzelsystemen bestehen, die durch boden-, luft- und weltraumge-
stützte Elemente die anfliegenden Raketen während verschiedener Phasen ihres
Fluges abschießen sollen. Ein funktionierendes BMD-System ausreichenden
Umfangs würde mit dem Prinzip der garantierten nuklearen Zweitschlagfähig-
keit brechen, einem Grundpfeiler der derzeit gültigen Rüstungskontrollverträge.
Andere Atomwaffenstaaten könnten sich dazu veranlasst sehen, einen Teil ihres
Atomwaffenarsenals in die ständige Einsatzbereitschaft zu überführen. Andere
Staaten könnten für sich das Recht in Anspruch nehmen, ein ähnliches System
aufzubauen und eine ähnliche Stationierungspolitik – d. h. auch außerhalb ihres
Staatsgebietes – zu verfolgen, oder ein noch größeres Arsenal an nuklearen
Interkontinentalraketen zur Überwindung des Abwehrschirms aufzustellen.

Die Drohungen russischer Militärs, im Fall einer Stationierung von BMD-Teil-
systemen in Europa den amerikanisch-russischen Vertrag über atomare Mittel-
streckenraketen aufzukündigen, sind ein Indiz dafür, wie brisant die US-Pläne
sind und welch weitreichende Konsequenzen diese für die Sicherheit in Europa
und das Ziel der weltweiten nuklearen Abrüstung haben könnten.

1997 sicherte die NATO Russland zu, im Zuge der Osterweiterung der NATO
keine Truppen und Waffen strategischer Bedeutung, wie z. B. Atomwaffen, in
der Nähe der Grenze zu Russland dauerhaft aufzustellen. Vor dem Hintergrund,
dass auch die NATO-Staaten ein Theater Ballistic Missile Defence System

(TBMD) planen, gewinnt der Vorstoß des tschechischen NATO-Botschafters,
dass sämtliche europäischen NATO-Staaten an den „Vorteilen“ des BMD-Sys-
tems teilhaben sollen und dieses System in die Leitung und Kommandostruktu-
ren der NATO integriert werden soll (AFP vom 18. Februar 2007, 19.10 Uhr),
zusätzlich an Brisanz.

Drucksache 16/4469 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Konsequenzen hat nach Auffassung der Bundesregierung die Betei-
ligung eines EU-Mitgliedstaates an dem Ballistic Missile Defense Systems
der USA für die Umsetzung der Abrüstungsverpflichtungen der Atomwaf-
fenstaaten des Nichtverbreitungsvertrages sowie für die Weiterentwicklung
einer glaubwürdigen europäischen Abrüstungspolitik und Stärkung der be-
stehenden Rüstungskontrollverträge?

2. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass der geplante Raketenab-
wehrschirm der USA und damit auch die Stationierung von Teilsystemen
unweit der russischen Landesgrenzen gegen das Prinzip der garantierten
nuklearen Zweitschlagfähigkeit verstoßen?

3. Wurde die Bundesregierung in der Vergangenheit sowohl von den USA als
auch der polnischen und tschechischen Regierung über den Stand der Ver-
handlungen über die Stationierung von BMD-Teilsystemen konsultiert oder
informiert?

Wenn ja, seit wann, und welche Informationen wurden dabei im Detail wei-
tergegeben?

4. Wurde die NATO von den USA hinsichtlich ihrer Pläne bezüglich der Sta-
tionierung eines BMD-Teilsystems konsultiert?

Wenn ja, welche Position vertrat die NATO?

5. In welcher Form wurde die NATO von den USA über den Stand der Umset-
zung ihrer Pläne bezüglich der Stationierung eines BMD-Teilsystems infor-
miert, und welche deutschen Vertreter bei der NATO hatten Kenntnis von
diesen Plänen?

6. Unter welchen Umständen würde die Bundesregierung eine Stationierung
von Radaranlagen und Abschussrampen des BMD-Systems innerhalb der
Europäischen Union begrüßen?

7. Hat die Bundesregierung Gespräche mit der polnischen und tschechischen
Regierung über die geplante Stationierung von BMD-Teilsystemen in ihren
Ländern geführt?

8. Wenn ja, wann, und welchen Standpunkt hat die Bundesregierung dort ver-
treten?

9. Teilt die Bundesregierung die Auffassung des russischen Präsidenten
Wladimir Putin, dass das BMD-System der USA überflüssig ist?

