BT-Drucksache 16/2866

Tötungsdelikte mit rechtsextremistischem Hintergrund in den Jahren 2004 und 2005

Vom 28. September 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2866
16. Wahlperiode 28. 09. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Petra Pau, Ulla Jelpke, Jan Korte, Kersten Naumann und der
Fraktion DIE LINKE.

Tötungsdelikte mit rechtsextremistischem Hintergrund in den Jahren 2004
und 2005

Die Zahlen rechtsextremer Gewaltdelikte sind im Jahr 2005 noch einmal in er-
schreckendem Maße angestiegen, womit die Aktualität und Virulenz des Pro-
blems der extremen Rechten deutlich wird. Als einzig positive Entwicklung lässt
sich in diesem Zusammenhang beobachten, dass die Fälle von Tötungsdelikten
mit rechtsextremem Hintergrund in den letzten Jahren rückläufig sind.

Über die Zahl der Todesopfer durch rechtsextreme Gewalt gab es in der Vergan-
genheit immer wieder öffentliche Auseinandersetzungen. Dies vor allem des-
halb, weil von Seiten der zuständigen Behörden zahlreiche eindeutig politisch
rechts motivierte Tötungsdelikte nicht in die Statistik aufgenommen wurden,
womit diese ein verharmlosendes Bild der Bedrohung von rechts zeichnete.
Durch die Arbeit und Recherche unabhängiger Institutionen, z. B. von Opferbe-
ratungsstellen, vor allem aber durch die Veröffentlichung einer selbst recher-
chierten Liste von Todesopfern durch rechtsextreme Gewalt, veröffentlicht
durch die Tageszeitungen „Frankfurter Rundschau“ und „DER TAGESSPIE-
GEL“, mussten auch das Bundeskriminalamt (BKA) und der Verfassungsschutz
ihre Zahlen ändern. Der Vizepräsident des BKA, Bernhard Falk, war auch nach
der Korrektur der offiziellen Zahlen durch den damaligen Innenminister Otto
Schily noch skeptisch: „Es besteht genug Anlass, mit dem polizeilichen Daten-
material kritisch umzugehen.“ (DER TAGESSPIEGEL, 20. November 2000)

Trotz dieser Korrektur bei den zuständigen Institutionen gibt es nach wie vor ei-
ne erhebliche Differenz zwischen den offiziell bestätigten Fällen rechtsextrem
motivierter Tötungsdelikte und den von unabhängiger Seite angeführten Fällen.
So ergeben sich aus Anfragen der PDS (vgl. Bundestagsdrucksache 14/5032)
und den Darstellungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz bis zum Jahr
2005 37 Tötungsfälle mit rechtsextremem Hintergrund, während eine Einrich-
tung wie die Amadeu Antonio Stiftung von 133 Todesopfern rechtsextremer
Gewalt ausgeht.

Für die Jahre 2004 und 2005 weist der Verfassungsschutzbericht in der Rubrik
Tötungsdelikte jeweils eine Null aus. In diesem Zeitraum gab es aber mindes-

tens zwei Fälle, die in der Öffentlichkeit als rechtsextrem motivierte Tötungsde-
likte gewertet wurden. Beide Fälle sollen hier kurz vorgestellt werden.

In der Nacht zum 21. Januar 2004 wird der 27-jährige Russlanddeutsche O. V.
in Gera von vier jugendlichen Tätern (14 bis 19 Jahre) ermordet. Mit unglaubli-
cher Brutalität wird der Schädel des Opfers zertrümmert, werden ihm zahlreiche
Schnitt- und Stichverletzungen beigebracht. Der Tat voraus ging ein gemeinsa-
mes „Saufgelage“, bei dem es zum Streit gekommen sein soll. Daraufhin lockten

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die Täter O. V. in einen nahe gelegenen Wald und schlugen ihn brutal zusam-
men. Später kehrten sie zum Tatort zurück und ermordeten den Schwerverletz-
ten.

Mindestens zwei der vier Täter unterhielten Kontakte in die rechte Szene Geras.
An den Prozesstagen war diese Szene stark im Gerichtssaal vertreten. Von Seiten
der Staatsanwaltschaft wurde die „menschenverachtende Gesinnung“ der Täter
hervorgehoben und zur Begründung der geforderten Haftstrafen wurde erwähnt,
„dass eine fremdendfeindliche Gesinnung für die Tat prägend“ gewesen sei.

