BT-Drucksache 16/1749

Aufhebung der NS-Militärgerichtsurteile wegen Kriegsverrats

Vom 1. Juni 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1749
16. Wahlperiode 01. 06. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Paul Schäfer (Köln) und der
Fraktion DIE LINKE.

Aufhebung der NS-Militärgerichtsurteile wegen Kriegsverrats

Einer der zentralen Apparate zur Aufrechterhaltung des NS-Unrechtsregimes
und zur Führung der faschistischen Angriffskriege war die Militärgerichts-
barkeit der Wehrmacht. Zehntausende von Todesurteilen wurden verhängt und
vollstreckt, weil Soldaten auf verschiedene Weise ihre Mitwirkung im Ver-
nichtungskrieg verweigert haben. Solche Verweigerungshaltungen konnten sich
in Kriegsdienstverweigerung, Desertion, Überlaufen, Selbstverstümmelung,
Simulation von Krankheiten und zahlreichen anderen, aus Sicht der Faschisten
dysfunktionalen Verhaltensweisen ausdrücken. Dazu gehört auch der so ge-
nannte Kriegsverrat nach den §§ 57, 59 und 60 des Militärstrafgesetzbuches. Als
Kriegsverrat bezeichnet § 57 den Landesverrat in Kriegszeiten. § 58 des Militär-
strafgesetzbuches sah hierfür die Todesstrafe vor.

Das gnadenlose Vorgehen der Wehrmachtsgerichtsbarkeit gegen solch ab-
weichendes Verhalten zeigt mit aller schrecklichen Eindrücklichkeit, dass sich
die Wehrmacht voll und ganz in den Dienst der Faschisten gestellt hatte.

Aus heutiger Sicht ist jedes Verhalten zu begrüßen, was dem Vernichtungskrieg
entgegengearbeitet oder gar ein schnelleres Ende des Dritten Reichs herbei-
geführt hat. In Bezug auf die Militärgerichtsbarkeit hat der Deutsche Bundestag
daher mit Beschluss vom 17. Mai 2002 zahlreiche Unrechtsurteile aufgehoben.
Mit dem am 26. Juli 2002 verkündeten „Gesetz zur Aufhebung nationalsozia-
listischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege“ (BGBl. I S. 2714) war unter
anderem die pauschale Rehabilitierung von Deserteuren verbunden.

Nicht aufgehoben wurden dagegen die Urteile wegen Kriegsverrats. In der
Begründung des Gesetzesentwurfs hieß es dazu, eine Aufhebung sämtlicher Ur-
teile, die aufgrund von Verstößen gegen das Militärstrafgesetzbuch ergangen
waren, erscheine „nicht verantwortbar“. Beispielhaft wurden „der Kriegsverrat,
die Plünderung, die Fledderei sowie die Misshandlung von Untergebenen“ ge-
nannt. Damit wurde der „Straftatbestand“ des Kriegsverrats in eine Reihe mit
Gewaltdelikten, Kriegsverräter auf eine Stufe mit Gewalttätern gestellt. Eine
historisch-empirisch fundierte Begründung für diese Annahme fehlte zu diesem
Zeitpunkt völlig. Die Fraktion der PDS hatte deshalb in einem Änderungsantrag
(Bundestagsdrucksache 14/9116) gefordert, auch die Verurteilungen wegen

Kriegsverrats aufzuheben und hervorgehoben, dass Kriegsverrat „in dem vom
nationalsozialistischen Deutschland verschuldeten Angriffs- und Vernichtungs-
krieg weder kriminell noch unehrenhaft war“. Der Änderungsantrag wurde je-
doch mit den Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt.

Der Vorsitzende der Bundesvereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz, Ludwig
Baumann, wandte sich am 31. März 2006 mit einem Schreiben an die Bundes-

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ministerin der Justiz, Brigitte Zypries, und bat erneut darum, die Ministerin
möge sich für die Aufhebung der genannten Urteile einsetzen. Die Ministerin
antwortete daraufhin mit Schreiben vom 25. April 2006, das den Fragestellern
vorliegt, die Gründe, die 2002 dazu geführt hätten, von einer Einbeziehung der
Urteile wegen Kriegsverrats in die pauschale Aufhebung abzusehen, hätten
„nach wie vor Gültigkeit“. Außerdem führte die Ministerin aus: „Der in Fällen
des Kriegsverrates möglicherweise gegebene Unrechtsgehalt (nicht ausschließ-
bare Lebensgefährdung für eine Vielzahl von Soldaten) erschien äußerst hoch, so
dass auch der Umstand, dass sie während eines völkerrechtswidrigen Angriffs-
krieges begangen worden sind, keinen Anlass zur pauschalen Rehabilitierung
begründen konnte.“

Für die Fragesteller sind diese Äußerungen aus mehrfacher Sicht kritik-
würdig. Zunächst muss es als äußerst fragwürdig erscheinen, warum hier eine
„nicht ausschließbare Lebensgefährdung für eine Vielzahl von Soldaten“ als
„Unrecht“ bezeichnet wird. Aus dem Sinnzusammenhang erschließt sich deut-
lich, dass hier eine mögliche Lebensgefährdung deutscher Soldaten bzw. Solda-
ten der mit dem Dritten Reich verbündeten Staaten gemeint sind. Es ist nun
aber unbestreitbar, dass jeder Soldat, der „treu“ seinen Pflichten nachgekom-
men ist – aus welchen Motiven auch immer – zur Verlängerung der faschisti-
schen Schreckensherrschaft beigetragen hat. Jeder Soldat, der nicht desertierte,
simulierte, überlief, Kriegsverrat beging oder auf andere Weise den Krieg sabo-
tierte, war mittelbar für tatsächliche „Lebensgefährdungen“ anderer Soldaten
verantwortlich, ebenso für die Morde, die sich im Rücken der Front in den
Konzentrationslagern vollzogen. Andererseits hat jeder Soldat, der Taten mit
dem Vorsatz beging, „einer feindlichen Macht Vorschub zu leisten oder den
deutschen oder verbündeten Truppen Nachtheil zuzufügen“ (§ 58 MStGB), zur
Verkürzung des Kriegs sowie zur früheren Befreiung der Konzentrationslager
beigetragen und so Menschenleben gerettet.

