BT-Drucksache 16/2172

Beobachtung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz

Vom 30. Juni 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2172
16. Wahlperiode 30. 06. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Jan Korte, Kersten Naumann und der
Fraktion DIE LINKE.

Beobachtung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der
Antifaschisten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz

Im Verfassungsschutzbericht für 2005 ist unter der Rubrik „Linksextremistische
Bestrebungen und Verdachtsfälle“ unter anderem die Vereinigung der Verfolg-
ten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) aufgeführt. Die
Ausführungen des Verfassungsschutzes beschränken sich allerdings auf einige
wenige Sätze über die Faschismusanalyse der VVN-BdA. Vorgeworfen wird
dem Verband unter anderem, er mache den Kapitalismus für Faschismus und
Krieg verantwortlich. Daraus leitet der Verfassungsschutz die Behauptung ab:
„In dieser Sichtweise ist eine sozialistische/kommunistische Diktatur die einzig
konsequente Alternative zu ‚faschistischen‘ Gefahren.“

Über die programmatische Ausrichtung der VVN-BdA heißt es, der „Kampf
gegen angeblichen ‚Geschichtsrevisionismus‘“ stelle einen Schwerpunkt ihrer
Tätigkeit dar. Die Formulierung „Kampf gegen Geschichtsrevisionismus“ wird
dabei als „Verteidigung kommunistischer Widerstandslegenden“ definiert. Dies
ist nach Ansicht der Fragesteller ein Faustschlag ins Gesicht aller Widerstands-
kämpfer, die ihr Leben im Kampf gegen den Faschismus eingesetzt haben. Dass
Kommunistinnen und Kommunisten zu Zehntausenden von den Faschisten
ermordet wurden ist keine Legende, sondern Teil der historischen Realität, ge-
nauso wie der Umstand, dass zahlreiche ihrer Mörder in der Bundesrepublik
Karriere machen konnten. Dass der Kampf gegen Geschichtsrevisionismus als
linksextremistisch firmiert, ist auch vor dem Hintergrund unverständlich, dass
der Verfassungsschutzbericht selbst vor einer Relativierung des Holocausts
durch die Forderung nach einem Mahnmal für die Opfer von Vertreibung und
„Bombenkrieg“ warnt (S. 117).

Auch die weiteren Ausführungen über die VVN-BdA, etwa Presseberichte über
eine Tätigkeit des VVN-BdA-Vorsitzenden als informeller Mitarbeiter des
Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), sind nach Ansicht der Fragesteller
nicht geeignet, eine Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung
durch die VVN-BdA zu belegen. Auch der Verfassungsschutzbericht selbst ent-
hält keinen Beleg dafür, dass jeder, über den in der Presse im Zusammenhang
mit dem MfS berichtet wird, ein Linksextremist sei.
In der VVN-BdA sind Opfer des Faschismus und Widerstandskämpfer organi-
siert, darunter auch zahlreiche Kommunistinnen und Kommunisten. Wer Wider-
stand gegen den Faschismus geleistet hat, hat nach Ansicht der Fragesteller
ehrenwert und verdienstvoll gehandelt und verdient nicht die Kriminalisierung
als Verfassungsfeind.

Drucksache 16/2172 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Was ist nach Ansicht der Bundesregierung linksextremistisch an den von
der VVN-BdA ausgesprochenen Warnungen vor einem undifferenzierten,
ahistorischen Gedenken an die Befreiung vom Faschismus, und wie begrün-
det sie diese Ansicht?

2. Was ist nach Ansicht der Bundesregierung linksextremistisch daran, davor zu
warnen, bestimmte, von der VVN-BdA abgelehnte Gedenkformen stellten
eine Verschleierung der Urheberschaft des Faschismus dar, und wie begrün-
det sie ihre Ansicht?

3. Worin sieht die Bundesregierung die Verfassungsfeindlichkeit der VVN-BdA
begründet, wenn sie beispielsweise entschieden gegen die rechtsextreme
These der „Kriegsschuld-Lüge“ vorgeht, mit der Rechtsextremisten, aber
auch Organisationen und Zeitungen ehemaliger Angehöriger der Wehrmacht
den NS-Staat und die Verbrechen der Wehrmachtsgeneralität relativieren und
reinwaschen wollen?

4. Ist die Bundesregierung der Ansicht, beim Widerstand von Kommunistinnen
und Kommunisten gegen den Faschismus handle es sich um „Widerstands-
legenden“, und wie begründet sie dies?

