BT-Drucksache 16/14084

Abschiebungen in das Kosovo

Vom 24. September 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/14084
16. Wahlperiode 24. 09. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Kersten Naumann,
Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Abschiebungen in das Kosovo

Wie die „Münsterland Zeitung“ am 11. September 2009 vermeldete, droht 302
Roma in Münster in den kommenden Wochen die Abschiebung in das Kosovo.
Bis zum 15. Oktober 2009 müssen sie demnach die Bundesrepublik Deutsch-
land „freiwillig“ verlassen haben, bei einigen lief die Frist bereits am 15. Sep-
tember 2009 ab. Danach droht ihnen die Abschiebung. Aus Niedersachsen
wurde bereits im Juni 2009 vermeldet, dass 3 500 Roma in das Kosovo abge-
schoben werden sollen (taz vom 6. Juni 2009).

Mehrfach haben sich Nichtregierungsorganisationen (NGO) gegen die Ab-
schiebung von Minderheitenangehörigen in das Kosovo gewandt. In einer
Stellungnahme der Roma-NGO „Romani Them“ (mittlerweile umbenannt in
„Chachipe“) vom Februar 2009 wird berichtet, dass es den Behörden und
Hilfsorganisationen vor Ort nicht gelungen ist, über zwei Jahre hinweg 480 „in-
ternally displaced persons“ aus einem bleiverseuchten Gelände bei Mitrovica
umzusiedeln. Romani Them weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass
es inkongruent sei, auf die zwangsweise Rückführung von mehreren zehntau-
send Menschen in das Kosovo zu zielen, wenn für 480 Menschen keine Lösung
gefunden werden kann (Romano Them: Fact-finding mission to Kosovo and
Macedonia, S. 2).

Im April dieses Jahres wandte sich auch der Menschenrechtskommissar des
Europarates, Thomas Hammarberg, in einem Bericht gegen die zwangsweise
Rückführung von Minderheitenangehörigen. Er weist darin besonders darauf
hin, dass dem Kosovo die Mittel fehlen, eine größere Anzahl von Menschen
ökonomisch zu integrieren. Aus seiner Stellungnahme geht auch hervor, dass
die Regierungen der westeuropäischen Aufnahmestaaten darauf keine Rück-
sicht nehmen: „Kosovo ist unter dem politischen Druck, diese [Rücküber-
nahme-]Abkommen zu akzeptieren, ohne die finanziellen Mittel und Kapazi-
täten zu haben, diese Familien in Würde und Sicherheit aufnehmen zu können“
(Report of the Council of Europe Commissioner for Human Rights’ Special
Mission to Kosovo, S. 27). Der Kommissar macht in seinem Bericht auf zahl-
reiche Probleme wie beispielsweise unzureichende Zuweisung von Wohnraum,
fehlende Verdienstmöglichkeiten und das Wiederaufflammen gegen die Rück-

kehrer gerichteter rassistischer oder interethnischer Gewalt aufmerksam.

Rudko Kawczynski, Vorsitzender des Europäischen Roma-Forums in Straß-
burg, weist darauf hin, dass die NATO dazu beigetragen habe, ein „ethnisch
reines Kosovo“ zu schaffen. Roma im Kosovo sei „vor den Augen der KFOR-
Soldaten von der albanischen UCK vertrieben worden“, und diejenigen, die
blieben, seien auf eine „bleiverseuchte Müllhalde verfrachtet“ worden (taz vom
16. September 2009). Die Arbeitslosigkeit der Roma im Kosovo liegt derzeit

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bei nahezu 100 Prozent. Human Rights Watch und Amnesty International be-
klagten erst jüngst eine aktuelle Welle von Angriffen auf Roma. Deutschland ist
nach Ansicht von Rudko Kawczynski die „romafeindlichste Regierung in
Europa“. Denn ungeachtet der Auffassung des Europarats und des UNHCR,
wonach eine Rückkehr von Roma in den Kosovo derzeit nicht in Betracht
komme, bestehe es auf seinem „Abschieberecht“ und dadurch hätten auch
andere europäische Länder ihre Zurückhaltung aufgegeben (ebd.).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wurde ein Rückübernahmeabkommen zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der „Republik Kosovo“ inzwischen abgeschlossen, und
wenn ja, ist dieses bereits in Kraft getreten, und wo ist es veröffentlicht,
wenn nein, wie ist der Stand der Verhandlungen?

2. Nach welchen Kriterien wird im Rahmen dieses Abkommens darüber ent-
schieden, ob für eine Person eine Pflicht zur Aufnahme besteht, und wie
sieht das entsprechende Feststellungsverfahren aus?