Wenn nicht, mit welcher Begründung?

10. Welche Konsequenzen wird die Stationierung von BMD-Teilsystemen in
Mitgliedstaaten der NATO und der EU aus Sicht der Bundesregierung für
das Verhältnis der NATO und der EU zu Russland haben?

11. Welche vertrauensbildenden Maßnahmen zwischen den USA und Russland
sowie zwischen NATO und EU und Russland sind nach Auffassung der
Bundesregierung nun notwendig?

12. Welche Initiativen plant die Bundesregierung zu unternehmen, um den von
Außenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier gewünschten „intensiven Dia-
log mit allen direkt oder indirekt betroffenen Partnern“ (DPA vom 18. Feb-
ruar 2007, 15.45 Uhr) zu initiieren bzw. zu verbessern?

13. Welche Staaten verfügen nach Kenntnis der Bundesregierung derzeit über
Raketen mit einer Reichweite von 5 500 km?

14. Welche Staaten verfügen derzeit nach Einschätzung der Bundesregierung
über die technologischen und militärischen Fähigkeiten bis jeweils 2010,

2020 und 2030 Raketen mit einer interkontinentalen Reichweite von über
5 500 km herzustellen?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4469

15. Beruhen diese Einschätzungen der Bundesregierung vor allem auf eigen-
ständig gesammelten Informationen oder auf Informationen, die von ande-
ren NATO-Staaten, wie z. B. den USA, zur Verfügung gestellt wurden?

16. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass internationale Vereinbarun-
gen über die Abrüstung von Atomwaffen und Raketen eine sinnvolle Alter-
native zum Aufbau eines Raketenabwehrschirms darstellen?

Wenn nicht, mit welcher Begründung?

17. Welche Initiativen plant die Bundesregierung anzustoßen, um die Herstel-
lung, Weiterentwicklung, Verbesserung und Modernisierung von Raketen
größerer Reichweite zu verhindern?

18. Welche Konsequenzen hat das BMD-Programm der USA nach Auffassung
der Bundesregierung für die militärische Nutzung des Weltraums?

19. Welche Teilsysteme sollen nach derzeitigem Stand der NATO-Planungen
im Rahmen des TBMD-Programms von der NATO bzw. den NATO-Staaten
entwickelt und später beschafft werden (bitte unter Angabe der vorliegen-
den Kostenschätzungen und des Zeitplans)?

20. Welche Aufträge, z. B. für Vor- oder Machbarkeitsstudien oder Entwick-
lungsarbeiten, wurden bereits von der NATO an Unternehmen und For-
schungsinstitute vergeben, die für ein TBMD-System genutzt werden könn-
ten (bitte unter Angabe des Auftragsjahres und der Kosten)?

21. Welcher Anteil der Kosten für diese Vorhaben wurde von Deutschland ge-
tragen (bitte nach Jahren und Haushaltstiteln aufgeschlüsselt)?

22. Welche derzeit laufenden nationalen Rüstungsvorhaben eignen sich für eine
spätere Integration in ein TBMD-System?

23. Welche Reichweite soll das NATO-TBMD-System haben und gegen welche
Raketen- und andere Flugkörper soll es eingesetzt werden?

24. Welche Planungen gibt es hinsichtlich der geeigneten Stationierungsorte für
die Teilsysteme?

25. Wie beurteilt die Bundesregierung die Konsequenzen des Aufbaus eines
NATO-TBMD-Systems für das Verhältnis zu Russland?

26. Haben die Bundesregierung bzw. die NATO hierüber bereits Gespräche mit
der russischen Regierung geführt, und wenn ja, mit welchem Ergebnis?

27. Strebt die Bundesregierung, strebt die NATO eine Interoperabilität zwischen
dem TBMD-System und dem BMD-System der USA an?

28. Gibt es bereits Gespräche oder Vereinbarungen über die Einbeziehung von
BMD-Technologien in das TBMD-Programm?

Wenn ja, welche, und welchen genauen Inhalts?

29. Sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit, im Vorfeld des TBMD-Pro-
gramms Verhandlungen oder Konsultationen mit der russischen Regierung
zu führen und vertrauensbildende Maßnahmen zu initiieren, um weiterhin
die gegenseitige Verwundbarkeit zwischen den Atommächten Großbritan-
nien, Frankreich und den USA auf Seiten der NATO und Russland auf der
anderen Seite zu gewährleisten?

Berlin, den 26. Februar 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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