BT-Drucksache 16/2378

Aufnahme libanesischer Flüchtlinge durch die Bundesrepublik Deutschland

Vom 8. August 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2378
16. Wahlperiode 08. 08. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dagdelen und der Fraktion
DIE LINKE.

Aufnahme libanesischer Flüchtlinge durch die Bundesrepublik Deutschland

Derzeit sind nach Angaben des UNHCR insgesamt 900 000 Menschen aus dem
Libanon auf der Flucht vor Angriffen der israelischen Armee. 800 000 Libane-
sen sind in den Norden des Libanon oder nach Beirut geflohen, etwa 100 000
nach Syrien. Zypern hat bereits signalisiert, dass es mit dem derzeitigen An-
sturm von Flüchtlingen überfordert ist. Sollte die Lage so bleiben oder weiter es-
kalieren, werden die von den Flüchtlingen derzeit genutzten Zufluchtsorte selbst
bedroht oder zumindest langfristig eine ausreichende Versorgung der Flücht-
linge nicht sichergestellt sein. Bereits jetzt gibt es Probleme in der Unterbrin-
gung und Versorgung der Flüchtlinge. Die Entstehung von dauerhaften Flücht-
lingslagern wird die Region weiter destabilisieren. Pro asyl hat in einer
Stellungnahme darauf hingewiesen, dass der Libanon mit der Versorgung hun-
derttausender Flüchtlinge überfordert sei.

Die Forderung von pro asyl nach Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Libanon
im Sinne der EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz wurde jedoch von
Innenpolitikern aus den Koalitionsfraktionen zurückgewiesen. Unter anderem
äußerte der Bundesminister des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, gegenüber dem
„SPIEGEL“ vom 31. Juli 2006, er hielte es für völlig verfehlt, wenn Deutsch-
land oder einzelne Bundesländer von sich aus eine Aufnahme von Flüchtlingen
anböten. Derzeit sei nicht von einem Massenansturm auszugehen, der Voraus-
setzung für eine vorübergehende Gewährung von Schutz sei. Mit dieser Formu-
lierung verweist der Bundesminister des Innern auf die auch von pro asyl
genannte EU-Richtlinie zum „vorübergehenden Schutz im Falle eines Massen-
zustroms von Vertriebenen“ (2001/55/EG vom 20. Juli 2001).

Angesichts der zahlreichen von den Mitgliedsstaaten der EU ergriffenen Maß-
nahmen zur Bekämpfung der „illegalen Migration“ erscheint es andererseits je-
doch zweifelhaft, dass es überhaupt zu einem solchen Massenzustrom kommen
könnte. Durch die genannten Maßnahmen, so kritisieren diverse Flüchtlings-
und Menschenrechtsorganisationen, gibt es fast keine Möglichkeit für Flücht-
linge, auf legalem Weg in die EU zu gelangen. Bei der von der „Europäischen
Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“ (FRONTEX)
koordinierten Aktion auf und vor den Kanarischen Inseln beispielsweise ist es

gerade ein zentrales Ziel, die Flüchtlinge an der Überfahrt von der afrikanischen
Küste zu hindern. Ähnliche Bilder könnte es auch zwischen Zypern und dem
Libanon geben, wenn libanesische Flüchtlinge auf diesem Wege versuchen soll-
ten, in die EU zu kommen. Die genannte EU-Richtlinie käme nach dieser Logik
niemals zur Anwendung, wenn die EU-Maßnahmen zur Verhinderung einer
Massenflucht nach Europa erfolgreich sind.

Drucksache 16/2378 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Warum sind durch die Bundesregierung bisher keine Maßnahmen zur Auf-
nahme libanesischer Flüchtlinge nach dem Aufenthaltsgesetz (§ 23) bzw.
der EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz ergriffen worden?

2. Rechnet die Bundesregierung in naher Zukunft mit der Anwendung der
Richtlinie 2001/55/EG, und wie beziffert die Bundesregierung in diesem
Fall ihre Aufnahmekapazitäten?

3. Wie viele Flüchtlinge haben bisher in Zypern und Malta Schutz gefunden,
und welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, um beide Länder zu
unterstützen?

4. Welche konkreten Maßnahmen zur Aufnahme und zum Schutz von Flücht-
lingen aus dem Libanon in anderen Mitgliedstaaten der EU sind der Bundes-
regierung bekannt?

5. Welche konkreten Schritte haben die Bundesregierung oder andere Mit-
gliedstaaten der EU in den zuständigen EU-Gremien unternommen, um die
Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Libanon zu gewährleisten?

6. Sieht die Bundesregierung die Gefahr, dass die Möglichkeit des vorüberge-
henden Schutzes nicht wahrgenommen werden kann, weil die Betroffenen
keine Möglichkeit haben, in die EU zu gelangen und sich deshalb kein
„Massenzustrom“ ergeben wird, solange die EU-Richtlinie zum vorüber-
gehenden Schutz keine Aufnahme- und Einreisemöglichkeit bietet?

7. Sieht die Bundesregierung einen generellen Widerspruch darin, dass die
EU-Richtlinie zumindest nach der Auffassung des Bundesministers des
Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, u. a. einen „Massenzustrom“ von Flücht-
lingen voraussetzt, der aber durch das Visa- und Grenzregime der EU gerade
verhindert wird, und ist sie bereit, vor diesem Hintergrund vorrangig natio-
nales Recht zur humanitären Hilfe anzuwenden (§ 23 AufenthG) und sich
im Rahmen der EU für eine Änderung der Richtlinie zum vorübergehenden
Schutz einzusetzen, damit diese auch praktisch anwendbar wird?

8. Welche konkreten Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen, um den
Flüchtlingen vor Ort zu helfen, und in welcher Höhe sind hierfür finanzielle
Mittel bereitgestellt worden bzw. ist eine solche Bereitstellung geplant?

9. Wie schätzt die Bundesregierung die Aufnahme- und Versorgungsmöglich-
keiten in der Region ein, betreffend die Zahl der Flüchtlinge, die tatsächlich
dauerhaft versorgt und betreut werden können, und den Zeitraum über den
das möglich ist?

10. Welche konkreten Erkenntnisse hat die Bundesregierung über Planungen
zum Einsatz von FRONTEX im Zusammenhang mit der möglichen Flucht
von Libanesen in Mitgliedstaaten der EU?

11. Teilt die Bundesregierung die Befürchtung, libanesische Flüchtlinge könn-
ten mit der Begründung abgewiesen werden, durch bereits errichtete Flücht-
lingslager gäbe es eine landesinterne Fluchtalternative?

12. Teilt die Bundesregierung die Befürchtung, libanesische Flüchtlinge könn-
ten mit der Begründung abgewiesen werden, durch Flüchtlingslager in Sy-
rien habe es bereits die Möglichkeit der Aufnahme in einem Drittland gege-
ben, wie dies bei Flüchtlingen aus dem Kosovo 1999 der Fall war?

13. Welche Maßnahmen sind geplant, um wenigstens besonders Schutzbedürf-
tigen wie beispielsweise traumatisierten oder unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlingen Zugang zu Flüchtlingsschutz in Deutschland bzw. innerhalb

der EU zu gewähren?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/2378

14. Wird die Bundesregierung zumindest eine unkomplizierte Aufnahme von
Verwandten von in Deutschland lebenden libanesischen Staatsbürgerinnen/
Staatsbürger bzw. von Deutschen libanesischer Herkunft ermöglichen oder
in geeigneter Weise befördern, und wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 4. August 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.