BT-Drucksache 16/2074

Aktionsprogramm gegen Schienenlärm auf den Weg bringen

Vom 29. Juni 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2074
16. Wahlperiode 29. 06. 2006

Antrag
der Abgeordneten Winfried Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde, Peter
Hettlich, Dr. Anton Hofreiter, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, Ulrike
Höfken, Sylvia Kotting-Uhl, Undine Kurth (Quedlinburg), Dr. Reinhard Loske und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Aktionsprogramm gegen Schienenlärm auf den Weg bringen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der bessere Schutz der Bevölkerung vor Lärm gehört zu den drängendsten Um-
weltproblemen. Lärm schädigt die Gesundheit, führt zu Herz-Kreislauf-Erkran-
kungen, Schlafstörungen, psychischen Störungen und Stress. Unterlassener
Lärmschutz und mangelnde Vorsorge beeinträchtigen nicht nur die Lebensqua-
lität vieler Menschen, sondern verursachen erhebliche Kosten für Heilung und
Entschädigung. Umfrageergebnisse in der Bevölkerung und Erkenntnisse über
gesundheitsschädliche Wirkungen des Lärms fordern politisches Handeln.
75 Prozent der Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland fühlen sich durch
Lärmgeräusche belästigt, ein wachsender Anteil sogar erheblich. Verantwort-
lich hierfür ist vor allem der stetig zunehmende Verkehrslärm.

Während für die Mehrzahl der Betroffenen der Lärm von Straßen oder Flug-
häfen die größte Belästigung darstellt, sind auch Anwohner viel befahrener
Schienentrassen oft massivem Lärm und Erschütterungen durch vorbeifahrende
Züge ausgesetzt. Der nächtliche Güterverkehr ist in Deutschland die Haupt-
quelle für Schienenverkehrslärmbelastungen. Laut Umweltbundesamt fühlen
sich etwa 23 Prozent der Bevölkerung durch Schienenlärm belästigt. Der Lärm
im Schienenverkehr entsteht durch die Antriebs- und Rad-Schienen-Geräusche
sowie durch aerodynamische Geräusche bei hohen Geschwindigkeiten und
durch zeitweise auftretende Geräusche wie das Kurvenquietschen und Brems-
geräusche.

In Deutschland wird bei der Schallprognose (nach der Schall03) z. B. beim
Neubau von Schienenwegen ein als „Schienenbonus“ bezeichneter Pegelab-
schlag von 5 dB(A) berücksichtigt. Dieser Schienenbonus beruht auf Unter-
suchungen, nach denen Schienenlärm als deutlich weniger lästig empfunden
wird als Straßenverkehrslärm. Inzwischen wird die Rechtmäßigkeit des Schie-
nenbonus von verschiedenen Seiten in Frage gestellt. Die Bundesregierung hat

sich in den vergangenen Jahren infolge von Anfragen von Abgeordneten mehr-
fach mit diesem Aspekt befasst. Auf eine entsprechende schriftliche Anfrage
von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beim Verkehrsministerium vom Februar
2006 führt die Bundesregierung aus, für die Abschaffung des Pegelabschlags
gäbe es auch nach neueren Forschungsprojekten (etwa der Deutsche Bahn AG
(DB AG) vom September 2001) keinen Anlass.

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Anwohner – gerade in Ballungsräumen – sind oft gleichzeitig verschiedenen
Lärmquellen ausgesetzt, etwa wenn sie an hochfrequentierten Bahnstrecken
und zugleich stark befahrenen Straßen wohnen. Als europäisches Regelwerk
trägt die EU-Umgebungslärmrichtlinie der wachsenden Beeinträchtigung der
Lebensqualität durch die Summation verschiedener Lärmquellen Rechnung.
Mit dem Umgebungslärmgesetz wurde die Richtlinie in deutsches Recht umge-
setzt. Sie schreibt umfangreiche Lärmkartierungen an Hauptverkehrsstrecken
von Straße, Schiene und Flugverkehr bis Juni 2007 vor und fordert darauf bezo-
gene Lärmminderungsplanungen in Form von Lärmaktionsplänen bis Juli
2008. Der nach der Umgebungslärmrichtlinie zu kartierende Umfang beträgt
allein bei Haupteisenbahnstrecken mindestens 10 000 km.

