BT-Drucksache 16/3447

Rechtlicher und behördlicher Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen in Deutschland vor dem Hintergrund einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (1B 188.05)

Vom 16. November 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3447
16. Wahlperiode 16. 11. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Dr. Hakki Keskin und der Fraktion
DIE LINKE.

Rechtlicher und behördlicher Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen
in Deutschland vor dem Hintergrund einer Entscheidung
des Bundesverwaltungsgerichts (1 B 188.05)

Der behördliche und rechtliche Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen in
Deutschland ist höchst umstritten. Während vor allem Ärztekammern, Psycho-
log(inn)enverbände, Behandlungseinrichtungen für Traumatisierte/Folteropfer
und Flüchtlingsorganisationen einen besonders sensiblen, qualifizierten und
sorgfältigen Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen und einen sicheren Auf-
enthaltsstatus für diese einfordern, hegen Behörden und Ministerien, aber auch
nicht wenige Gerichte oftmals den Verdacht eines Missbrauchs, wenn eine post-
traumatische Belastungsstörung bei Flüchtlingen diagnostiziert wird. Es wird
nach Wegen gesucht, wie attestiert traumatisierte Menschen, denen eine recht-
liche Anerkennung als Flüchtlinge versagt blieb, leichter abgeschoben werden
können.

Der Deutsche Ärztetag spricht sich seit Jahren gegen eine ärztliche Beteiligung
an Abschiebungen von Menschen aus, die wegen einer Traumatisierung behan-
delt werden oder bei denen durch die Abschiebung eine Retraumatisierung
droht. Dies sei mit der ärztlichen Ethik unvereinbar. Nachdem im Jahr 2002 die
Innenministerkonferenz versucht habe, „die Ärzteschaft im Sinne bedarfsge-
rechter Erstellung von Flugtauglichkeitsbegutachtungen zu instrumentalisieren“
(Beschlussprotokoll des 107. Deutschen Ärztetages), setzt sich die Bundes-
ärztekammer in Gesprächen mit der Innenministerkonferenz für die Wahrung
medizinischer und ethischer Standards ein. Der Deutsche Ärztetag lehnt „die
Beschränkung einer medizinischen Begutachtung auf bloße ‚Reisefähigkeit‘
eindeutig“ ab (ebd.) und kritisiert „ärztliche Beihilfe zu Abschiebungen“ durch
„fachlich unzureichende Gutachten“ (ebd.), was immer wieder vorkomme. Der
Gesetzgeber wurde aufgefordert, Grundlagen für eine „kompetente, umfassende
und der ärztlichen Sorgfalt entsprechende Begutachtung zu jeder Zeit“ zu schaf-
fen (ebd.). Vertreterinnen und Vertreter der Bundesländer und der Bundesärzte-
kammer entwickelten im November 2004 einen „Informations- und Kriterien-
katalog“ zu „Fragen der ärztlichen Mitwirkung bei Rückführungsfragen“, der
bislang, soweit ersichtlich, nur in den Ländern Nordrhein-Westfalen und Schles-
wig-Holstein im Rahmen von Weisungen an die Ausländerbehörden zur Beach-
tung übermittelt wurde. Nach diesem Katalog sollen drohende Gesundheitsge-
fährdungen zu jedem Zeitpunkt im Abschiebungsverfahren berücksichtigt
werden, wobei die Betroffenen in ihrer gesundheitlichen Situation ganzheitlich
betrachtet und gegebenenfalls entsprechende Fachgutachten eingeholt werden
sollen. Posttraumatischen Belastungsstörungen komme in diesem Zusammen-
hang eine besondere Bedeutung zu.

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Umfangreiche Empfehlungen zum Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen
wurden auch von der unabhängigen Kommission des Diakonischen Werkes in
Hessen und Nassau „Abschiebung kranker Flüchtlinge und ethische Verantwor-
tung“ unter dem Vorsitz des ehemaligen Hessischen Innenministers Gerhard
Bökel (SPD), erstellt, die der Bundesregierung bekannt sind (vgl. Bundestags-
drucksache 16/1055, Antwort zu Frage 9a).

