BT-Drucksache 16/2188

Fehlende Entschädigung für NS-Opfer

Vom 7. Juli 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2188
16. Wahlperiode 07. 07. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Kersten Naumann und
der Fraktion DIE LINKE.

Fehlende Entschädigung für NS-Opfer

Mehr als 60 Jahre nach Ende der Nazidiktatur warten immer noch Opfer von
NS-Verbrechen bzw. deren Angehörige auf Entschädigung. Mit der „Stiftung
Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, die im Jahr 2000 gegründet wurde,
war der Versuch unternommen worden, einen Schlussstrich zu ziehen. Dass da-
bei weniger das Interesse an Entschädigung von NS-Opfern im Vordergrund
stand, sondern das Interesse, Planungssicherheit für die deutsche Wirtschaft zu
erreichen, ist oftmals betont worden.

Auch im Stiftungsgesetz selbst wird deutlich, dass nun Schluss sein solle mit der
finanziellen Verantwortung der BRD. So heißt es, „Leistungen für erlittenes
nationalsozialistisches Unrecht“ könnten „nur nach diesem Gesetz beantragt
werden“, und wer Leistungen erhält, muss „auf jede darüber hinausgehende
Geltendmachung von Forderungen … im Zusammenhang mit nationalsozialis-
tischem Unrecht … unwiderruflich“ verzichten (§ 16 des Stiftungsgesetzes).

Zu den Ungerechtigkeiten dieser Regelung gehört, dass keineswegs alle Opfer
der faschistischen Terrorherrschaft entschädigt werden sollen, sondern nur eine
kleine Auswahl. Schwierigkeiten des Nachweisverfahrens und die Setzung einer
(mittlerweile abgelaufenen) Antragsfrist kommen erschwerend hinzu.

Mehr als 60 Jahre nach dem Sieg über den Faschismus bleiben zahlreiche
Opfergruppen weiterhin von Entschädigungszahlungen ausgeschlossen, wäh-
rend etwa Angehörige der SS umstandslos Rentenzahlungen erhalten. Auch
deutschen Kriegsversehrten blieben in aller Regel ein derart langes Warten und
entwürdigendes Antragsverfahren wie den NS-Opfern erspart. Die Täter sind
damit besser gestellt als die Opfer.

Zu den nicht entschädigten Opfergruppen gehören beispielsweise jüdische
Gemeinden, die von den Nationalsozialisten gezwungen worden waren, die
Kosten für die Deportation ihrer Mitglieder zu entrichten. Keine Entschädigung
haben bislang Opfer, Überlebende oder Angehörige von Opfern erhalten, die im
Rahmen von völkerrechtswidrigen Massenerschießungen ermordet worden
waren, sofern es sich um nicht „typisches“ NS-Unrecht gehandelt hat. Von Ent-
schädigungszahlungen ausgeschlossen sind Kriegsgefangene, obwohl diesen

oftmals sowohl formell wie auch materiell der Status als Kriegsgefangene sowie
die damit verbundenen Rechte verweigert worden waren, was vor allem im Fall
sowjetischer Kriegsgefangener auch Ausdruck nationalsozialistischer Ideologie
war.

Keine Entschädigung haben Slowenen und Sloweninnen erhalten, die im Rah-
men der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik „aus“- und „abgesie-
delt“ worden sind nach Kroatien, Serbien und in das Deutsche Reich oder auf

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andere Art Opfer der Entnationalisierungsmaßnahmen geworden sind. Seit 1998
erhebt die Slowenische Vereinigung der Okkupationsopfer 1941–1945 in Kranj/
Slowenien Forderungen nach Entschädigungen.

Das Stiftungsgesetz selbst sieht keine Entschädigungen für jene Zwangsarbeiter
vor, die in ihrem Heimatland Zwangsarbeit leisten mussten, ebenso wenig für
jene, die in der Landwirtschaft oder in Haushalten zwangsverpflichtet wurden.
In einzelnen Ländern wurde im Rahmen der Öffnungsklausel auch diesen
Opfergruppen Entschädigung gewährt, was aber zur Verringerung der Entschä-
digungssummen für die Gesamtgruppe der Anspruchsberechtigten führte.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Entschädigungs-/Schadenersatzklagen von Überlebenden, deren
Angehörigen oder Hinterbliebenen von deutschen Kriegsverbrechen oder
sonstigen NS-Verbrechen, die während des Zweiten Weltkriegs im Ausland
begangen wurden, sind derzeit weltweit gerichtlich anhängig (bitte nach
jeweiligen Herkunftsländern der Klägerinnen und Kläger sowie Art und
Datum des NS-Verbrechens differenzieren)?

