BT-Drucksache 16/2796

Neuregelung des Hochschulzugangs und der Hochschulabschlüsse als Impuls zur Hochschulöffnung und Qualitätsentwicklung nutzen

Vom 27. September 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2796
16. Wahlperiode 27. 09. 2006

Antrag
der Abgeordneten Cornelia Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider
(Saarbrücken), Oskar Lafontaine, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion DIE LINKE.

Neuregelung des Hochschulzugangs und der Hochschulabschlüsse als Impuls
zur Hochschulöffnung und Qualitätsentwicklung nutzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Mit der Zustimmung zur Föderalismusreform haben sich die Kompetenzen
von Bund und Ländern im Hochschulbereich geändert. Der Bund kann künf-
tig im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung Regelungen zur Hoch-
schulzulassung und zu Hochschulabschlüssen treffen. In beiden Bereichen
besteht Handlungsbedarf. Ziel muss es dabei sein, jedem und jeder, der oder
die qualifiziert ist, ein Hochschulstudium zu ermöglichen, eine hohe Qualität
der Abschlüsse sicherzustellen sowie die Gleichwertigkeit der Studien-
abschlüsse und damit die Mobilität von Studierenden zu gewährleisten.

2. Die Hochschulzulassung wird aufgrund fehlender Studienplätze zunehmend
durch hoch selektive Auswahlverfahren geprägt. Das Bundesverfassungsge-
richt hat hierzu in seinem sog. NC-Urteil vom 3. Mai 1972 festgestellt, dass
„der Numerus Clausus niemals den Charakter einer vorübergehenden Maß-
nahme verlieren und zu einer ständigen, das verfassungsrechtlich garantierte
Recht auf freie Berufswahl aushöhlenden Einrichtung werden“ dürfe. Die im
Rahmen der 7. Novelle des Hochschulrahmengesetzes (HRG) im August
2004 erfolgte Stärkung des individuellen Auswahlrechts der Hochschulen bei
der Zulassung zum Studium hat dagegen dazu beigetragen, dass Bewer-
bungsgespräche, Motivationsschreiben und Eignungstests in den Hochschu-
len zunehmend als Normalität wahrgenommen werden. Dieser Entwicklung
folgend werden für viele der neu eingeführten Bachelor-/Master-Studien-
gänge auch in hochschuleigenen Zulassungsverfahren entsprechende Verfah-
ren angewendet.

Die bisherigen Erfahrungen mit individuellen Auswahlverfahren bei der
Hochschulzulassung zeigen, dass Diskriminierungen aufgrund sozialer und
kultureller Herkunft sowie aufgrund des Geschlechts bei dieser Art der Aus-
wahl nicht vermieden werden können. Die Bundesregierung hat dies in ihrer
Antwort auf eine Kleine Anfrage kürzlich bestätigt (Bundestagsdrucksache

16/2393). Diese Problematik zeigt sich beispielhaft an den aktuell von der
Hochschulrektorenkonferenz und dem Deutschen Akademischen Austausch
Dienst vorangetriebenen Auswahl- und sog. Studierfähigkeits-Tests. Diese
Tests prüfen einen schichtspezifischen Bildungshintergrund ab, wie aus den
Fragestellungen deutlich wird. Zum Zweiten ist vielfach bereits geplant, dass
die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Testgebühren selbst aufbringen
sollen, was für Studienbewerberinnen und -bewerber aus finanzschwachen

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Elternhäusern mit einer entsprechenden Benachteiligung verbunden ist.
Werden persönliche Auswahlgespräche angewandt, dann haben Studien-
bewerberberinnen und -bewerber aus Elternhäusern ohne akademischen Hin-
tergrund auch aufgrund habitueller Differenzen einen Nachteil.

3. Die Hochschulabschlüsse sind – angestoßen im Rahmen des Bologna-Pro-
zesses zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Hochschulraumes –
derzeit im Umbruch. Die Einführung einer zweistufigen Studienstruktur und
der Hochschulabschlüsse Bachelor und Master in Deutschland führt in der
jetzigen Form für den überwiegenden Teil der Studierenden zu einer Ein-
schränkung ihrer Studienmöglichkeiten und damit zu einer Einschränkung
der Berufswahlfreiheit. Hintergrund ist die 2003 gefasste Entscheidung der
Kultusministerkonferenz, den Bachelor- als Regelabschluss zu definieren. In
der Konsequenz sind in den meisten Landeshochschulgesetzen bzw. in den
Prüfungs- oder Studienordnungen der Hochschulen Zulassungsbeschränkun-
gen zum Masterstudium verankert.

