BT-Drucksache 16/2351

Widerrufsverfahren gegenüber irakischen Flüchtlingen in Deutschland

Vom 3. August 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2351
16. Wahlperiode 03. 08. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte und der Fraktion DIE LINKE.

Widerrufsverfahren gegenüber irakischen Flüchtlingen in Deutschland

Flüchtlingsinitiativen klagen über eine sukzessive Verschlechterung der Auf-
enthaltssituation irakischer Flüchtlinge in Deutschland.

Die Initiative „Freie Flüchtlingsstadt Nürnberg“ weist in einem Schreiben, das
den Fragestellerinnen/Fragestellern vorliegt, darauf hin, dass das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nach dem Irak-Krieg damit begonnen
habe, den Flüchtlingsstatus irakischer Flüchtlinge zu widerrufen. Dabei sei
„keine Prüfung von Einzelfällen zu erkennen“. Viele Irakerinnen und Iraker er-
hielten die Mitteilung, dass beabsichtigt sei, ihre Aufenthaltserlaubnis nicht zu
verlängern. Die Stadt Nürnberg etwa fordere die Flüchtlinge auf auszureisen
und drohe Abschiebungen an.

Auch Pro Asyl beklagt „schematische“ Widerrufsverfahren, insbesondere ge-
genüber Flüchtlingen aus dem Irak, mit denen Betroffene „abschiebungsreif“
gemacht würden, obwohl sich die Menschenrechts- und Sicherheitslage im Irak
in jüngster Zeit eher verschlechtert habe (vgl. „Widerrufsverfahren: Flücht-
lingsschutz mit Verfallsdatum?“, Broschüre von Pro Asyl vom August 2005).
Die deutsche Widerrufspraxis sei „europaweit einmalig“, andere Länder (z. B.
Großbritannien, Österreich, Schweiz) würden nur in Ausnahmefällen einen ein-
mal erteilten Flüchtlingsstatus widerrufen. Besonders bitter sei es, dass Wider-
rufsverfahren oft anlässlich eines Antrages auf Familienzusammenführung oder
eines Einbürgerungsantrages eingeleitet würden, so dass anerkannte Flücht-
linge aus Angst vor einem Widerruf der Flüchtlingsanerkennung immer häufi-
ger davon absähen, eine Einbürgerung zu beantragen. Angesichts der stark
rückläufigen Asylantragszahlen und der zugleich enorm gestiegenen Zahl der
Widerrufsverfahren liege die Vermutung nahe, dass Widerrufsverfahren vor al-
lem der „Auslastung einer Behörde und deren Existenzsicherung“ dienten (vgl.
ebd., S. 12). Es handele sich um eine „Arbeitsbeschaffungsmaßnahme“ für das
Personal des Asyl-Bundesamtes – mit dramatischen Folgen für die Betroffenen,
so Pro Asyl.

Für die irakischen Flüchtlinge stellt diese Entwicklung eine enorme psychische
Belastung dar. Die Situation im Irak ist weiterhin von Gewalt geprägt, die von
allen Seiten ausgeht. Angesichts dieser Situation erscheint die Verschlechte-
rung des Aufenthaltsstatus irakischer Staatsangehöriger, die sich in der Bundes-
republik Deutschland aufhalten, aus Sicht der Fragestellerinnen und Fragestel-
ler unangemessen.

Von zunehmenden Widerrufsverfahren sind z. B. auch Flüchtlinge aus dem
Kosovo (Serbien) und aus Afghanistan betroffen. Die Neuregelung des § 73
Abs. 2a des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) habe zu einer Art „Institutiona-
lisierung des Widerrufs“ geführt, so Pro Asyl.

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Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in einer Grundsatzentschei-
dung (1 C 21/04 vom 1. November 2005) die rechtlichen Voraussetzungen
eines Widerrufs näher bestimmt.