2. a) Welche Entschädigungen sind bislang wie vielen Überlebenden (oder An-
gehörigen) deutscher Kriegsverbrechen oder anderer NS-Verbrechen
durch die Bundesrepublik geleistet worden?

b) Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Zahl jener Opfer von Kriegs-
verbrechen, die bislang keine Entschädigung erhalten haben?

c) Hat die Bundesregierung hierzu Auskünfte von NS-Opferverbänden oder
Regierungen der von der Wehrmacht überfallenen Staaten eingeholt, wenn
ja, welcher Art waren die Auskünfte, wenn nein, warum nicht?

d) Beabsichtigt die Bundesregierung, diesen NS-Opfern noch Entschädigun-
gen zu gewähren, und wenn nein, warum nicht?

3. a) Welche Entschädigungen sind bislang den sowjetischen Kriegsgefange-
nen geleistet worden, denen vom Dritten Reich kriegsvölkerrechtswidrig
formal oder materiell der Status als Kriegsgefangene verweigert wurde?

b) Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Zahl jener sowjetischen Kriegs-
gefangenen ein, die trotz faktischer Verweigerung des Status als Kriegs-
gefangene und vielfacher Misshandlung bislang keine Entschädigung
erhalten haben?

c) Hat die Bundesregierung hierzu Auskünfte von NS-Opferverbänden oder
Regierungen der von der Wehrmacht überfallenen Staaten bzw. der Nach-
folgestaaten der Sowjetunion eingeholt; wenn ja, welcher Art waren die
Auskünfte, wenn nein, warum nicht?

d) Beabsichtigt die Bundesregierung, diesen NS-Opfern noch Entschädigun-
gen zu gewähren, und wenn nein, warum nicht?

4. a) Welche Entschädigungsleistungen sind bislang jenen Kriegsgefangenen
geleistet worden, die kriegsvölkerrechtswidrig Zwangsarbeit im Rüs-
tungsbereich leisten mussten?

b) Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Zahl jener Kriegsgefangenen
ein, die bislang keine Entschädigung erhalten haben?

c) Hat die Bundesregierung hierzu Auskünfte von NS-Opferverbänden oder
Regierungen der von der Wehrmacht überfallenen Staaten eingeholt;
wenn ja, welcher Art waren die Auskünfte, wenn nein, warum nicht?

d) Beabsichtigt die Bundesregierung, diesen NS-Opfern noch Entschädigun-

gen zu gewähren, und wenn nein, warum nicht?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/2188

5. a) Welchen jüdischen Gemeinden, die während des Zweiten Weltkriegs Geld
für die Deportation ihrer Mitglieder zahlen mussten, wurden diese Beträge
zurückgezahlt?

b) Welchen jüdischen Gemeinden wurden diese Beträge nicht zurückgezahlt,
und warum nicht?

c) Welche jüdischen Gemeinden erheben derzeit die Forderung nach Rück-
zahlung dieser Beträge, und wie geht die Bundesregierung damit um?

d) Auf welche Gesamtsumme belaufen sich die seinerzeit für Deportations-
kosten vom Deutschen Reich oder seinen Beauftragten eingezogenen und
bislang nicht zurückgezahlten Beträge unter Einrechnung der seither fällig
gewordenen Verzinsung?

6. a) Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Zahl jener Zwangsarbeiterin-
nen und Zwangsarbeiter, deren Entschädigungsanträge an die Stiftung
Erinnerung, Verantwortung und Zukunft deswegen abgelehnt worden
sind, weil sie aufgrund von Sprach- und Nachweisproblemen nicht ausrei-
chend dokumentiert oder nicht fristgemäß eingereicht worden sind, und
welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung hieraus?

b) Hat die Bundesregierung hierzu Auskünfte von NS-Opferverbänden oder
Regierungen der von der Wehrmacht überfallenen Staaten eingeholt;
wenn ja, welcher Art waren die Auskünfte, wenn nein, warum nicht?

c) Beabsichtigt die Bundesregierung, diesen NS-Opfern noch Entschädigun-
gen zu gewähren, und wenn nein, warum nicht?