Bereits Ende 2002 definierte die EU auf der Grundlage der Richtlinie über
Interoperabilität des transeuropäischen Hochgeschwindigkeitsbahnsystems
Lärmgrenzwerte allerdings nur für den Hochgeschwindigkeitsverkehr. Inzwi-
schen erfolgte auf europäischer Ebene eine Festlegung von Lärmgrenzwerten
für Schienenfahrzeuge durch die Technische Spezifikation für die Interoperabi-
lität Schienenfahrzeuge (TSI). Die Vorgaben gelten jedoch nur für Neufahr-
zeuge und für umgebaute oder modernisierte Fahrzeuge. Die TSI legt Ge-
räuschgrenzwerte sowohl für neue Güter- und Reisezugwagen als auch für
Lokomotiven und Triebzüge (so genannte konventionelle Schienenfahrzeuge)
wie auch Messvorschriften zur Lärmerfassung fest und definiert Kriterien für
Fahrbeschränkungen besonders lauter Schienenfahrzeuge. Auch werden eine
weitere Verschärfung der Fahrgeräuschegrenzwerte festgelegt und mittelfristig
europäische Maßnahmen für Fahrwege und Wartung vorgesehen. Bei den Fahr-
zeugen werden die lauten Graugussklotzbremsen durch Kunststoffklotz- oder
Scheibenbremsen ersetzt. Da derzeit fast alle Güterwagen mit Graugussklötzen
bremsen, ist die langfristige Wirksamkeit der neuen Vorschrift sehr hoch.

Die nationale Rechtslage bietet derzeit keine generelle Vorsorgeregelung zum
Schutz vor Schienenverkehrslärm, auch fehlen Emissionsgrenzwerte für die
Antriebselemente, die Bremsen oder auch Regelungen für das Gleisbett. Anfor-
derungen im Sinne einer Lärmvorsorge werden mit dem Rechtsanspruch auf
Schutz vor Verkehrslärm im Bundes-Immissionsschutzgesetz (§ 41 ff. Bundes-
Immissionsschutzgesetz – BImSchG) in der 16. Bundes-Immissionsschutzver-
ordnung (Verkehrslärmschutzverordnung) definiert. Sie gelten jedoch lediglich
für den Neubau oder eine wesentliche bauliche Änderung eines Schienenwe-
ges, nicht aber für den Bestand.

Der geschätzte Gesamtbedarf der Lärmsanierung liegt bei rund 3 500 km
Schienenweg, etwa einem Zehntel des gesamten Schienennetzes der Bahn. Das
Bundesverkehrsministerium hat seit 1999 jährlich einen Betrag in Höhe von
rund 51 Mio. Euro für ein Programm „Maßnahmen zur Lärmsanierung an
bestehenden Schienenwegen des Bundes“ in den Bundeshaushalt eingestellt.
Damit wurde ein erster Schritt zum lange geforderten Einstieg in den Lärm-
schutz auch an bestehenden Schienenwegen unternommen. Mit dem Lärm-
schutzprogramm sollen vorrangig Lärmschutzmaßnahmen an besonders belasteten
Schienenstrecken durchgeführt werden. Die Bahn setzt das Lärmsanierungs-
programm der Bundesregierung um. Die Kosten für die gesamte Lärmsanie-
rung am bestehenden Netz wurden auf rund 2 Mrd. Euro geschätzt. Die Erfolge
dieses Programms sind bisher eher bescheiden. So wurden seit dem Bestehen
des Programms bis 2005 noch nicht einmal 100 Kilometer saniert. Nach Schät-
zungen des Deutschen Naturschutzrings würde die Sanierung bei gleich blei-
bendem Tempo fast 100 Jahre dauern und nicht, wie von der DB AG angege-
ben, 40 Jahre. Dies ist angesichts der Verkehrszunahme und des zentralen
umwelt- und verkehrspolitischen Ziels einer deutlichen Verlagerung des Güter-
verkehrs auf die Schiene nicht akzeptabel.

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Gleichwohl hat die DB AG in der Broschüre „Schallschutz – eine Investition in
die Zukunft der Bahn“ angekündigt, bis 2020 den Schienenlärm zu halbieren.
Nach Schätzungen der DB AG kostet die Umrüstung der insgesamt 140 000
Güterwagons der DB-Tochter Railion ca. 540 Mio. Euro.

Technische Möglichkeiten, den Schienenlärm direkt an der Quelle zu minimie-
ren, sind heute schon vorhanden. So ist die moderne Komposit-Bremssohle um
ca. 8 bis 10 dB(A) leiser als die alten Grauguss-Bremssohlen. Hierzulande fah-
ren derzeit 160 000 Güterwaggons im Besitz der DB AG und anderer Eigen-
tümer mit Graugussbremsen, die nach Einschätzung des Umweltbundesamtes
um 10 bis 20 dB(A) zu laut sind. Die Bahn hat begonnen, ausgediente Waggons
durch neue zu ersetzen, ca. 2 500 neue Waggons sind mit leiserer Technik aus-
gestattet. Die Umrüstung der 160 000 deutschen Güterwaggons von Grauguss-
bremsen auf K-Sohlen-Bremsen kostet nach Angaben der DB AG pro Waggon
ca. 4 000 Euro. Ein Waggon ist circa 40 Jahre im Einsatz.