In der Praxis kommt es jedoch immer wieder vor, dass traumatisierte Menschen
sogar aus Klinken heraus von der Polizei abgeführt und anschließend abgescho-
ben werden (vgl. nur die Stellungnahme von Amnesty International vom
7. April 2006 zum „Umgang mit traumatisierten und kranken Menschen bei Ab-
schiebung“). Erst jüngst kritisierte die Landesärztekammer Baden-Württemberg
die verstärkte Abschiebung körperlich und seelisch kranker Flüchtlinge (vgl.
kna und ddp vom 4. Juli 2006). Ihr Menschenrechtsexperte Matthias Odenwald
forderte in diesem Zusammenhang Begutachtungen nur durch speziell fortgebil-
dete Ärztinnen und Ärzte, da die Behörden voreingenommen prüften (ebd.).

Auch die unabhängige Kommission „Abschiebung kranker Flüchtlinge und
ethische Verantwortung“ kritisiert, dass es in der Praxis „immer wieder zu uner-
träglichen Härten“ komme (s. o., S. 7). Der Diskurs in Politik und Medien orien-
tiere sich „vornehmlich an ökonomischen Maßstäben der Nützlichkeit und we-
niger am Schutz der Würde des Einzelnen“, was „auch die Praxis von Behörden
und Gerichten, die zunehmend von Abwehrhaltung und institutionellem Miss-
trauen geprägt“ sei, beeinflusse (ebd., 7 f.). Im Alltag sei „oft eine Art struk-
turelle Verantwortungslosigkeit (…) zum Schaden kranker Flüchtlinge zu be-
obachten (S. 9).

Das Bundesverwaltungsgericht hat nun mit Urteil vom 24. Mai 2006 (BVerwG
1 B 118.05) grundsätzliche Anforderungen an die Prüfung krankheitsbedingter
Abschiebungshindernisse gestellt, die den Forderungen der medizinischen
Fachwelt und der Flüchtlingsverbände nach einem besonders qualifizierten und
sorgsamen Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen entsprechen. Es entschied,
dass „Fachfragen (wie insbesondere genaue Diagnose von Art und Schwere der
Erkrankung sowie Therapiemöglichkeiten einschließlich Einschätzung des
Krankheitsverlaufs bzw. der gesundheitlichen Folgen je nach Behandlung)“
nicht ohne ein (auch von Amts wegen) einzuholendes und „wissenschaftlichen
Mindeststandards entsprechendes Sachverständigengutachten“ entschieden
werden können bzw. dürfen, weil Richterinnen und Richtern eine entsprechende
Sachkunde fehlt, um „selbst und in Abweichung von den vorgelegten ärztlichen
und fachärztlichen Bescheinigungen“ etwa eine Suizidgefahr im „Abschiebe-
zielstaat“ beurteilen zu können.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Asylantragstellerinnen und -antragsteller gaben gegenüber dem
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) seit dem 1. Januar 2000
an,

a) traumatisiert zu sein,

b) wie viele legten ein entsprechendes ärztliches oder fachärztliches Attest
oder ein ärztliches oder psychologisches Gutachten vor,

c) in wie vielen Fällen holte das BAMF zur Aufklärung des Sachverhalts
bzw. im Rahmen der Prüfung von Abschiebungshindernissen medizini-
sche oder psychologische Fachgutachten ein, welche Stellen oder Gutach-
terinnen und Gutachter beauftragte das BAMF und nach welchen Krite-
rien ging es dabei vor (wenn keine Gutachten eingeholt wurden, warum
nicht)

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(Angaben bitte soweit als möglich differenzieren nach Jahren, Herkunftslän-
dern, Geschlecht; in absoluten Zahlen und prozentualen Größen)?

2. Wie viele Asylantragstellerinnen und -antragsteller wurden infolge ihrer
Traumatisierung bzw. infolge einer hiermit zusammenhängenden Verfolgung
als Asylberechtigte oder als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskon-
vention anerkannt bzw. wie viele Anerkannte waren traumatisiert und in wie
vielen Fällen stellte das BAMF im Zusammenhang einer Traumatisierung
Abschiebungshindernissen fest (aufgrund Behandlungsbedürftigkeit, dro-
hende Suizidgefahr usw.)