Es existiert mithin ein eklatanter Unterschied zwischen der offiziösen Bewer-
tung beispielsweise der Attentäter des 20. Juli und den Kriegsverrätern. Wollten
jene die Verteidigungsfähigkeit des Deutschen Reichs nicht schmälern, haben
diese zum Teil direkt mit dem „Feind“ zusammengearbeitet. Die Offiziere des
20. Juli gelten als Vorbilder, obwohl sie den Vernichtungskrieg lange Zeit mit
trugen. Wer dagegen mit Partisanen, der Résistance oder im Rahmen „feind-
licher“ Armeen Widerstand gegen das Dritte Reich geleistet hat, gilt in der
Bundesrepublik nach wie vor als Straftäter.

Schließlich hat sich der historische Forschungsstand verändert. Der Freiburger
Militärhistoriker Wolfram Wette betreibt derzeit ein Forschungsprojekt zum
Thema Kriegsverrat. In einem Zwischenbericht, der den Fragestellern vorliegt,
hält er fest, die ihm bislang bekannt gewordenen Fälle von Kriegsverrat „waren
fast durchweg moralisch/ethisch oder politisch motiviert“. Für die Gleich-
setzung von Kriegsverrätern mit Leichenfledderern oder Plünderern gibt es
mithin noch weniger Berechtigung als zuvor.

Die Frage des Vorsitzenden der Bundesvereinigung der Opfer der NS-Militär-
justiz, die er bei der Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundes-
tages am 24. April 2002 stellte, bleibt bislang unbeantwortet: „[…] was ist ver-
urteilenswert am Verrat eines Vernichtungskrieges?“

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Ist aus Sicht der Bundesregierung der Verrat des nationalsozialistischen Ver-
nichtungskriegs verurteilenswert, und wenn ja, warum?

2. Ist die Bundesregierung der Ansicht, Soldaten der Wehrmacht, die zu Par-

tisanen, der Résistance oder zu Truppen der Alliierten übergelaufen sind,
hätten verurteilenswert gehandelt, und wenn ja, warum?

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3. Ist die Bundesregierung der Ansicht, Soldaten der Wehrmacht oder andere
deutsche Staatsbürger, die militärisch relevante Geheimnisse an Truppen
der Alliierten oder an Partisanen verraten haben, hätten verurteilenswert
gehandelt, und wenn ja, warum?

4. Ist die Bundesregierung der Ansicht, irgendeine der anderen im Militär-
strafgesetzbuch unter Kriegsverrat bezeichneten Handlungen seien an-
gesichts des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs verurteilenswert,
und wenn ja, warum?

5. Ist die Bundesregierung der Ansicht, die Handlungen der Attentäter des
20. Juli seien positiver zu bewerten als beispielsweise der Kriegsverrat in
Form von Geheimnisverrat oder bewaffnetem Kampf gegen das Dritte
Reich, und wenn ja, warum?

6. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Fragesteller, im Antwort-
schreiben der Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries, an die Bundes-
vereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz vom 25. April 2006 komme
zum Ausdruck, das Leben deutscher Soldaten sei mehr wert als das Leben
von Millionen von KZ-Häftlingen und Soldaten der alliierten Streitkräfte,
die durch Kriegsverrat hätten gerettet werden können, und wenn ja, wie be-
gründet sie ihre Auffassung?

7. Wie gewichtet die Bundesregierung bei ihrer Bewertung von Kriegsver-
rätern den Umstand, dass mit „treuer“ Pflichterfüllung von Wehrmachts-
angehörigen eine sehr konkrete Lebensgefährdung von Soldaten sowie
eine verzögerte Befreiung der Konzentrationslager zwangsläufig einher-
ging, mit Kriegsverrat jedoch eine Abkürzung des Kriegs und damit die
Schonung von Menschenleben?

8. Wie bewertet die Bundesregierung heute die damalige Entscheidung von
Bundesregierung und Deutschen Bundestag, die Urteile wegen Kriegsver-
rats nicht pauschal aufzuheben?

9. Lag der Entscheidung aus dem Jahr 2002 ein Forschungsstand zu Grunde,
und wenn ja, welcher?

10. Hat die Bundesregierung seither Kenntnis vom erweiterten Forschungs-
stand zum Thema Kriegsverrat genommen, wenn ja, inwiefern, wenn nein,
warum nicht?

11. Ist das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr damit be-
auftragt worden, zum Thema Kriegsverrat zu forschen, oder ist beabsich-
tigt, es damit zu beauftragen, wenn ja, zu welchen Ergebnissen ist es bis-
lang gekommen, und wenn nein, warum nicht?

12. Hat die Bundesregierung Kenntnis von der Einschätzung des in der Vor-
bemerkung zitierten Militärhistorikers Wolfram Wette, wonach dem
Kriegsverrat meist eine moralische oder politische Motivation zu Grunde
lag, und wenn ja, welche Konsequenzen zieht sie daraus?

13. Wie bewertet die Bundesregierung aus heutiger Sicht den Kriegsverrat?

Berlin, den 31. Mai 2006

Ulla Jelpke
Jan Korte
Paul Schäfer (Köln)
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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