BT-Drucksache 16/13971

Entscheidungshistorie der Atommüll-Einlagerung ins Endlager Morsleben in den 1990er Jahren

Vom 31. August 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/13971
16. Wahlperiode 31. 08. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn,
Cornelia Behm, Bettina Herlitzius, Winfried Hermann, Peter Hettlich, Ulrike
Höfken, Dr. Anton Hofreiter, Undine Kurth (Quedlinburg), Nicole Maisch,
Brigitte Pothmer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Entscheidungshistorie der Atommüll-Einlagerung ins Endlager Morsleben
in den 1990er Jahren

Ab dem 30. Januar 1994 wurden in das Endlager für radioaktive Abfälle Mors-
leben (ERAM) insgesamt 22 321 m³Atommüll eingelagert. Dies entspricht in
etwa der doppelten Menge, die zu DDR-Zeiten ins ERAM verbracht wurde.
Basis der Einlagerung nach der Wende war – durch ein rechtliches Konstrukt
über den Wiedervereinigungsvertrag – die alte DDR-Genehmigung. Nach da-
maligem westdeutschen Standard wäre die Einlagerung in den 1990er Jahren
aufgrund des fehlenden Planfeststellungsverfahrens und des fehlenden
Langzeitsicherheitsnachweises nicht genehmigungsfähig gewesen. Entspre-
chend umstritten war die Entscheidung der damaligen Bundesregierung.

Zeitungsberichten aus dem Jahr 1990 zufolge hatten die westdeutschen Ener-
gieversorgungsunternehmen (EVU) großes Interesse daran, radioaktive Abfälle
ins ERAM einzulagern. Dies hielten sie schriftlich im Vertrag zur Übernahme
der DDR-Stromwirtschaft fest (vgl. DER TAGESSPIEGEL vom 10. Juli 1990).
Heute ist klar, dass das ERAM massiv sanierungsbedürftig war und ist. Ange-
sichts dessen stellt sich die Frage, inwieweit die Energiekonzerne damals ihre
Interessen gegenüber einer atomkraftfreundlichen Bundesregierung auf Kosten
der Bevölkerung durchsetzen konnten.

Die enormen ERAM-Sanierungskosten von geschätzten 2,2 Mrd. Euro müssen
die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler tragen. Angesichts dessen stellt sich
insbesondere auch die Frage, weshalb die damalige Bundesregierung von den
kommerziellen Abfallanlieferern fixe Einlagerungsgebühren verlangte. Die seit
1998 über das ERAM gewonnenen Erkenntnisse belegen, dass zu dem Zeit-
punkt, als die damalige Bundesregierung die Einlagerungsgebühren festsetzte,
die tatsächlichen Kosten für das ERAM noch keineswegs sicher bekannt sein
konnten. Durch die damals vorgenommene Gebührendeckelung entspricht der
Kostenanteil der kommerziellen Abfallanlieferer mit rund 3,8 Prozent heute nur
einem Zehntel der Summe, die sie nach dem Verursacherprinzip entrichten
müssten.

Wir fragen die Bundesregierung:

Angelieferte Abfälle

1. Wie viel radioaktive Abfälle (Volumen oder Radioaktivität) lieferten ost-
deutsche Atomkraftwerke (AKW), westdeutsche AKW und andere Abfall-
anlieferer von 1971 bis 1998 jeweils pro Jahr zur Einlagerung im ERAM
an?

Drucksache 16/13971 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

2. Wie viel radioaktive Abfälle (Volumen oder Radioaktivität) erwartete die
Bundesregierung zum Zeitpunkt der Festsetzung der ab 1994 geltenden
Einlagerungsgebühren für die einzelnen Jahre bis Einlagerungsende von
ostdeutschen AKW, westdeutschen AKW und anderen Abfall-Anlieferern?

Kosten zum Ausbau des ERAM für die weitere Einlagerung nach der Wieder-
vereinigung

3. Welche Kosten erwartete die Bundesregierung 1991 für den vor der weite-
ren Einlagerung notwendig erachteten Ausbau des ERAM?

4. Wie hoch lagen die tatsächlichen Kosten für den Ausbau des ERAM ab der
Wiedervereinigung bis 1993?

5. Wurden von den späteren Abfallanlieferern

a) ostdeutsche AKW,

b) westdeutsche AKW und

c) andere jeweils Einnahmen für den Ausbau vor der weiteren Einlagerung
erzielt?

Wenn ja, von wem, in welcher Höhe, und in welchem Jahr?

Einlagerungsgebühren

6. Welche Gebühren wurden in welchem Jahr für die Einlagerung welcher
Arten von Abfällen aus welchen Quellen verlangt (bitte tabellarische Dar-
stellung)?

7. Welche Einnahmen resultierten aus den Einlagerungsgebühren pro Jahr
und Abfallanlieferer (bitte auch die je Anlieferer eingelagerte Anzahl von
Abfallgebinden im betreffenden Jahr angeben)?