(Bitte soweit als möglich differenzieren nach Rechtsgrundlage, Jahren, Her-
kunftsländern, Geschlecht, in absoluten Zahlen und prozentualen Größen,
falls keine genauen Zahlen vorliegen wird um eine Einschätzung gebeten)?

3. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass das, was nach der in der
Vorbemerkung zitierten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
(BVerwG) für Richterinnen und Richter gilt, auch für Behördenmitarbeiterin-
nen und -mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bzw.
auch der Ausländerbehörden gelten muss, d. h. dass diese mangels eigener
Sachkenntnis über schwierige medizinische Beurteilungsfragen nicht selbst
entscheiden können und deshalb in Zweifelsfällen von Amts wegen ein
wissenschaftlichen Mindeststandards entsprechendes Sachverständigengut-
achten einholen müssen?

a) Wenn ja, welche gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen plant sie,
um diesen Grundsatz in der Praxis (zumindest des BAMF) sicherzustel-
len?

b) Wenn nein, warum nicht?

4. Was sieht die detaillierte interne Anweisung des Bundesamtes für Migration
und Flüchtlinge zu krankheitsbedingten Abschiebungsverboten konkret vor,
auf die sich die Bundesregierung in der Bundestagsdrucksache 16/1055 (Ant-
wort zu Frage 9b) bezieht (gegebenenfalls: wo ist sie einzusehen?), und wird
diese Anweisung infolge des Urteils des BVerwG geändert werden, z. B. hin-
sichtlich der Notwendigkeit, in Zweifelsfällen von Amts wegen ein wissen-
schaftlichen Mindeststandards entsprechendes Sachverständigengutachten
einzuholen (wenn nein, warum nicht)?

5. Sieht die Bundesregierung vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesver-
waltungsgerichts weiteren Änderungsbedarf in der Entscheidungspraxis des
BAMF?

a) Wird sie insbesondere sicherstellen, dass entsprechend dem Urteil (vgl.
die Ausführungen des BVerwG zu Rndnr. 4, a. a. O.) bei der Bewertung
auslandsbezogener Gefährdungen im Zusammenhang posttraumatischer
Erkrankungen nicht die erhöhten Anforderungen einer extremen oder
existenziellen Gefahr bei Allgemeingefahren, sondern der (niedrigere)
Maßstab einer erheblichen Gesundheitsgefahr im Einzelfall zur Anwen-
dung kommt, wenn nein, warum nicht?

b) Wie ist die derzeitige Praxis / interne Weisungslage des BAMF diesbezüg-
lich: Werden Gefährdungen im Zusammenhang posttraumatischer Belas-
tungserkrankungen beispielsweise in Bezug auf den Kosovo als indivi-
duelle Gefährdungen oder als „Allgemeingefahren“ gewertet, und auf
welcher Rechtsgrundlage geschieht dies?

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6. Sieht die Bundesregierung infolge des benannten BVerwG-Urteils die Not-
wendigkeit, in Zukunft enger mit Ärztekammern, psychologischen Verbän-
den und Facheinrichtungen zusammenzuarbeiten und sich insbesondere im
Rahmen der Innenministerkonferenz, aber auch gegenüber dem BAMF, da-
für einzusetzen, dass verstärkt auf den fachlich-medizinischen Sachverstand
außerhalb der Behörden zurückgegriffen wird (bitte begründen)?

7. Wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Stand der Gespräche zwi-
schen Bund, Ländern und der Ärzteschaft zum Thema ärztliche Mitwirkung
bei Abschiebungen, und welche Position nimmt die Bundesregierung in die-
sen Gesprächen ein?

8. Wird die Bundesregierung der Forderung des 107. Deutschen Ärztetages
nach gesetzlichen Grundlagen für eine kompetente und der ärztlichen Sorg-
falt entsprechende Begutachtung Kranker zu jedem Zeitpunkt im Abschie-
bungsverfahren entsprechend initiativ werden, und wenn nein, warum
nicht?