Am 28. März 2005 wird T. Sch., ein 32-jähriger Punk aus Dortmund, an einer
U-Bahnstation von dem 17-jährigen S. K. niedergestochen und verstirbt kurze
Zeit später. Der Täter gehört zur örtlichen Skinheadszene. „Die Zecke hat es
nicht anders verdient“ soll der Täter zu seiner Freundin gesagt haben, als das
Opfer blutend am Boden lag (Westfälische Nachrichten, Lokalteil Dortmund,
21. September 2005). Die örtliche Naziszene hat sich nach der Tat sofort solida-
risch mit dem Täter erklärt.

Gingen Polizei und Verfassungsschutz zunächst von einem rechtsextremen Tat-
hintergrund aus, so wurde dieser Verdacht nach dem Urteil des Landgerichts
Dortmund, das die Tat als nicht politisch motiviert wertete, fallengelassen (vgl.
Verfassungsschutzbericht 2005, S. 25, Anmerkung 3). Als einen Grund führte
der Vorsitzende Richter an, dass ein 17-Jähriger noch keine fest gefügten politi-
schen Überzeugungen haben könne.

Für die Bewertung von Taten, wie sie oben angeführt wurden, kann nach An-
sicht der Fragesteller nicht nur die vom Gericht vorgenommene Bewertung ei-
nes möglichen rechtsextremen Tathintergrunds zugrunde gelegt werden. Wäh-
rend für das Gericht das angenommene Tatmotiv zweifelsfrei vorliegen muss
und auch erhebliche Auswirkungen auf das Strafmaß haben kann, unterliegt die
politische Bewertung solcher Taten anderen Maßstäben. Geht es der Justiz um
strafrechtlich relevante Motive einer Tat, so muss es der Bundesregierung und
dem zuständigen Amt für Verfassungsschutz um eine Einschätzung des politi-
schen Gefährdungspotenzials gehen. Die rassistischen (Russlanddeutscher)
bzw. politischen (Punk) Hintergründe der angeführten Taten sind nach Ansicht
der Fragesteller gewichtige Gründe, diese Taten dem Feld extrem rechts moti-
vierter Tötungsdelikte zuzurechnen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Mit welcher Begründung wird die Tötung von O. V. 2004 in Gera vom Ver-
fassungsschutz als nicht rechtsextrem motivierte Tat gewertet?

2. Wie bewertet die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Umstände,
dass einzelne Angeklagte Verbindungen in die rechtsextreme Szene hatten,
diese beim Prozess regelmäßig anwesend war und sich mit den Tätern soli-
darisierte?

3. Mit welcher Begründung wird die Tötung von T. Sch. 2005 in Dortmund vom
Verfassungsschutz als nicht rechtsextrem motivierte Tat gewertet?

4. Wie bewertet die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Tatsachen,
dass der Täter enge Verbindungen zur lokalen Skinheadszene hatte, und sich
Angehörige der rechtsextremen Szene sofort mit dem Täter solidarisierten?

5. Welche Rolle für die politische Bewertung solcher Tötungsdelikte spielt die
staatsanwaltliche Einschätzung, die in den beiden angeführten Fällen von
fremdenfeindlichen Motiven ausging?

6. Wie erklärt die Bundesregierung die Diskrepanz der von ihrer Seite angege-

benen Zahl von 37 Tötungsdelikten mit rechtsextremen Hintergrund gegen-
über der von Institutionen wie der Amadeu Antonio Stiftung oder von Zei-

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tungen wie „DER TAGESSPIEGEL“ und „Frankfurter Rundschau“
ermittelten Zahl von bis zu 133 Tötungsdelikten mit rechtsextremem Hinter-
grund?

7. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung der Fragesteller, dass es bei der
Veröffentlichung von rechtsextremen Tötungsdelikten vor allem um die Ein-
schätzung eines kriminellen aber auch politischen Gefahrenpotenzials geht?

8. Lässt sich nach Ansicht der Bundesregierung eine politische Einschätzung
des rechtsextremen Gefahrenpotenzials treffen, wenn für die Frage der poli-
tischen Motivierung von Tötungsdelikten einzig auf die Gerichtsurteile Be-
zug genommen wird, und wie begründet sie ihre Auffassung?

Berlin, den 28. September 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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