BT-Drucksache 16/3926

Würdigung des faschistischen Politikers Konstantin Freiherr von Neurath und der Umgang mit der Nazivergangenheit in der deutschen Botschaft in London

Vom 14. Dezember 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3926
16. Wahlperiode 14. 12. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Gehrcke, Jan Korte und der Fraktion
DIE LINKE.

Würdigung des faschistischen Politikers Konstantin Freiherr von Neurath und
der Umgang mit der Nazivergangenheit in der deutschen Botschaft in London

Manche Politiker und Generale des nationalsozialistischen Dritten Reiches
werden von der Bundesregierung ungeachtet der Beteiligung an Kriegsverbre-
chen geehrt. Für den Bereich der Bundeswehr hat die Bundesregierung dies un-
ter anderem in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE.
vom 8. August 2006 bestätigt (Bundestagsdrucksache 16/2358). Möglicherweise
gilt Ähnliches auch für den Zuständigkeitsbereich anderer Ministerien. So
hängt in der deutschen Botschaft in London neben den Porträts anderer ehema-
liger Botschafter auch ein Porträt des Konstantin Freiherr von Neurath. Dieser
bekleidete den Posten des Botschafters in den Jahren von 1930 bis 1932, da-
nach war er Außenminister unter Hitler. Von 1938 bis 1941 war er „Protektor“
in der besetzten Tschechoslowakei. Wegen seiner Beteiligung an Verbrechen
gegen die Menschlichkeit ist Neurath vom Nürnberger Gerichtshof zu 15 Jah-
ren Haft verurteilt worden.

Dass einem solchen Politiker des Dritten Reiches in der Londoner Botschaft ein
Ehrenplatz zugewiesen wird – ohne jegliche Kommentierung – hat für erhebli-
ches öffentliches Aufsehen gesorgt. Dennoch ist das Porträt des Neurath bisher
weder entfernt noch kommentiert worden. Beabsichtigt ist offenbar, in Zusam-
menarbeit mit dem Deutschen Historischen Institut in London eine Plakette zu
entwerfen, die dem Bild beigefügt werden soll (Focus, 2. Juli 2006).

Eine allgemeine Regelung zum Umgang mit der Nazivergangenheit will die
Bundesregierung nach Medienberichten von den Empfehlungen einer Histori-
ker-Kommission abhängig machen, die gegenwärtig die Geschichte des Auswär-
tigen Amts aufarbeitet. Diese Arbeit wird voraussichtlich im Jahre 2009 abge-
schlossen sein (Interview mit dem Vorsitzenden der Historikerkommission in der
Mitarbeiterzeitung des Auswärtigen Amts vom Mai 2005 – Quelle: internAA,
Ausgabe 5 (2006), S. 17 bis 18).

Zwar ist es aus Sicht der Fragesteller unbedingt zu begrüßen, dass die Ge-
schichte des Auswärtigen Amts in der NS-Zeit sowie der Umgang mit dieser
Vergangenheit nach 1945 untersucht wird. Wie dringend solche Forschungen

sind, ergibt sich schon aus dem Umstand, dass zu Anfang der fünfziger Jahre
die ehemaligen NSDAP-Mitglieder im Spitzenpersonal des Auswärtigen Amts
der Bundesrepublik Deutschland eine Zweidrittelmehrheit hatten.

Andererseits ist nicht zu erkennen, wie die Beteiligung des Neurath an faschis-
tischen Verbrechen auf einer einzelnen Plakette abgebildet werden könnte.
Vielmehr drängt sich bei den Fragestellern der Eindruck auf, dem Verweis auf
die Arbeit der Historiker komme die Funktion zu, die Bundesregierung selbst

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von der Stellungnahme zu kritischen Fragen zu entlasten. Die Äußerung von
Kommissionsmitglied E. C., der ein „Primat der Tradition über die politische
und moralische Bewertung von Verbrechen“ fordert (DER SPIEGEL 27/2006),
befördert solche Befürchtungen. Überhaupt ist zu fragen, warum ein verurteil-
ter Kriegsverbrecher in irgendeiner Form zu würdigen sei und warum bislang
offenbar niemand im Auswärtigen Amt und insbesondere nicht in der Londoner
Botschaft Anstoß an der Ehrung des Neurath genommen hat.

Darüber hinaus muss befürchtet werden, dass ähnliche Ehrungen auch in ande-
ren deutschen Auslandsvertretungen vorgenommen werden.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Ist der Bundesregierung bekannt, dass zahlreiche von ihr geehrte Politiker
und Generale des Dritten Reiches an Kriegsverbrechen beteiligt waren, und
wenn ja, welche Konsequenzen zieht sie hieraus?

2. Seit wann und aus welchen Gründen hängt in der deutschen Botschaft in
London ein Porträt des Neurath?

3. Wie beurteilt die Bundesregierung, dass auf der Homepage der deutschen
Botschaft in London zwar relativ ausführlich über drei Opfer des Faschis-
mus berichtet wird („Diplomats and Martyrs“), im Einzelnen Albrecht von
Bernstorff, Herbert Mumm und Wolfgang Brücklmeier, die als „Ritter ohne
Furcht und Tadel“ beschrieben werden, hingegen zur Person Neuraths und
dessen Verbrechen kein Wort zu finden ist?

