BT-Drucksache 16/1785

Überarbeitung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto

Vom 8. Juni 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1785
16. Wahlperiode 08. 06. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Kersten Naumann, Jan Korte,
Volker Schneider (Saarbrücken) und der Fraktion DIE LINKE.

Überarbeitung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten
aus Beschäftigungen in einem Ghetto

Im Juni 2002 verabschiedete der Deutsche Bundestag ein Gesetz zur Zahlbar-
machung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) mit den
Stimmen aller Fraktionen. Ziel des Gesetzes ist es u. a., Verfolgten des NS-
Regimes, die in einem Ghetto gearbeitet haben, diese Arbeit als Beschäftigung
anzuerkennen, damit sie als Beitragszeiten für die gesetzliche Rentenversiche-
rung geltend gemacht werden können. Auslöser der Gesetzesinitiative war eine
Entscheidung des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 1997 zum Ghetto Lodz, in
dem beschrieben wird, dass bei einem zwangsweisen Aufenthalt in einem
Ghetto mit einem Rest an Freiwilligkeit und gegen Entgelt eine Tätigkeit aus-
geübt werden konnte, die alle Merkmale eines ordentlichen Arbeitsverhältnisses
aufwies. Mit dem ZRBG sollte die Geltendmachung dieser Ansprüche ermög-
licht werden.

Die konkrete Ausgestaltung des Gesetzes und vor allem seine praktische
Anwendung zeigen jedoch, dass die getroffenen Regelungen zu einer unverhält-
nismäßig hohen Quote an Ablehnungen führen. In einem Artikel der Zeitschrift
„Überleben“ (9/2005) des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-
Verfolgte wird von einer Ablehnungsquote von über 90 Prozent berichtet. Ähn-
liche Zahlen werden in einer aktuellen und von der Jewish Claims Conference
unterstützten Petition an den Deutschen Bundestag genannt. Zum Zeitpunkt der
Beantwortung einer Kleinen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU zur „Bilanz
nach einem Jahr ‚Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen
in einem Ghetto‘“ (Bundestagsdrucksache 15/1475) waren von ca. 58 000 ein-
gegangenen oder angekündigten Anträgen erst gut 7 000 entschieden worden, so
dass noch kein realistischer Blick auf die Anerkennungsquote geworfen werden
konnte.

Als besonders problematisch werden von den Betroffenen und den sie unterstüt-
zenden Organisationen die Anerkennungsbedingungen „Freiwilligkeit“ und
„Entgelt“ bewertet: Im Gesetz heißt es, dass „die Beschäftigung a) aus eigenem
Willensentschluss zustande gekommen ist, b) gegen Entgelt ausgeübt wurde“
(Bundestagsdrucksache 14/8583, S. 3). Beide Bedingungen führen aufgrund ih-

rer Unklarheit zu häufigen Ablehnungen durch die Sozialversicherungsträger
und Gerichte. Offen ist dabei, wie in einer generellen Zwangssituation, der die
NS-Verfolgten permanent ausgesetzt waren, der freie Wille zur Arbeitsauf-
nahme zu bewerten ist und wie ein „Entgelt“ definiert wird, d. h., ob und wie
materielle Vorteile aus einer solchen Arbeit als Entgelt zu werten sind. Hier
kommt es bei den Versicherungsträgern und Sozialgerichten zu völlig unter-
schiedlichen Bewertungen, die für die Betroffenen nicht durchschaubar sind.

Drucksache 16/1785 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Fällt es den Betroffenen einerseits schwer, eine nur als bedingte zu bezeichnende
„Freiwilligkeit“ zu konstatieren, da sie so den Eindruck haben, an ihrem Verfol-
gungsschicksal Mitschuld zu sein, wird ihnen auf der anderen Seite oftmals die
„Freiwilligkeit“ bestritten, da es sich um eine durch den Judenrat des Ghettos zu-
stande gekommene Arbeit gehandelt habe und dieser in seinen Entscheidungen
nicht frei gewesen sei. Verkannt wird von den so argumentierenden Stellen da-
mit die komplexe historische Situation. Offensichtlich ist das Gesetz in seiner
jetzigen Form nicht in der Lage, den Zielen und Intentionen des Gesetzgebers
Folge zu leisten, die ja in einer möglichst unbürokratischen Hilfe für Verfolgte
des NS-Regimes liegen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Anträge auf Leistungen nach dem ZRBG wurden bisher gestellt?

Wie viele Anträge wurden davon bewilligt, wie viele abgelehnt?

2. Wie beurteilt die Bundesregierung die sehr hohe Ablehnungsquote von An-
trägen nach dem ZRGB und worin sieht sie die Gründe für diese Ablehnungs-
quote?

3. Sind der Bundesregierung die sehr unterschiedlichen Auslegungen der Be-
dingungen „Freiwilligkeit“ und „Entgelt“ durch verschiedene Rentenver-
sicherungsträger bekannt und wenn ja, wie beurteilt sie diese Differenzen und
was will sie unternehmen, um zu einer Annäherung bei den Entscheidungen
zu kommen?

4. Ist der Bundesregierung die Praxis von Behörden und Gerichten bekannt,
nach der der Hinweis auf „Zwang“ in früheren Anträgen von NS-Verfolgten
nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) in aktuellen Verfahren wegen
Leistungen nach dem ZRBG gegen die Antragsteller ausgelegt wird?

Wenn ja, wie beurteilt sie diese Praxis und gedenkt sie, Maßnahme dagegen
zu ergreifen?

5. Wie beurteilt die Bundesregierung die ungleiche Wertung ähnlicher bis glei-
cher Tatbestände durch Versicherungsträger und Gerichte, die dazu führen,
dass NS-Verfolgte mit gleichem Verfolgungsschicksals einmal Leistungen
zugesprochen bekommen, während sie im anderen Fall eine Ablehnung er-
halten und verstößt diese Praxis nach Ansicht der Bundesregierung gegen
den Gleichheitsgrundsatz?

6. Plant die Bundesregierung Maßnahmen, mit denen die beschriebenen und
von Seiten der NS-Verfolgten schon häufig beklagten Probleme bei der An-
wendung des ZRBG behoben werden können?

Wenn ja, welche Maßnahmen sind geplant, wenn nein, wie begründet die
Bundesregierung ihre Haltung?

Berlin, den 6. Juni 2006

Ulla Jelpke
Petra Pau
Kersten Naumann
Jan Korte
Volker Schneider (Saarbrücken)
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.