3. Was ist in diesem Abkommen ggf. zum Umgang mit Minderheitenangehö-
rigen vereinbart worden?

4. Was bedeutet die Zusage der deutschen gegenüber der kosovarischen Seite,
bei Abschiebungen solle auf ein „angemessenes Verhältnis der verschiede-
nen Ethnien des Kosovo geachtet“ werden, konkret (aus dem Erlass des
Innenministeriums Sachsen-Anhalts vom 25. Juni 2009)?

5. Inwieweit sind dritte Stellen wie der Hohe Kommissar für Flüchtlinge der
Vereinten Nationen (UNHCR) oder andere Menschenrechtsorganisationen
in die Verfahren zur Abschiebung bzw. Rücknahme von Personen aus dem
Kosovo eingebunden?

6. Wer trifft angesichts der zugesagten Obergrenze von maximal 2 500 Ab-
schiebungen jährlich nach welchen Kriterien die Auswahl der Personen, die
konkret abgeschoben werden sollen, und was genau wurde zur Bund-/Län-
der-Koordinierung vereinbart?

7. Wie viele „Abschiebungsaufträge“ wurden den zentralen Koordinierungs-
stellen bislang übermittelt, und wie verteilten sich diese Aufträge auf die
Personengruppen
– Straftäter,
– alleinreisende Erwachsene,
– Familien,
– alleinerziehende Elternteile,
– Alte und Pflegebedürftige,
– langjährig Aufhältige (seit 1. Januar 1998),
– unbegleitete Minderjährige
(bitte jeweils nach Bundesländern differenzieren)?

8. Wie viele Übernahmeersuchen wurden bislang an die kosovarische Seite ge-
stellt, wie vielen wurde stattgegeben, wie viele wurden zurückgewiesen (so-
weit möglich bitte auch die Zugehörigkeit zu den in der vorherigen Frage
benannten Personengruppen kenntlich machen), und wie lang war bislang
die durchschnittliche Bearbeitungsdauer, und welche konkreten Probleme
im Verfahren wurden bereits ersichtlich?

9. Erfolgen nur die Abschiebungen oder auch die Übernahmeersuchen in der
Reihenfolge der oben genannten Personengruppen, und ist mit Reihenfolge
gemeint, dass z. B. alleinstehende Erwachsene erst dann abgeschoben wer-
den, wenn zuvor alle ausreisepflichtigen „Straftäter“ abgeschoben wurden

(bitte näher erläutern)?

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10. Unter welchen genauen Umständen gilt in diesem Zusammenhang eine
Person als „Straftäter“ bzw. als „alt und pflegebedürftig“, und werden als
„Familien“ auch solche im Familienverbund lebende Familien mit voll-
jährigen Kindern angesehen?

11. Hat die Bundesregierung Kenntnis von Berichten über gewalttätige Über-
griffe auf Minderheitenangehörige im Kosovo, und welche Rolle spielen
bzw. spielten entsprechende Berichte von Menschenrechtsorganisationen
bei den Verhandlungen über ein Rückübernahmeabkommen?

12. Informiert sich die Bundesregierung selbständig und unabhängig über Ge-
walt gegen ethnische Minderheiten im Kosovo, oder verlässt sie sich dabei
auf Berichte der kosovarischen Seite?

13. Hat die Bundesregierung Kenntnis von Vorwürfen, rassistisch motivierte
Übergriffe auf Roma und andere Minderheitenangehörige im Kosovo
würden von offiziellen Stellen regelmäßig als Nachbarschaftsstreit oder
Auseinandersetzung rivalisierender krimineller Banden verharmlost, und
welche eigenen Erkenntnisse hat sie dazu?

14. Wie viele Personen mit erwiesener oder mutmaßlicher Herkunft aus dem
Kosovo leben derzeit in Deutschland, die

a) vor 1998,

b) in den Jahren 1998 und 1999,

c) in den Jahren 2000 und folgende

eingereist sind, und wie viele von ihnen haben jeweils die kosovarische,
serbische oder eine andere Staatsangehörigkeit (bitte nach Jahren und Bun-
desländern auflisten)?

15. Wie viele Personen mit erwiesener oder mutmaßlicher Herkunft aus dem
Kosovo leben derzeit in Deutschland,

a) deren Aufenthalt geduldet wird,

b) die im Besitz einer Aufenthaltsgestattung sind,

c) die im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sind,

d) die im Besitz einer Niederlassungserlaubnis sind,

wie viele von ihnen haben jeweils die kosovarische, serbische oder eine an-
dere Staatsangehörigkeit, wie viele von ihnen sind (vollziehbar) ausreise-
pflichtig, und wie lange leben diese Personengruppen jeweils im Durch-
schnitt bereits in Deutschland?