Neben den formalen Beschränkungen beim Übergang in den Master ist die
Aufnahme eines Masterstudiums zudem direkt vom finanziellen Hintergrund
der Bachelor-Absolventinnen und -Absolventen abhängig. Eine besondere
Rolle spielen hierbei die Unsicherheit der BAföG-Förderung im Masterstu-
dium insbesondere bei nichtkonsekutiven Masterstudiengängen sowie die in
einzelnen Landeshochschulgesetzen geforderten höheren Studiengebühren.
Darüber hinaus bestehen offensichtlich auch geschlechtsspezifische Hürden.
So wurden 2004 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 48 Prozent der
Bachelor-Abschlüsse von Frauen abgelegt, aber nur 36 Prozent der Master-
Abschlüsse.

4. Die Qualität und Gleichwertigkeit der Hochschulabschlüsse in Deutschland
soll durch das von Kultusministerkonferenz und Hochschulrektorenkonfe-
renz getragene Akkreditierungssystem sichergestellt werden. Bedingt durch
seine strukturelle Ausgestaltung hat das Akkreditierungssystem bislang aller-
dings kaum Impulse für eine qualitative Studienreform geben können. Die
checklistenartige Überprüfung von Strukturreforminstrumenten wie Modul-
oder Leistungspunktsystemen lässt Diskussionen über inhaltliche Studien-
reformen, Lehr- und Lernformen sowie geschlechtergerechte Studiengestal-
tung in Anbetracht begrenzter Mittel in den Hintergrund treten. Die Praxis-
orientierung von Studiengängen wird vielfach auf eine sog. Beschäftigbarkeit
(employability) der Absolventinnen und Absolventen reduziert, es droht eine
reine Ausrichtung der Studieninhalte auf ihre kurzfristige ökonomische Ver-
wertbarkeit. Die Spielräume für eine kritische Wissenschaft werden zuse-
hends kleiner. Den Absolventinnen und Absolventen fehlt es an gesellschaft-
licher Handlungs- und Kritikfähigkeit. Der politische Gestaltungsspielraum
des Akkreditierungsrates gegenüber den Bundesländern einerseits sowie den
Akkreditierungsagenturen andererseits reicht bei weitem nicht aus, um eine
aktive Rolle in der Förderung qualitativer Studienreformen zu übernehmen.

Der Akkreditierungsrat ist hierüber hinaus in seiner eingeschränkten poli-
tischen Handlungsfähigkeit nicht in der Lage, die Gleichwertigkeit der Stu-
dienabschlüsse sicherzustellen. Das – international unübliche – zweistufige
deutsche Akkreditierungssystem mit dezentralen, privatwirtschaftlich orga-
nisierten Akkreditierungsagenturen hat zu einer Vielzahl unterschiedlicher
Kritierienkataloge für die Akkreditierung von Studiengängen geführt, deren
Verbindlichkeit vielfach nicht eindeutig geklärt ist. Das weitgehende Fehlen
von Maßstäben für die demokratische Beteiligung aller Interessengruppen
(Lehrende, Lernende, Berufspraxis, Bundesländer) in den Agenturen beein-
trächtigt darüber hinaus die Transparenz der Entscheidungsfindung und

bevorteilt diejenigen Gruppen, die über umfangreiche personelle und finan-
zielle Ressourcen sowie politische Netzwerke verfügen. Die marktvermit-