8. Welche Einnahmen erwartete die Bundesregierung aus Einlagerungs-
gebühren in den einzelnen Jahren nach der Wiedervereinigung bis zum
Einlagerungsende, als die Einlagerungsgebühren festgesetzt wurden (bitte
differenziert nach Abfallanlieferer ausweisen)?

9. In welchem Dokument bzw. welchen Dokumenten welchen Datums wur-
den die Gebühren für die ab 1994 eingelagerten radioaktiven Abfälle fest-
gesetzt?

10. Welches Dokument bzw. welche Dokumente welchen Datums stellte/stell-
ten die Kalkulationsgrundlage für die festgesetzten Einlagerungsgebühren
dar?

11. Welche Eckpunkte enthielt die Kalkulation der Einlagerungsgebühren?

12. Aus welchen Kostenpositionen in welcher Höhe setzten sich die festgesetz-
ten Einlagerungsgebühren zusammen (bitte ggf. nach Gebührenart diffe-
renzieren)?

13. Wie wurde die Höhe dieser einzelnen Kostenpositionen fachlich bestimmt?

Flossen hier Erfahrungswerte aus dem ERAM oder anderen Endlagern der
Bundesrepublik Deutschland ein, oder beruhte die Festlegung allein auf
Erwartungen über zukünftige Kosten?

14. Ist die Bundesregierung bereit, dem Deutschen Bundestag die Dokumente
zur Kalkulation bzw. Festsetzung der Einlagerungsgebühren zur Verfügung
zu stellen?

15. Von welchen Betriebs- und Stilllegungskosten ging die Bundesregierung
im Jahr der Festsetzung der Einlagerungsgebühren bis zur endgültigen
Schließung des ERAM aus?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/13971

16. Enthalten die Dokumente zur Kalkulation bzw. Festsetzung der Einlage-
rungsgebühren Aussagen über den erwarteten Deckungsbeitrag der Ein-
nahmen an den erwarteten Kosten für ERAM?

Wenn ja, welche?

Wenn nein, hat das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Re-
aktorsicherheit (BMU) solche Erwartungen andernorts formuliert, und mit
welcher Aussage genau?

17. Befürwortete der damalige Abteilungsleiter des Bereiches Reaktorsicher-
heit, Strahlenschutz und Nukleare Entsorgung im BMU, Walter Hohlefelder
(heute Präsident der Lobbyorganisation Atomforum), in den Jahren 1990
bis 1994 eine weitere Einlagerung radioaktiver Abfälle in das ERAM, oder
lehnte er diese ab?

18. War der damalige Abteilungsleiter des Bereiches Reaktorsicherheit, Strah-
lenschutz und Nukleare Entsorgung im BMU, Walter Hohlefelder, an den
Entscheidungen über

a) den Zeitpunkt der Wiederaufnahme der Einlagerung im ERAM,

b) die geplanten einzulagernden Mengen radioaktiver Abfälle,

c) Bedingungen für die Annahme radioaktiver Abfälle im ERAM,

d) die Art der Beteiligung der Abfallanlieferer an den Kosten für den Aus-
bau des ERAM vor der weiteren Einlagerung und

e) die Einlagerungsgebühren beteiligt?

19. War der bis 1994 zuständige Abteilungsleiter des Bereiches Reaktorsicher-
heit, Strahlenschutz und Nukleare Entsorgung im BMU, Walter Hohle-
felder, an Bewertungen der Sicherheit des ERAM beteiligt?

20. War der ab 1994 zuständige Abteilungsleiter des Bereiches Reaktor-
sicherheit, Strahlenschutz und Nukleare Entsorgung im BMU, Gerald
Hennenhöfer, der Ende der 90er-Jahre zum Atomkraftwerke betreibenden
Konzern VIAG wechselte, an Bewertungen der Sicherheit des ERAM
beteiligt?

21. Sieht das Bundeskanzleramt einen Interessenkonflikt in der damaligen
Beteiligung der beiden Abteilungsleiter an wesentlichen Entscheidungen
zum ERAM und der späteren Funktion von Walter Hohlefelder und Gerald
Hennenhöfer für Betreiber von Atomkraftwerken?

22. Inwiefern und wie oft wurden im ERAM Stichproben der angelieferten Ab-
fälle durchgeführt, um die Einhaltung der Annahmebedingungen zu über-
prüfen?

23. Entsprach die Wiederaufnahme der Einlagerung ins ERAM ohne vorhan-
denen Langzeitsicherheitsnachweis dem damaligen Stand von Wissen-
schaft und Technik?

24. Entsprach sie westdeutschen Standards, und wäre sie nach damaligem
westdeutschem Atomrecht genehmigungsfähig gewesen?

25. Wie beurteilt das BMU die Quantität und Qualität der Dokumente und
Kenntnisse, auf Basis derer die damalige Bundesregierung die Wiederauf-
nahme der Einlagerung ins ERAM freigab?

Berlin, den 31. August 2009

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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