9. Unterstützt die Bundesregierung die Anregung des Präsidenten der Bun-
desärztekammer, Prof. Dr. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, gegenüber der IMK
(Schreiben vom 4. November 2005), den Informations- und Kriterienkata-
log zur medizinischen Begutachtung bei „Rückführungen“ bundesweit ein-
zusetzen, wenn ja, was unternimmt sie in dieser Hinsicht, wenn nein, warum
nicht?

10. a) Unterstützt die Bundesregierung die Idee eines „Ärztepools“, nach der
sich Behörden und Gerichte an besonders qualifizierte und fortgebildete
Ärztinnen und Ärzte und Psycholog(inn)en zur Erstellung fachkundiger
Gutachten wenden können?

Wenn ja, wie, wenn nein, warum nicht?

b) Wie beurteilt die Bundesregierung Modelle zur Qualitätssicherung von
Attesten und gutachterlichen Stellungnahmen wie etwa im Land Berlin,
wonach den Stellungnahmen als besonders qualifiziert ausgewiesener
Fachärztinnen/-ärzte und Psycholog(inn)en, die auf einer von den Ärzte-
kammern geführten Liste aufgeführt sind, eine besondere Beweiskraft
zukommt, d. h. dass diese im Regelfall nicht noch einmal behördlich auf
ihre Stichhaltigkeit hin überprüft werden, sofern formale und inhaltliche
Mindestanforderungen erfüllt sind – etwa auch als mögliches Modell für
die Prüfungspraxis beim BAMF?

c) Was unternimmt die Bundesregierung, um an Abschiebungen traumati-
sierter Menschen beteiligten Amtsärztinnen/-ärzten das für die Beurtei-
lung hiermit zusammenhängender Gefahren erforderliche Fachwissen zu
vermitteln; sind Fortbildungen und Schulungsmaßnahmen geplant, wenn
ja, welche, wenn nein, warum nicht?

d) Unterstützt die Bundesregierung eine Fortbildung und Aufklärung von
Richterinnen und Richtern zu posttraumatischen Belastungserkrankun-
gen, wie von der Bundesärztekammer geplant, wenn ja, wie, wenn nein,
warum nicht?

11. Wie verteilen sich die laut Evaluationsbericht zum Zuwanderungsgesetz
(S. 54) 2 292 Fälle des Jahres 2005, in denen das BAMF entsprechend § 72
Abs. 2 AufenthG zur Prüfung von Abschiebungshindernissen von den Aus-
länderbehörden beteiligt wurde, auf die einzelnen Bundesländer?

a) Wie viele solcher Beteiligungsersuchen aus welchen Bundesländern gab
es im 1. Halbjahr 2006?

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b) In wie vielen Fällen der Ersuchen (in absoluten Zahlen und in Prozent)
wurde vom BAMF ein Abschiebungshindernis festgestellt bzw. abge-
lehnt (bitte auch nach Herkunftsländern differenzieren)?

c) In wie vielen Fällen der Ersuchen (in absoluten Zahlen und in Prozent)
handelte es sich um krankheitsbedingte Abschiebungshindernisse, die zu
überprüfen waren (bitte differenzieren: physische Erkrankungen, post-
traumatische Belastungsstörungen, sonstige psychische/psychiatrische
Erkrankungen) und wie war in diesen Fällen die Anerkennungs-/Ableh-
nungsquote (bitte auch nach Herkunftsländern differenziert)?

12. Ist es nach Auffassung der Bundesregierung rechtlich zulässig, dass das
BAMF im Rahmen der Beteiligung nach § 72 Abs. 2 AufenthG von den
Ausländerbehörden übersandte (fach-)ärztliche Atteste und psychologische
Stellungnahmen/Gutachten auf ihre inhaltliche Stichhaltigkeit/Schlüssig-
keit hin überprüft, oder ist dies die Aufgabe der Ausländerbehörden, und das
BAMF muss sich auf die Bewertung der auslandsbezogenen Aspekte (Be-
handlungsmöglichkeiten im Herkunftsland usw.) beschränken?