5. Worin sieht die Bundesregierung eine linksextremistische Ausrichtung der
VVN-BdA, wenn diese die Parole von „zwei deutschen Diktaturen und ihren
Opfern“ (S. 177) ablehnt und sich der Gleichsetzung des Dritten Reiches mit
der DDR unter Verweis auf die Einmaligkeit der Verbrechen der NS-Diktatur
verweigert?

a) Ist die Bundesregierung der Ansicht, eine Differenzierung zwischen
Nationalsozialismus und dem Sozialismus in der DDR hinsichtlich sozia-
ler Basis und politischer Praxis sei linksextremistisch, und wie begründet
sie ihre Auffassung?

b) Wieso hält der Verfassungsschutzbericht der VVN-BdA ihren Kampf
gegen Geschichtsrevisionismus vor, wenn er selbst vor der Relativierung
des Holocausts etwa durch die Forderung nach Errichtung eines Vertrie-
benenmahnmals warnt?

6. Reichen nach Ansicht der Bundesregierung Presseberichte über angebliche
IM-Tätigkeiten bereits aus, Mitglieder der VVN-BdA als Linksextremisten
zu qualifizieren, und wie begründet sie ihre Ansicht?

7. Ist der Kapitalismus nach Ansicht der Bundesregierung die einzige im Sinne
des Grundgesetzes zulässige Wirtschaftsordnung und ist nach ihrer Ansicht
ein kapitalistisches Wirtschaftssystem immer mit einem demokratischen Ge-
sellschaftssystem verbunden, und wie begründet sie ihre Ansicht vor dem
Hintergrund, dass die Militärdiktaturen beispielsweise in Chile und Grie-
chenland nicht auf einer sozialistischen sondern auf einer kapitalistischen
Wirtschaftsweise basierten?

8. Wie rechtfertigt die Bundesregierung die Aussage, die der VVN-BdA zuge-
schriebene Verknüpfung von Kapitalismus und (Neo-)Faschismus belege die
linksextremistische Ausrichtung dieses Verbandes, vor dem Hintergrund

a) des intensiven Bezugs, den die wissenschaftliche Debatte um den
Nationalsozialismus auf die Rolle deutscher Industrieller bezüglich einer
Mittäterschaft nimmt,

b) der in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen ergangenen Urteile
gegen deutsche Industrielle und der Berichte des Office Military Govern-
ment for Germany über die Verantwortlichkeit der deutschen Banken am

Faschismus,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/2172

c) der Einrichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“,
die aufgrund der Verantwortung der deutschen Wirtschaft für NS-Unrecht
erfolgte,

und betrachtet die Bundesregierung diese wissenschaftliche Debatte, die
Nürnberger Urteile und die an der Stiftung Beteiligten als Linksextremis-
ten?

9. Ist der Bundesregierung bekannt, dass zahlreiche deutsche Firmen an der
Beschäftigung von Zwangsarbeitern und KZ-Insassen verdienten, und be-
streitet sie eine Verantwortung der deutschen Wirtschaft am NS-Unrecht,
und wenn sie eine solche Verantwortung nicht bestreitet, warum ist es ihrer
Ansicht nach linksextremistisch, wenn ein Opferverband wie die VVN-BdA
auf genau solche Zusammenhänge und Verantwortlichkeiten hinweist?

10. Hat die Bundesregierung konkrete Erkenntnisse über praktische Anstren-
gungen der VVN-BdA, eine sozialistisch/kommunistische Diktatur anzu-
streben, und wenn ja, welche?

a) Aufgrund welchen empirischen Materials bzw. welcher Spekulationen
kommt die Bundesregierung zu der Aussage, die VVN-BdA verzichte
„mit Rücksicht auf ihre Bündnisbemühungen […] seit 1989 darauf,
linksextremistische Gewalt- und Unrechtssysteme ausdrücklich als Vor-
bild darzustellen“?

b) Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Fragesteller, dass der seit
nunmehr 17 Jahren anhaltende Verzicht auf die Formulierung einer be-
stimmten politischen Position stark darauf hindeuten kann, dass diese
Position eben nicht mehr dominant ist, und wenn nein, aufgrund welcher
Sensoren meint sie dies begründen zu können?

11. Hat die Bundesregierung konkrete Erkenntnisse über andere, nach Ansicht
der Bundesregierung verfassungsgefährdende Maßnahmen der VVN-BdA,
und wenn ja, welche?

12. Welche konkreten Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Zusammen-
setzung der Mitgliedschaft und der Leitungspositionen der VVN-BdA bezo-
gen auf Parteizugehörigkeiten (bitte aufschlüsseln) sowie Gewerkschaften
und Religionsgemeinschaften, und wie bewertet die Bundesregierung vor
diesem Hintergrund die Schlüssigkeit ihrer Annahme, die VVN-BdA sei
dem orthodoxen kommunistischen Antifaschismus verhaftet?

13. In welchen europäischen Ländern werden Opferverbände des Nazi-Regimes
von den Regierungen als linksextremistisch oder „verfassungsfeindlich“
eingestuft?

14. In welcher Form und mit welchen Methoden werden die VVN-BdA sowie
die darin engagierten Personen vom Verfassungsschutz beobachtet?

Berlin, den 28. Juni 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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