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) jedoch,
dessen Aufgabe es unter anderem ist, über die Auslegung und Anwendung der
Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) zu wachen und mit dem zusammenzuar-
beiten sich die Unterzeichnerstaaten der GFK, also auch Deutschland, ver-
pflichtet haben, stellt in einem Bilanzpapier vom März 2006 zur Umsetzung
des Zuwanderungsgesetzes fest, dass die oben benannte Grundsatzentschei-
dung des BVerwG „den Anforderungen der GFK nicht vollständig gerecht
wird“. Während das BVerwG der Auffassung ist, dass im Rahmen des Wider-
rufsverfahrens die allgemeine Lage im Herkunftsland asylrechtlich irrelevant
sei, betont der UNHCR, dass ein Widerruf unter anderem nur dann in Betracht
kommt, „wenn der Flüchtling in Sicherheit und Würde zurückkehren kann“. Es
müsse geprüft werden, „ob dem Flüchtling angesichts der Gesamtsituation eine
Rückkehr auch tatsächlich zumutbar ist“. Die „reduzierte Sichtweise der Wi-
derrufsvoraussetzungen in Deutschland“ führe hingegen dazu, dass „in der
Konsequenz (…) Flüchtlingen grundlegende Konventionsrechte vorzeitig ent-
zogen“ würden. Auch subsidiärer Schutz würde unter anderem angesichts des
„extrem hohen Gefährdungsmaßstabs“ in der Praxis und Rechtsprechung oft
nicht gewährt. Obwohl Abschiebungen aus tatsächlichen Gründen unmöglich
seien, verschlechtere sich im Ergebnis der Rechtsstatus der Betroffenen gravie-
rend, „ihr Flüchtlingsschicksal hat damit in der Realität kein Ende gefunden“.
Die Empfehlung des UNHCR vom März 2006 lautet: „Um eine völkerrechts-
konforme Anwendung zu gewährleisten, die zudem eine angemessene dauer-
hafte Lösung für das Schicksal anerkannter Flüchtlinge erlaubt, erscheint eine
Gesetzesänderung erforderlich. Diese sollte die von UNHCR dargelegten
Voraussetzungen eines Widerrufs als Tatbestandskriterien im deutschen Recht
verankern.“

Pro Asyl fordert zudem eine Änderung des § 26 Abs. 3 AufenthG, so dass aner-
kannten Flüchtlingen nach drei Jahren eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen
wäre.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Irakerinnen und Iraker leben in der Bundesrepublik Deutschland?

a) Wie viele davon sind als Asylberechtigte (Artikel 16a des Grundgesetzes
– GG) anerkannt?

b) Wie viele davon sind als Flüchtlinge im Sinne von § 60 Abs. 1 des Auf-
enthaltsgesetzes (AufenthG) anerkannt?

c) Wie viele davon sind subsidiär Schutzberechtigte im Sinne von § 60
Abs. 2 bis 7 AufenthG?

d) Wie viele von ihnen befinden sich noch im Asylverfahren?

e) Wie viele von ihnen verfügen lediglich über eine Duldung oder eine
andere Bescheinigung (z. B. Grenzübertrittsbescheinigung), weil tatsäch-
liche Gründe einer Abschiebung entgegenstehen (bitte nach Duldungen
und anderen Bescheinigungen sowie nach Bundesländern differenzie-
ren)?

f) Wie viele von ihnen sind vollziehbar ausreisepflichtig, wie vielen wurde
die Abschiebung bereits angedroht (bitte nach Bundesländern differen-
zieren)?

g) Wie viele von ihnen sind seit dem 1. Januar 2000 abgeschoben worden
oder ausgereist (bitte nach Jahr und Bundesländern differenzieren)?

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2. Welchen Aufenthaltsstatus haben die in Deutschland lebenden Irakerinnen
und Iraker, und seit wann halten sie sich in der Bundesrepublik Deutsch-
land auf?

Bitte nach Aufenthaltsstatus (Niederlassungserlaubnis, Aufenthaltserlaub-
nis, Aufenthaltsbefugnis (alt), Duldung, Aufenthaltsgestattung, sonstige
Bescheinigungen) sowie nach Bundesländern differenzieren.

3. Wie viele Widerrufsverfahren der Asylberechtigung, der Flüchtlingsaner-
kennung oder der Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigte in Bezug
auf irakische Flüchtlinge wurden seit dem 1. Januar 2000 jährlich eingelei-
tet (bitte nach Jahr und Status differenzieren)?

4. Wie viele Irakerinnen und Iraker haben infolge der Widerrufsverfahren seit
dem 1. Januar 2000 ihre Asylberechtigung, Flüchtlingsanerkennung oder
Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigte verloren, und wie viele dieser
Fälle sind bereits rechtskräftig (bitte nach Jahr und Status differenzieren)?

5. In wie vielen Fällen hat der Widerruf der Asylberechtigung, Flüchtlings-
anerkennung oder Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigte bei iraki-
schen Staatsangehörigen seit dem 1. Januar 2000 auch zum Widerruf oder
zur Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels geführt (bitte nach Status, Jahr
und Bundesländern differenzieren)?

6. Wie vielen irakischen Flüchtlingen, bei denen die Asyl- oder Flüchtlings-
anerkennung widerrufen wurde, wurde seit 2000 nach anderen Bestim-
mungen des Aufenthaltsgesetzes eine Aufenthaltserlaubnis oder Nieder-
lassungserlaubnis oder aber eine Duldung aufgrund rechtlicher Abschie-
bungshindernisse erteilt (bitte nach Jahr, Status und Bundesländern
differenzieren)?