7. a) Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Zahl jener Zwangsarbeiterin-
nen und Zwangsarbeiter, die in ihren Heimatländern von den Deutschen
zur Zwangsarbeit verpflichtet worden waren und die bislang keine Ent-
schädigung erhalten haben?

b) Hat die Bundesregierung hierzu Auskünfte von NS-Opferverbänden oder
Regierungen der von der Wehrmacht überfallenen Staaten eingeholt;
wenn ja, welcher Art waren die Auskünfte, wenn nein, warum nicht?

c) Beabsichtigt die Bundesregierung, diesen NS-Opfern noch Entschädigun-
gen zu gewähren, und wenn nein, warum nicht?

8. a) Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Zahl jener Zwangsarbeiter, die
an ihrem Wohnort zur Zwangsarbeit verpflichtet worden waren und bis-
lang keine Entschädigung erhalten haben?

b) Hat die Bundesregierung hierzu Auskünfte von NS-Opferverbänden oder
Regierungen der von der Wehrmacht überfallenen Staaten eingeholt;
wenn ja, welcher Art waren die Auskünfte, wenn nein, warum nicht?

c) Beabsichtigt die Bundesregierung, diesen NS-Opfern noch Entschädigun-
gen zu gewähren, und wenn nein, warum nicht?

9. a) Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Zahl jener Zwangsarbeiter ein,
die im Bereich der Landwirtschaft und als Haushaltshilfen eingesetzt wor-
den waren und bislang keine Entschädigung erhalten haben?

b) Hat die Bundesregierung hierzu Auskünfte von NS-Opferverbänden oder
Regierungen der von der Wehrmacht überfallenen Staaten eingeholt;
wenn ja, welcher Art waren die Auskünfte, wenn nein, warum nicht?

c) Beabsichtigt die Bundesregierung, diesen NS-Opfern noch Entschädigun-
gen zu gewähren, und wenn nein, warum nicht?

Drucksache 16/2188 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
10. a) Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Zahl der Sloweninnen und
Slowenen ein, die im Rahmen der nationalsozialistischen Germani-
sierungspolitik „aus-“ und „abgesiedelt“ worden waren und die bislang
keine Entschädigungszahlungen erhalten haben?

b) Hat die Bundesregierung hierzu Auskünfte von NS-Opferverbänden
oder der slowenischen Regierung eingeholt; wenn ja, welcher Art waren
die Auskünfte, wenn nein, warum nicht?

c) Beabsichtigt die Bundesregierung, diesen NS-Opfern noch Entschädi-
gungen zu gewähren, und wenn nein, warum nicht?

11. Beabsichtigt die Bundesregierung, auf den Brief des Vorsitzenden der Slo-
wenischen Vereinigung der Okkupationsopfer 1941–1945 aus Kranj/Slowe-
nien vom 30. November 2005 an die Bundeskanzlerin zu antworten oder
sich in anderer Form mit den Forderungen der slowenischen NS-Opfer zu
befassen und darüber in Verhandlungen zu treten; wenn ja, was plant sie
konkret, wenn nein, warum nicht?

12. a) Welche weiteren Opfergruppen sind nach Kenntnis der Bundesregierung
bislang von Entschädigungszahlungen ausgeschlossen?

aa) Hat die Bundesregierung hierzu Auskünfte von NS-Opferverbänden
oder Regierungen der von der Wehrmacht überfallenen Staaten
eingeholt; wenn ja, welcher Art waren die Auskünfte, wenn nein,
warum nicht?

bb) Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung hieraus?

13. Beabsichtigt die Bundesregierung, mit den bislang nicht entschädigten NS-
Opfern bzw. deren Verbänden in Verhandlungen zu treten, um eine Entschä-
digungsregelung zu vereinbaren, und wenn nein, warum nicht?

14. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Fragesteller, es sei ein uner-
träglicher Zustand, dass noch lebende Angehörige der SS und Funktionäre
der NSDAP Rentenzahlungen erhalten, während die Opfer von SS und
Nazipartei mühsam um Anerkennung und Entschädigung kämpfen müssen,
und wie begründet sie ihre Auffassung?

15. Wie stellt sich aus Sicht der Bundesregierung der Rechtskonflikt um bislang
ausgebliebene Entschädigungszahlungen vor internationalen Gerichtshöfen
dar, und welche Position vertritt die Bundesregierung in diesen Verfahren?

16. Stellt die Bundesregierung Überlegungen an, eine Bundesstiftung für
„vergessene“ Opfer einzurichten, d. h. solche NS-Opfer, die im Rahmen der
bisher geleisteten Entschädigungszahlungen nicht berücksichtigt worden
sind; wenn ja, in welche Richtung gehen diese Überlegungen?

Berlin, den 10. Juli 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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