13. Hat die Bundesregierung Kenntnis oder kann sie sich Kenntnis verschaffen
über eine Anfrage des BAMF an die Bundesländer, wonach „die Länder im
Benehmen mit dem Bundesinnenministerium um Mitteilung gebeten [wur-
den], inwieweit eine Bereitschaft bestehe, die Kosten notwendiger medizi-
nischer Behandlungen im Einzelfall zu übernehmen, wenn damit die Ge-
währung eines Abschiebehindernisses abgewandt werden könne“, und in
der „um Benennung zentraler Ansprechpartner gebeten [wird], bei denen
die Sachbearbeiter des Bundesamtes im konkreten Einzelfall hinsichtlich
einer Kostenübernahme nachfragen können“ (aus einem Schreiben des
Niedersächsischen Innenministeriums an die Zentrale Ausländerbehörde in
Oldenburg vom 23. Januar 2006, das der Fragestellerin vorliegt), und wenn
ja, was beinhaltet dieses Schreiben weiterhin?

a) Hält die Bundesregierung einen solchen Ansatz (Abwendung von Ab-
schiebungsschutz durch Kostenübernahmen für eine Behandlung im
„Abschiebungszielstaat“) auch bei traumatisierten Menschen für rech-
tens und dem Krankheitsbild einer posttraumatischen Belastungsstörung
und der besonderen Schutzbedürftigkeit und Verletzlichkeit traumatisier-
ter Menschen für angemessen (bitte begründen)?

Wenn nein, was tut sie, um solche Initiativen des BAMF zur institutiona-
lisierten Erleichterung von Abschiebungen kranker Menschen zu unter-
binden?

b) Ist der Bundesregierung die „Stellungnahme der wissenschaftlichen
Fachgesellschaften zur Untersuchung von Flüchtlingen vor Abschie-
bungen“ (z. B.: http://www.fluechtlingsrat-nrw.de/1873/index.html) be-
kannt, in der im Zusammenhang mit Gefahren einer zwangsweisen
„Rückführung“ von Traumatisierten darauf hingewiesen wird, dass
selbst „im Herkunftsland bestehende Behandlungsmöglichkeiten die
Prognose nur gering“ verbessern, weil in „räumlichem Kontakt mit den
Orten der Gewalterfahrungen […] nicht damit zu rechnen [ist], dass bei
den Betroffenen ein Gefühl innerpsychischer Sicherheit entsteht, dass für
einen Behandlungserfolg notwendig ist“ – und wie ist die oben genannte
Initiative des BAMF mit dieser fachlichen Beurteilung vereinbar (bitte
begründen)?

c) Ist der Bundesregierung die Rechtsprechung und der wissenschaftliche
Forschungsstand bekannt, wonach bereits das Erleben einer Zwangs-
abschiebung an sich bei schwer traumatisierten Menschen die Gefahr
einer Retraumatisierung beinhaltet und somit als Abschiebungshinder-
nis zu werten ist, es also auf die Behandlungsmöglichkeiten im Her-

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kunftsland in solchen Fällen gar nicht ankommt, und wie ist die oben
genannte Initiative des BAMF hiermit zu vereinbaren (bitte begrün-
den)?

d) Welche Bundesländer haben dem BAMF bislang mit welchem Inhalt ge-
antwortet, und welche Bundesländer haben dem BAMF, wie erbeten,
zentrale Ansprechpartner benannt, mit denen die Frage einer Kosten-
übernahme von Behandlungskosten nach einer Abschiebung besprochen
werden kann?

14. a) Sind der Bundesregierung Gerichtsentscheidungen bekannt (etwa: VG
10 A 350.06, B. v. 7. August 2006), nach denen die Gefahr einer Retrau-
matisierung durch eine Abschiebung insbesondere nicht durch eine
„ärztliche Begleitung der Abschiebung“ abgewendet werden kann, weil
ein „begleitender Arzt während der Abschiebung akut auftretende psy-
chische Ausnahmezustände zu behandeln und ggf. zu lindern vermag,
die traumatisierende Wirkung der Abschiebung indes […] nicht verhin-
dern“ kann (ebd., S. 3), und wie bewertet die Bundesregierung vor die-
sem Hintergrund die Beteiligung der Bundespolizei an Abschiebungen
traumatisierter Menschen, die in ärztlicher „Begleitung“ erfolgen bzw.
die erst durch diese „Begleitung“ möglich gemacht werden?