Neben den leisen Bremsen trägt vor allem das Schienenschleifverfahren als be-
sonders hochwirksame Technik aktiv zur Lärmbekämpfung an der Quelle bei.
Beim „Besonders überwachten Gleis“ (BÜG) prüft halbjährlich ein Messzug
den Zustand der Fahrflächen auf besonders festgelegten Strecken. Wird ein be-
stimmter Lärmpegel erreicht, dann wird das Gleis mit einem speziellen Schie-
nenschleifzug geglättet. Dieses Verfahren erzielt immerhin eine Lärmreduktion
von 3 dB(A). Inzwischen werden rund 1 000 Kilometer Gleisstrecke im Rahmen
des BÜG-Ansatzes gepflegt. Eine deutlich reduzierte Lärmentstehung am
rollenden Material ist also technisch möglich, mit einer Kombination verschie-
dener Maßnahmen etwa der der K-Sohlen-Bremse und dem Schienenschleifen
können deutlich über 10 dB(A) Lärmreduktion erreicht werden.

Vor dem Hintergrund der rechtlichen Rahmenbedingungen, des technischen
Standes und der finanziellen Spielräume besteht ein realistischer Ansatzpunkt
für eine wirksame Verringerung des Schienenlärms vor allem in der Reduktion
des Lärms an der Quelle: Durch ein Umrüstprogramm für die Waggons im Be-
stand kombiniert mit flankierenden rechtlichen Regelungen und einer Pflege
der Schienen (Besonders überwachtes Gleis). Die Bekämpfung des Lärms an
der Quelle weist die mit Abstand günstigste Nutzen-Kosten-Relation auf.
Anders als bauliche Maßnahmen des aktiven und passiven Lärmschutzes nützt
sie allen Anwohnern von Güterbahnstrecken, unabhängig davon, ob es sich um
Alt- oder Neubaustecken handelt. Da das deutsche Streckennetz auch von vie-
len ausländischen Waggons genutzt wird, ist das Umrüstprogramm – ganz im
Sinne der EU-Lärmminderungspolitik – gleich als europaweites Programm zu
organisieren und zu finanzieren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. ein Förderprogramm des Bundes für die Umrüstung des rollenden Materials
im Schienenverkehr (Einbau von K-Sohlen) aufzulegen und dieses Investi-
tionsprogramm diskriminierungsfrei zu gestalten, damit es mit den EU-
Wettbewerbsrichtlinien vereinbar ist;

2. sich in der EU für ein europaweites Umrüstungsprogramm einzusetzen, da
auch viele ausländische Waggons auf dem deutschen Schienennetz fahren;

3. die DB Netz AG zu veranlassen, die bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten
zu nutzen und lärmbezogene Trassenpreise (nach dem Vorbild des Schweizer
Modells mit drei Emissionsklassen) einzuführen oder eine gesetzlich ver-
pflichtende Regelung zur Einführung von lärmbezogenen Trassenpreisen zu
schaffen und diese kostenneutral und diskriminierungsfrei zu gestalten;

4. das Lärmsanierungsprogramm des Bundes deutlich aufzustocken und den

Fortgang der Sanierung an bestehenden Schienenwegen zu beschleunigen;

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5. die angekündigte Studie zu den Auswirkungen des Schienenverkehrslärms
auf die Gesundheit vorzulegen und neue Forschungsvorhaben zu fördern,
die die gesundheitlichen Belastungen vor allem des Nachtschlafs durch den
Schienenlärm untersuchen;

6. auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse neue gesetz-
liche Regelungen und Grenzwerte für Lärmemissionen im Schienenverkehr
sowie Lärmgrenzwerte für Schienenfahrzeuge per Rechtsverordnung nach
§ 38 Abs. 2 BImSchG zu schaffen;

7. bis zur Verabschiedung der neuen gesetzlichen Regelungen den als „Schie-
nenbonus“ bezeichneten Abschlag von 5 dB(A) für den Schienenverkehr
differenziert anzuwenden; der Schienenbonus soll an hochfrequentierten
Strecken mit durchgehendem Schienengüterverkehr und entsprechend an-
haltender Lärmbelastung für die Anwohner nicht mehr angewandt werden.

Berlin, den 29. Juni 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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