BT-Drucksache 16/3568

Laufzeitübertragung von Atomkraftwerken

Vom 23. November 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3568
16. Wahlperiode 23. 11. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Renate Künast, Fritz Kuhn
und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN

Laufzeitübertragung von Atomkraftwerken

Mit dem Atomgesetz wurde der vertraglich zwischen Atomkraftwerksbetrei-
bern und Bundesregierung vereinbarte Ausstieg aus der Kernenergie gesetzlich
festgeschrieben. Jedem AKW wurde eine Reststrommenge zugewiesen, nach
deren Ablauf eine Stilllegung der Anlage erfolgt. Aus zwei Gründen wurde ein
Mechanismus zur Strommengenübertragung zwischen verschiedenen AKWs
als Option in das Atomgesetz aufgenommen. Zum einen soll damit den Atom-
kraftwerksbetreibern die Möglichkeit eingeräumt werden, ihren Kraftwerks-
betrieb insgesamt wirtschaftlich zu optimieren. Nicht weniger wichtig ist die
Frage der allgemeinen Sicherheit. Mit dem Instrument der Strommengenüber-
tragung können alte unsichere Reaktoren früher vom Netz genommen werden,
ohne dass für den Kraftwerksbetreiber insgesamt ein wirtschaftlicher Verlust
entsteht. Bei einer Übertragung von Reststrommengen eines alten Kraftwerkes
auf ein moderneres kann beides zutreffen. Daher ist eine solche Übertragung
auch ohne weitere behördliche Genehmigungen möglich. Der umgekehrte Fall
– eine Übertragung von Strommengen neuerer AKW auf ältere – bringt in der
Regel Sicherheitsnachteile und soll daher nur einen Ausnahmefall darstellen.

Mit dem Antrag auf Übertragung von Strommengen auf Biblis A hat RWE den
Atomkonsens nun auf eine harte Probe gestellt. „Biblis ist das älteste in Betrieb
befindliche Atomkraftwerk in Deutschland. Der 1974 in Betrieb genommene
Block A des Atomkraftwerks Biblis ist einer der drei ältesten Reaktoren der
Republik und weist erhebliche technische Defizite auf.“1 In der Vergangenheit
kam es in diesem AKW zu schwerwiegenden Störfällen: Am 16.-17. Dezember
1987 entging das AKW Biblis-A nur knapp einer Katastrophe. Ein Ventilver-
sagen wurde trotz einer leuchtenden Warnlampe über 16 Stunden lang nicht be-
merkt. Statt den Reaktor sofort herunterzufahren, versuchte die Betriebsmann-
schaft mit einem Trick, das Ventil zu schließen. Ein Kontrollventil, dass den
Primärkreislauf von einer Messleitung trennt, die für den hohen Druck nicht
ausgelegt ist, wurde absichtlich geöffnet, um das defekte Ventil „durchzuspü-
len“. Dies misslang. In der Folge strömten 107 Liter radioaktives Kühlwasser
aus, gelangten über die Messleitung in den Ringraum außerhalb des Sicher-
heitsbehälters und von dort in die Atmosphäre. Nur durch Glück gelang es, das
Kontrollventil gegen den hohen Druck wieder zu schließen. Wäre das nicht ge-

lungen, hätte die Messleitung wegen des hohen Druckes platzen können, und
ein Verlust großer Mengen Kühlmittel wäre unvermeidlich gewesen. Ein sol-
cher Kühlmittelverlust kann zu einer Kernschmelze und damit zum Super-GAU

1 Auszug „Anlagensicherheit und Störfallvorsorge“ aus der Umweltliteraturdatenbank ULIDAT und der Umweltforschungsdatenbank UFORDAT
des Umweltbundesamtes. (http://www.umweltbundesamt.de/anlagen/Storfallgesamt-Ulidat.pdf).

Drucksache 16/3568 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

führen. Gelangt das Kühlmittel, wie in diesem Fall, aus dem Sicherheitsbehäl-
ters hinaus, können auch Notkühlsysteme nur noch begrenzt eingreifen, da die-
sen das Kühlmittel verloren geht. Der Unfall führte letztendlich zu einer Unter-
suchung durch den TÜV. In der Folge „hatte der damalige hessische
Umweltminister Weimar (CDU) 1991 der Betreiberfirma RWE ein umfassen-
des Nachrüstungspaket verordnet, um die Anlage technisch zu verbessern. Da-
bei ging es unter anderem um Vorsorge gegen Erdbebenschäden, neue Absperr-
ventile und besseren Brandschutz in der Schaltzentrale.“1 Bis heute sind nicht
alle Auflagen umgesetzt. Immer wieder führten neue Störungen zu Abschaltun-
gen. Erst kürzlich wurde festgestellt, dass die Dübel zur Befestigung der Roh-
leitungen nicht den Sicherheitsbedürfnissen des Kraftwerkes entsprechen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Kann das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit nach Rechtsauffassung der Bundesregierung einen Antrag auf Rest-
strommengenübertragung eines neueren AKW auf ein älteres Atomkraft-
werke wie Biblis A eigenmächtig ablehnen oder muss eine solche
Ablehnung nur im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Wirt-
schaft und Technologie und dem Bundeskanzleramt erfolgen?

2. Gibt es Fristen für eine solche Entscheidung?

Bis wann wird eine Entscheidung zur Strommengenübertragung auf Biblis A
erfolgen?

Welchen Status haben Bearbeitungsfristen durch den Antragsteller?

3. Ist eine Übertragung der verbliebenen Strommengen des Meilers Mülheim-
Kärlich auf Biblis A im Atomgesetz vorgesehen?

4. Wie wichtig ist eine eigene Notstandswarte für den sicheren Betrieb eines
AKW?

Welche in Betrieb befindlichen deutsche Atomkraftwerke verfügen über
eine solche Notstandswarte?

5. Wie wichtig sind katalytische Rekombinatoren für den sicheren Betrieb
eines AKW?

Welches in Betrieb befindliche deutsche Atomkraftwerk verfügt über solche
katalytischen Rekombinatoren?

6. Gegen den Absturz welcher Flugzeugtypen ist das AKW Biblis A ausrei-
chend geschützt?

Welcher Gefährdungsstufe gehört das Kraftwerk an?

7. Wie beurteilt die Bundesregierung die Erdbebensicherheit der Reaktoren
Biblis A und Biblis B?

Wie bewertet die Bundesregierung das Sicherheitsdefizit aus den falsch
verwendeten Dübeln?

8. Gegen den Absturz welcher Flugzeugtypen ist das AKW Lingen ausrei-
chend geschützt?

Welcher Gefährdungsstufe gehört das Kraftwerk an?

9. Welche sicherheitstechnischen Verbesserungen weist ein Druckwasser-
reaktor der 4. Generation (Konvoi) gegenüber Druckwasserreaktoren der
2. Generation auf?

10. Ist die Notstromversorgung in den Atomkraftwerken Biblis A und B sicher-

heitstechnisch auf dem gleichen Sicherheitsniveau wie die des AKW
Lingen?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/3568

11. Zu welchen Ergebnissen kommt man, wenn man die Ergebnisse der proba-
bilistisch Sicherheitsanalysen (PSA) untersucht?

Welche Atomkraftwerke weisen am häufigsten so genannte Gefährdungs-
zustände (Plant Hazard States) auf?

12. Hält die Bundesregierung eine Schließung des Reaktors Biblis A und die
Übertragung der Reststrommengen auf ein moderneres Kraftwerk für sinn-
voll?

Berlin, den 23. November 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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