b) Sind der Bundesregierung Gerichtsentscheidungen bekannt (etwa:
VGH BW – 11 S 389/01, B. v. 7. Mai 2001; in: InfAuslR 9/2001, 384),
mit denen auf die umfassende „Schutzpflicht des Staates“ für Leib, Le-
ben und körperliche Unversehrtheit hingewiesen wird, die verletzt wird,
„wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschie-
bung der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich (oder gar
lebensbedrohlich) verschlechtert wird, dass also die Abschiebung den
Ausländer in diesem Sinn krank oder kränker macht“, und wie bewertet
die Bundesregierung vor diesem Hintergrund die Beteiligung der Bun-
despolizei an Abschiebungen traumatisierter Menschen, die mit der Ge-
fahr einer Retraumatisierung verbunden sind?

15. Warum wird die Frage der Angemessenheit der Rechtslage und der Qualität
des behördlichen und rechtlichen Umgangs mit traumatisierten Flüchtlingen
im Evaluationsbericht des Bundesministeriums des Innern zum Zuwande-
rungsgesetz nicht gesondert behandelt?

16. a) Was hat die Evaluierung der Dienstanweisungen über Rückführungen
auf dem Luftweg („BestRück Luft“) durch das Bundesministerium des
Innern in Bezug auf „Flugreisetauglichkeit“ bei posttraumatischen Be-
lastungserkrankungen inhaltlich erbracht, welches Zahlenmaterial liegt
vor, ist dieses einsehbar?

b) Was sieht die aktuelle Fassung der „BestRück Luft“ in Bezug auf „Flug-
reisetauglichkeit“ bei posttraumatischen Belastungserkrankungen vor,
und wie ist die Praxis der Bundespolizei und die Zusammenarbeit mit
den Ausländerbehörden?

c) Wann ist der „BestRück Luft“ gemäß eine akute Gesundheitsver-
schlechterung bei abzuschiebenden traumatisierten Personen gegeben,
die eine erneute Begutachtung und Prüfung der „Flugreisetauglichkeit“
erforderlich macht, und anhand welcher Kriterien stellen die Bedienste-
ten der Bundespolizei eine solche akute Gesundheitsverschlechterung im
Verlauf einer Abschiebung fest?

d) Soll an dem Begriff und Kriterium einer „Flugreisetauglichkeit“ festge-
halten werden, obwohl dies gerade bei posttraumatischen Belastungs-
erkrankungen aus fachlich-medizinischer Sicht auf Kritik stößt, da die
Frage möglicher Gesundheitsgefährdungen nicht auf die isolierte Frage
einer „Reisefähigkeit“ reduziert werden könne (bitte begründen)?

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e) Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung für den Bereich der
Bundespolizei aus dem Umstand, dass nach Ansicht ärztlicher Gutachter
eine „Reisefähigkeit“ insbesondere nicht durch die Verabreichung von
Medikamenten hergestellt werden kann (vgl. Erfahrungsbericht des In-
nenministeriums NRW mit dem Informations- und Kriterienkatalog zu
Fragen der ärztlichen Mitwirkung bei Rückführungen vom 16. April
2006, S. 13), wird sie insbesondere solchen Versuchen der medikamen-
tösen Herstellung von „Reisefähigkeit“ grundsätzlich Einhalt gebieten
(bitte begründen)?

17. Was beabsichtigt die Bundesregierung an konkreten Initiativen, um den
Grundsatz der Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von besonders
schutzbedürftigen Personen, zu denen unter anderem Personen gehören, die
Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, phy-
sischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, sicherzustellen (vgl. Artikel 15
Abs. 2, Artikel 17 Abs. 1 und Artikel 20 der EU-Richtlinie 2003/9/EG, so-
wie Artikel 20 Abs. 3 und Artikel 29 Abs. 3 der EU-Richtlinie 2004/83/EG
des Rates)

a) in Bezug auf die Praxis des Bundesamtes,

b) in Bezug auf Gesetzesänderungen,

und welche Behörde wird in welchem Einzelprüfungsverfahren die be-
sondere Hilfebedürftigkeit feststellen (Artikel 17 Abs. 2 der EU-Richtlinie
2003/9/EG)?

Berlin, den 15. November 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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