BT-Drucksache 16/13532

Integrationshindernisse durch türkische Wehrdienstpflicht für Auslandstürken

Vom 19. Juni 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/13532
16. Wahlperiode 19. 06. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen und der Fraktion DIE LINKE.

Integrationshindernisse durch türkische Wehrdienstpflicht für Auslandstürken

In der Türkei herrscht für alle Männer ab dem 20. Lebensjahr ohne Alters-
grenze Wehrdienstpflicht zwischen acht und 15 Monaten. Es gibt weder das
Recht auf Kriegsdienstverweigerung noch einen zivilen Ersatzdienst. Der türki-
schen Wehrdienstpflicht sind auch im Ausland lebende und sogar dort geborene
türkische Staatsbürger unterworfen. Sie müssen bis zu ihrem 38. Geburtstag
ihren „Militärdienst für das Mutterland“ in der Türkei abgeleistet haben. Für
dauerhaft als Arbeitsmigranten im Ausland lebende türkische Staatsbürger,
nicht aber für Studierende, gibt es die Möglichkeit einer finanziellen Ersatzleis-
tung vom türkischen Militärdienst (Bedelli Askerlik). Das Kopfgeld beträgt
5 112,92 Euro und erhöht sich nach Überschreiten der Altersgrenze von 38 Jah-
ren auf 7 668 Euro sowie bei über 40-Jährigen auf 10 000 Euro. Zusätzlich zur
Zahlung des Kopfgeldes muss ein dreiwöchiger Militärdienst in der Brigade-
kommandantur für Soldatenausbildung in der südwestanatolischen Kleinstadt
Buldur abgeleistet werden. Dieser symbolische Wehrdienst besteht vor allem
aus ideologischer Beeinflussung im Sinne der türkischen kemalistischen Staats-
ideologie. Die Schulungen haben Titel wie „Der Terror“ – gemeint ist die kur-
dische Frage, „Türkisch-armenische Beziehungen“ – hier wird der türkische
Genozid an den Armeniern während des ersten Weltkrieges geleugnet – oder
„Geopolitische Lage der Türkei“ – hier geht es um angebliche Pläne des Aus-
landes zur Aufspaltung der Türkei. Einzelne Kursteilnehmer werden zudem
von einem Offizier über ihnen bekannte „feindliche Personen“– beispielsweise
türkisch-kurdische Oppositionelle in Deutschland – befragt.

Die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft wäre für viele in der Bundes-
republik Deutschland lebende und sogar hier geborene türkische Staatsbürger
eine Möglichkeit, dem türkischen Militärdienst zu entkommen. Voraussetzung
ist, dass sie die restriktiven Einbürgerungsbedingungen erfüllen, also z. B.
keine Hartz-IV-Empfänger sind oder wegen etwaiger „Jugendsünden“ polizei-
lich registriert sind.

Voraussetzung für eine Einbürgerung ist nach deutschem Recht zudem die
vorige Entlassung aus der türkischen Staatsbürgerschaft. Ohne geleisteten
Wehrdienst oder Freikauf wird dies von den türkischen Behörden bei Betroffe-
nen ab Mitte 30 allerdings häufig verweigert. „Hiermit bescheinigen wir, dass

Herr N. N. gemäß Beschluss des türkischen Innenministeriums nicht aus der
türkischen Staatsbürgerschaft entlassen werden kann, da er wegen nicht geleis-
tetem Militärdienst gesucht wird“, heißt es dann beim türkischen Generalkon-
sulat. Sollte ein solcher als fahnenflüchtig geltender „Auslandstürke“ in die
Türkei reisen, droht ihm die Festnahme und anschießende Zwangsrekrutierung.
Zudem wird über 38-jährigen Auslandstürken ohne Ableistung des Wehrdiens-
tes oder des Bedelli Askerlik eine konsularische Verlängerung ihrer Pässe ver-

Drucksache 16/13532 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

weigert. Bei der gleichzeitigen Weigerung deutscher Behörden, ihnen die deut-
sche Staatsbürgerschaft zu geben, werden sie so in Deutschland in die Illegali-
tät mit allen sozialen und beruflichen Folgen gedrängt. Die türkische Wehr-
dienstpflicht auch für Auslandstürken ist ebenso wie der Umgang deutscher
Behörden mit den staatsbürgerschaftlichen Folgen für die Betroffenen ein er-
hebliches Integrationshindernis für in Deutschland lebende und einbürgerungs-
willige türkische Staatsbürger.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wird von deutschen Behörden statistisch erfasst, ob in Deutschland lebende
türkische Staatsbürger türkischen Wehrdienst leisten müssen oder bereits
geleistet haben?