4. Wie beurteilt die Bundesregierung den Umstand, dass nahezu die einzige
kritische Äußerung zum Dritten Reich auf der Homepage der deutschen Bot-
schaft in London folgendermaßen lautet: „Bedauerlicherweise bedeutete die
Gründung des Großdeutschen Reiches, dass die Republik Österreich ihre
schöne Botschafterresidenz am Belgrave Square 18 verlor, aber nur bis zum
Sommer 1949“ und entspricht das nach Meinung der Bundesregierung den
Anforderungen an eine kritische Geschichtsaufarbeitung?

5. Ist der Bundesregierung bekannt, dass Neurath in einem Artikel im Völki-
schen Beobachter vom 17. September 1939 das „unsinnige Gerede des Aus-
landes über rein innerdeutsche Dinge wie zum Beispiel die Judenfrage“ zu-
rückwies und die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung als „notwendige
Säuberung des öffentlichen Lebens“ bezeichnete und ist der Bundesregie-
rung ebenfalls bekannt, dass Neurath noch in der Verhandlung vor dem
Nürnberger Tribunal behauptete, die „Behandlung der Juden“ sei ein Pro-
zess „der Säuberung des öffentlichen Lebens“ gewesen?

6. Inwiefern bieten solche Äußerungen einen Anlass, den Neurath zu würdigen
und ein Porträt in der deutschen Botschaft in London aufzuhängen?

7. Ist der Bundesregierung bekannt, dass Neurath in seiner Funktion als
„Reichsprotektor für Böhmen und Mähren“ am 21. Juni 1939 ein Dekret
erließ, dass Jüdinnen und Juden den Besitz von Telefongeräten und den
Besuch von Konzerten und Theateraufführungen verbot, und ist ihr eben-
falls bekannt, dass Neurath der jüdischen Bevölkerung das Tragen des gel-
ben Sterns vorschrieb und bieten solche Handlungen einen Anlass, Neurath
mit einem Porträt in der deutschen Botschaft in London zu würdigen?

8. Ist der Bundesregierung bekannt, dass Neurath in einer Denkschrift vom
August 1940 die „individuelle Zuchtwahl“ der „rassenmäßig für die Germani-
sierung geeigneten Tschechen“ sowie die „Abstoßung“ der „rassisch un-
brauchbaren oder reichsfeindlichen Elemente“, insbesondere der Intelligenz,
empfahl, und bieten solche Empfehlungen einen Anlass, Neurath mit einem

Porträt in der deutschen Botschaft in London zu würdigen (bitte begründen)?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/3926

9. Ist der Bundesregierung bekannt, dass Neurath in einer Proklamation vom
August 1939 kollektive Strafen für Widerstandshandlungen androhte und
erklärte, dass „die Verantwortung für alle Sabotageakte nicht nur die einzel-
nen Täter, sondern die ganze tschechische Bevölkerung trifft“, und bieten
solche Äußerungen einen Anlass, Neurath zu ehren?

10. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Fragesteller, dass die Unter-
drückung der Presse, der Meinungsfreiheit, der demokratischen Parteien
und Gewerkschaften und andere Maßnahmen zur Errichtung und Aufrecht-
erhaltung der faschistischen Terrorherrschaft, an denen Neurath als Ange-
höriger der Reichsregierung und Reichsprotektor beteiligt war, verbieten,
eine Ehrung dieses Politikers in Form von unkommentierten Porträts vor-
zunehmen (bitte begründen), und welche Konsequenzen zieht sie hieraus?

11. Wann ist die Erstellung der Plakette in Zusammenarbeit mit dem Deutschen
Historischen Institut London voraussichtlich abgeschlossen, und hält es die
Bundesregierung für richtig, das Porträt Neuraths noch bis zu diesem Zeit-
punkt hängen zu lassen, obwohl Neuraths Mitwirkung am Nationalsozialis-
mus unstrittig ist, und wenn ja, warum?

12. Ist die Bundesregierung der Ansicht, es könne genügen, das vorhandene
Porträt um eine Plakette zu ergänzen, um auf die in den vorangestellten
Punkten angesprochene Verantwortung Neuraths an faschistischen Verbre-
chen hinzuweisen, und wenn nein, welche weiteren Maßnahmen will die
Bundesregierung ergreifen?

13. Wie erklärt sich die Bundesregierung, dass von den Beschäftigten der deut-
schen Botschaft in London offenbar jahrzehntelang niemand Anstoß an der
Ehrung des Neurath genommen hat, und sieht sich die Bundesregierung
hierdurch veranlasst, unter den Beschäftigten des Auswärtigen Amts eine
Fortbildung zum Thema „Nationalsozialismus“ durchzuführen?

14. Teilt die Bundesregierung die Ansicht des Mitglieds der Historiker-Kom-
mission E. C., es gebe einen „Primat der Tradition über die politische und
moralische Bewertung von Verbrechen“ (bitte begründen)?

15. Hängen in der deutschen Botschaft in London auch Porträts der auf Neurath
folgenden Botschafter des Dritten Reiches, Leopold von Hoesch, Joachim
von Ribbentrop und Herbert von Dirksen, und wenn nein, warum nicht von
diesen, wohl aber von Neurath?

16. In welchen anderen Botschaften der Bundesrepublik hängen Porträts von
Diplomaten und Politikern des Dritten Reiches (bitte detailliert aufgliedern)?

17. Wie beurteilt die Bundesregierung die außenpolitische Wirkung der Ehrung
Neuraths, insbesondere gegenüber der Tschechischen Republik und der Slo-
wakischen Republik?

Berlin, den 13. Dezember 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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