16. Wie viele der hier lebenden bzw. ausreisepflichtigen Personen aus dem
Kosovo gehören nach Kenntnis der Bundesregierung den ethnischen Grup-
pen der Kosovo-Albaner, Kosovo-Serben, Roma, Ashkali und Ägypter an
(bitte differenzieren), und welche sonstigen Angaben oder Schätzungen
sind der Bundesregierung dazu bekannt?

17. Wie viele Personen aus dem Kosovo sind seit 1999 nach Jugoslawien,
Serbien bzw. in die „Republik Kosovo“ oder in einen Drittstaat abge-
schoben worden, wie viele sind „freiwillig“ ausgereist oder zurückgekehrt,
und wie viele Rückkehrhilfen und sonstige Zuwendungen haben sie von
der Bundesrepublik Deutschland erhalten (bitte nach Jahren auflisten)?

18. In wie vielen Fällen ist seit 1999 ein Widerrufsprüfverfahren zur Flücht-
lingseigenschaft bzw. der Asylanerkennung von Menschen aus dem
Kosovo eingeleitet worden, und mit welchen Ergebnissen (bitte nach
Jahren auflisten)?

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19. Wie schätzt die Bundesregierung derzeit die Fähigkeiten und die Bereit-
schaft der Regierung des Kosovo ein, für die „Rücknahme“ eigener Staats-
angehöriger Identitätspapiere auszustellen?

20. Welche Nachweise mussten in der Vergangenheit (bis 2008) gegenüber der
UNMIK bzw. der Regierung des Kosovo erbracht werden, um die Herkunft
einer ausreisepflichtigen Person aus dem Kosovo bzw. eine entsprechende
Rücknahmeverpflichtung nachzuweisen, und welche Nachweise sind im
Rahmen des Rückübernahmeabkommens erforderlich?

21. Welche Vorgehensweisen hat die Bundesregierung für Fälle vorgesehen, in
denen eine Staatsangehörigkeit nicht (einfach) zu ermitteln ist, zum Bei-
spiel bei vor dem 1. Januar 1998 eingereisten Personen, und welche ande-
ren staatsangehörigkeitsrechtlichen Probleme im Zusammenhang der
Sezession des Kosovo sind der Bundesregierung bekannt?

22. Teilt die Bundesregierung die Ansicht, dass hier geborenen bzw. aufge-
wachsenen Kindern jugoslawischer bzw. serbischer bzw. kosovarischer
Staatsangehörigkeit im Rahmen des humanitären Aufenthaltsrechts ein
Aufenthaltstitel verliehen werden kann/soll/muss, unter welchen Voraus-
setzungen, und wie begründet sie ihre Ansicht?

23. Welche Hilfen zur Wiedereingliederung „rückgeführter“ Personen aus dem
Kosovo hat die Bundesregierung mit den vor Ort politisch Verantwort-
lichen oder sonstigen Organisationen vereinbart, welche Zielvereinbarun-
gen wurden zu diesen Wiedereingliederungshilfen abgeschlossen, und wie
sehen die Kontrollmechanismen dazu aus?

24. Teilt die Bundesregierung die Befürchtung des Menschenrechtskommis-
sars des Europarates, dass die massenhafte Abschiebung von Minderhei-
tenangehörigen in den Kosovo „einen negativen Effekt auf die Situation
von Minderheitenangehörigen im Kosovo“ haben wird (siehe S. 28 des
zitierten Berichts), und welche Konsequenzen zieht sie hieraus?

25. Wie ist die Abschiebung von langjährig hier lebenden Roma in das Kosovo
damit vereinbar, dass die Diskriminierung und Ausgrenzung der Roma in
Europa allgemein kritisiert wird und eine Abschiebung in das Kosovo für
Roma bedeutet, dass sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in
absoluter Armut, Arbeitslosigkeit und Verelendung gefangen sein werden?

26. Warum setzt sich die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Ermor-
dung von 500 000 Sinti und Roma durch das NS-Regime nicht dafür ein,
den hier lebenden Roma aus dem Kosovo eine dauerhafte Zukunft und
einen sicheren Aufenthaltsstatus anzubieten, um das Leben der Roma-
Gemeinden in Deutschland zu stärken – vergleichbar der Aufnahmerege-
lung für jüdische Flüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion?

27. Warum sieht sich die Bundesregierung nicht in der Pflicht, den Roma aus
dem Kosovo einen sicheren Aufenthaltsstatus zu gewähren, obwohl die
Vertreibung der Roma und ihre jetzige verzweifelte Lage im Kosovo eine
Folge des völkerrechtswidrigen Angriffs der NATO auf die Bundes-
republik Jugoslawien war bzw. ist?

Berlin, den 24. September 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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