7. Gibt es bundeseinheitliche oder länderspezifische Regelungen für den auf-
enthaltsrechtlichen Umgang mit irakischen Staatsangehörigen, deren Asyl-
berechtigung, Flüchtlingsanerkennung oder Anerkennung als subsidiär
Schutzberechtigte widerrufen worden ist, und wenn ja, was sehen diese
vor, und wenn nein, beabsichtigt die Bundesregierung entsprechende Vor-
gaben etwa im Rahmen einer Verwaltungsvorschrift zu erlassen?

8. Ist es aus Sicht der Bundesregierung angezeigt, angesichts des Ausmaßes
an Gewalt und Verfolgung, die im Irak sowohl von staatlichen und nicht-
staatlichen Akteuren sowie von Seiten der Besatzungsmächte ausgeübt
werden, den Flüchtlingsstatus irakischer Flüchtlinge zu widerrufen (bitte
begründen)?

9. Wie beurteilt die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Entwicklun-
gen im Irak die Möglichkeit, abgelehnte irakische Asylbewerber und/oder
irakische Staatsangehörige, deren Asylberechtigung, Flüchtlingsanerken-
nung oder Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigte widerrufen wor-
den ist, in absehbarer Zeit in den Irak abschieben zu können?

10. Stellen die gegenwärtigen Verhältnisse im Irak nach Auffassung der
Bundesregierung ein unverschuldetes Ausreisehindernis für die Betroffe-
nen im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthaltsG dar und ist sie der Auf-
fassung, dass die Betroffenen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5
AufenthG erhalten sollten, um Kettenduldungen zu vermeiden (bitte be-
gründen)?

11. Wie hat sich die Personalstruktur des BAMF in den letzten fünfzehn Jahren
entwickelt (Aufbau der Behörde, Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter, in welchen Bereichen)?

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12. Wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BAMF sind seit dem 1. Ja-
nuar 2000 ausschließlich oder zum Teil mit Widerrufsverfahren befasst
(bitte nach Jahr und prozentualem Anteil am Gesamtpersonal im Bereich
Asylverfahren aufschlüsseln)?

13. Wie viele Klagen gegen erfolgte Widerrufe wurden seit dem 1. Januar
2000 erhoben, wie viele sind noch anhängig, und wie war der Ausgang der
bereits entschiedenen Verfahren (bitte differenzieren nach Jahr und Staats-
angehörigkeit)?

14. Wie beurteilt die Bundesregierung die Verhältnismäßigkeit der umfangrei-
chen, für die Betroffenen extrem belastenden und für Behörden und Ge-
richte höchst arbeitsaufwändigen Widerrufsverfahren in Anbetracht der
tatsächlichen Abschiebungsmöglichkeiten, und ist eine entsprechende
gesetzliche Korrektur beabsichtigt, wenn ja, welche, wenn nein, warum
nicht?

15. Hat die Bundesregierung Kenntnisse über die Widerrufspraxis in anderen
europäischen Ländern, sowohl allgemein als auch in Hinsicht auf irakische
Flüchtlinge, wenn ja, welche, und wenn nein, warum nicht?

16. Wird die Bundesregierung im Rahmen der Vereinheitlichung des Asylver-
fahrens in der Europäischen Union die deutsche Widerrufspraxis der Praxis
der Mehrheit der anderen Mitgliedstaaten der EU anpassen, und wenn
nein, warum nicht?

17. Wird die Bundesregierung Initiativen ergreifen, um die vom UNHCR ge-
forderten Gesetzesänderungen für eine völkerrechtskonforme Anwendung
der GFK sicherzustellen, wenn ja, welche, wenn nein, warum nicht, und
wie wäre eine solche Haltung mit der Verpflichtung zur Zusammenarbeit
mit dem UNHCR und mit dem Völkerrecht vereinbar?

18. Wird die Bundesregierung Initiativen ergreifen, um die von Pro Asyl ge-
forderte Gesetzesänderung vorzunehmen, wonach anerkannten Flüchtlin-
gen nach drei Jahren eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden sollte,
und wenn nein, warum nicht?

19. Wird die Bundesregierung Initiativen ergreifen, um ein Bleiberecht für die-
jenigen zu schaffen, denen die Flüchtlingsanerkennung bereits widerrufen
wurde, die aber dennoch nicht abgeschoben werden können oder konnten,
wenn ja, welche, wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 31. Juli 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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