a) Wenn ja, wie viele in Deutschland gemeldete türkische Staatsbürger sind
nach Kenntnis der Bundesregierung von der türkischen Wehrpflicht er-
fasst?

b) Wenn ja, wie viele in Deutschland gemeldete türkische Staatsbürger
haben bislang ihren Wehrdienst vollständig in der Türkei abgeleistet?

c) Wenn ja, wie viele in Deutschland gemeldete türkische Staatsbürger
haben sich nach der Regelung des Bedelli Askerlik vom vollständigen
Wehrdienst in der Türkei freigekauft?

d) Wenn ja, wie viele in Deutschland gemeldete türkische Staatsbürger
haben sowohl die Ableistung des Wehrdienstes in der Türkei als auch den
Bedelli Askerlik bislang verweigert?

e) Wenn ja, wie viele deutsch-türkische Doppelstaatler haben sich die
Ableistung ihres deutschen Wehr- oder Zivildienstes von der Türkei aner-
kennen lassen?

2. Inwieweit und mit welchem Ergebnis hat die Bundesregierung in der Ver-
gangenheit die Problematik des auch für Auslandstürken geltenden Wehr-
dienstzwangs gegenüber der türkischen Regierung thematisiert, bzw. inwie-
weit gedenkt die Bundesregierung zukünftig diese Thematik anzusprechen?

3. Wie beurteilt die Bundesregierung die Problematik, dass viele in Deutsch-
land gemeldete türkische Staatsbürger aus wirtschaftlichen Gründen weder
in der Lage sind, ihren Wehrdienst in der Türkei abzuleisten, noch die zum
Bedelli Askerlik notwendige Summe bis zur Altergrenze von 38 Jahren auf-
zubringen, und inwieweit liegen ihr hierzu konkrete Zahlen vor?

4. Inwieweit sind der Bundesregierung Fälle bekannt, in denen die türkischen
Behörden eine Entlassung von in Deutschland lebenden und gemeldeten tür-
kischen Staatsbürger aus der türkischen Staatsbürgerschaft verweigern, so-
lange diese ihren Wehrdienst in der Türkei nicht abgeleistet oder sich durch
den Bedelli Askerlik freigekauft haben?

5. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Einschätzung der Fragesteller, dass
die Verweigerung einer Entlassung aus der türkischen Staatsbürgerschaft vor
Ableistung des türkischen Wehrdienstes beziehungsweise Freikaufs durch
den Bedelli Askerlik einer Kopfgelderpressung der Betroffenen gleich-
kommt?

6. Inwieweit hält die Bundesregierung es für gerechtfertigt, einbürgerungswil-
ligen in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürgern die deutsche Staats-
bürgerschaft unter Verweis auf die bestehende türkische Staatsbürgerschaft
zu verweigern, wenn diese Personen nur aufgrund der rigiden türkischen
Wehrpflichtregelungen nicht aus der türkischen Staatsbürgerschaft entlassen

werden?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/13532

a) Inwieweit berücksichtigt sie dabei, dass diese Wehrpflichtregelungen,
insbesondere die Vorenthaltung der Möglichkeit eines zivilen Ersatz-
dienstes, nicht den von der Europäischen Menschenrechtscharte gefor-
derten Standards entsprechen?

b) Inwieweit berücksichtigt sie dabei, dass jene türkischen Staatsbürger, die
aus Gewissensgründen die Ableistung des Militärdienstes incl. des Be-
delli Askerlik verweigern, einzig aufgrund dieser Wahrnehmung eines
Menschenrechtes von der Möglichkeit, einen deutschen Pass zu erwer-
ben, ausgeschlossen werden?

c) Inwieweit stellt die Bundesregierung Überlegungen an, zumindest bei
Kriegsdienstverweigerern aus Gewissensgründen Ausnahmeregelungen
zuzulassen und auch bei Weiterbestehen einer türkischen Staatsbürger-
schaft Einbürgerungen vorzunehmen, und welche konkreten Schritte be-
absichtigt sie zu tun?

7. Inwieweit sieht die Bundesregierung in der Weigerung deutscher Behörden,
einbürgerungswilligen hier lebenden türkischen Staatsbürgern einen deut-
schen Pass zu geben, wenn die türkischen Behörden ihnen aufgrund des
nicht abgeleisteten türkischen Wehrdienstes die Entlassung aus der türki-
schen Staatsbürgerschaft verweigern, ein Integrationshindernis?

8. Wie beurteilt die Bundesregierung die Weigerung des türkischen General-
konsulats, über 38-jährigen lebenden Auslandstürken vor Ableistung des
Wehrdienstes den Pass zu verlängern, angesichts der Gefahr der damit ver-
bundenen Illegalisierung der Betroffenen in Deutschland?

Berlin, den 19. Juni 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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