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telte Regulierung des Akkreditierungssystems hat außerdem zu einem
Dumping-Wettbewerb der Akkreditierungsagenturen geführt, in dem eine
umfassende fachlich-inhaltliche Begutachtung jedes einzelnen Studiengan-
ges in allen Akkreditierungsverfahren nicht mehr gewährleistet werden kann;
dies gilt insbesondere für so genannte Cluster-Akkreditierungen. Diese Situa-
tion gefährdet die Anerkennung von Studienleistungen und damit die studen-
tische Mobilität inner- und außerhalb Deutschlands.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. auf Grundlage der nach der Föderalismusreform beim Bund verbliebenen
Kompetenzen für die Hochschulzulassung dem Deutschen Bundestag ein
Hochschulzulassungsgesetz zur Beratung vorzulegen. Mit diesem Gesetz
sollen die mit der 7. HRG-Novelle geschaffenen Möglichkeiten zum Ausbau
individueller Auswahlverfahren an den Hochschulen zurückgenommen wer-
den. Bei einem Mangel an Studienplatzkapazitäten sollen stattdessen bundes-
weite Regelungen greifen, die die Möglichkeit einer gezielten Förderung
bisher unterrepräsentierter Gruppen an den Hochschulen beinhalten. In
Zusammenarbeit mit den Ländern soll hierzu die Rolle der Zentralstelle für
die Vergabe von Studienplätzen gestärkt und das dortige Vergabeverfahren
reformiert werden;

2. auf Grundlage der nach der Föderalismusreform beim Bund verbliebenen
Kompetenzen für die Hochschulabschlüsse dem Deutschen Bundestag ein
Hochschulabschlussgesetz zur Beratung vorzulegen. In diesem Gesetz soll
der Master als Regelabschluss definiert werden, um Zugangsbeschränkungen
beim Übergang vom Bachelor in den Master auszuschließen. Weiter sollen in
diesem Gesetz neue Regelungen zur Akkreditierung verankert werden, die
eine Qualitätsentwicklung von Studium und Lehre fördern und die bundes-
weite Gleichwertigkeit der Studienabschlüsse sicherstellen. Dazu muss der
Akkreditierungsrat gestärkt werden, wobei eine gleichberechtigte Repräsen-
tanz aller beteiligten Interessengruppen sicherzustellen ist. Statt durch Markt-
und Wettbewerbsmechanismen gesteuert zu werden, sollen die Akkreditie-
rungsverfahren in öffentlicher Verantwortung liegen und nach demokratisch
bestimmten Maßstäben durchgeführt werden. Um die fachspezifischen Qua-
litätsdebatten zu bündeln und fachliche Expertise im Akkreditierungssystem
angemessen zu verankern, soll der Akkreditierungsrat Fachbeiräte einrichten,
welche auch eine vergleichbare fachliche Beurteilung der Studiengänge
gewährleisten;

3. im Rahmen des geplanten Hochschulpakts 2020 vorrangig auf eine Auswei-
tung der Studienplatzkapazitäten hinzuwirken und eine Fortführung erfolg-
reicher Hochschul- und Wissenschaftsprogramme – insbesondere des Pro-
gramms zur Förderung von Frauen in Forschung und Lehre – auf neuer
Grundlage sicherzustellen. Der Bund bringt in den Gesprächen mit den Län-
dern zur Geltung, dass Zugangsbeschränkungen und Auswahlverfahren bei
der Hochschulzulassung nur als vorübergehende Maßnahmen zulässig sind
und definiert gemeinsam mit den Ländern, innerhalb welchen Zeitraums ein
Ausgleich der derzeit bestehenden Kapazitätslücke möglich ist sowie welche
Maßnahmen ergriffen werden, um dieses Ziel zu erreichen. Ferner soll ge-
meinsam mit den Ländern auf eine bundesweit einheitliche Regelung zur
Öffnung der Hochschulen nach einer beruflichen Ausbildung hingewirkt
werden.

Berlin, den 27. September 2006
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Drucksache 16/2796 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Begründung

Mit der beschlossenen Föderalismusreform ändern sich die Kompetenzen von
Bund und Ländern im Hochschulbereich. Der Bund ist künftig im Rahmen der
konkurrierenden Gesetzgebung für die Bereiche Hochschulzulassung und
Hochschulabschlüsse zuständig. Diese Kompetenzen könnten und sollten als
Impuls zur Hochschulöffnung und zur Qualitätsentwicklung an den Hochschu-
len genutzt werden. Entscheidend sind dabei insbesondere der Abbau von spe-
zifischen Benachteiligungen beim Hochschulzugang und der Ausbau der Stu-
dienplatzkapazitäten, die Sicherstellung eines offenen Übergangs vom Bachelor
in den Master sowie eine Reform des Akkreditierungssystems, die sich an den
Maßstäben von Transparenz und demokratischer Beteiligung aller Interessen-
gruppen orientiert.

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