BT-Drucksache 16/12548

Widersprechende Angaben zur Situation des griechischen Asylsystems

Vom 1. April 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12548
16. Wahlperiode 01. 04. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Kersten Naumann, Petra Pau, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Widersprechende Angaben zur Situation des griechischen Asylsystems

In einer am 5. Januar 2009 veröffentlichten Antwort der Bundesregierung auf
eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE „Zweifel an der Einstufung
Griechenlands als ,sicherem Drittstaat‘ im Asyl- bzw. Dublin II-Verfahren“ be-
zieht sich die Bundesregierung auf einen Bericht des Bundesamtes für Migra-
tion und Flüchtlinge (BAMF) von Ende November 2008 (Bundestagsdruck-
sache 16/11543). Diese Antwort kann dahingehend zusammengefasst werden,
dass es „in Einzelfällen Schwierigkeiten bei der Bereitstellung ausreichender
Kapazitäten geben kann, die im Einzelfall gegenüber den betroffenen Asyl-
bewerbern zu persönlichen Härten und erheblichen Schwierigkeiten führen
können“ (siehe ebenda, Antwort zu Frage 10). Insgesamt sei aber der Status
Griechenlands als „sicherem Drittstaat“ nicht in Zweifel zu ziehen, alle EU-
Richtlinien zur Aufnahme von Schutzsuchenden und zur Prüfung ihres Schutz-
ersuchens seien in nationales Recht umgesetzt.

Einer der genannten „Einzelfälle“ ist der irakische Staatsangehörige Walid
M. A. Er ist am 11. Dezember 2008 im Rahmen der Dublin II-Verordnung von
der Bundesrepublik Deutschland nach Griechenland rücküberstellt worden.
Dort war er zunächst in der Flughafenunterkunft, die er selbst als Gefängnis be-
schrieb. Seitdem ist er obdachlos und lebt mit 13 Landsleuten auf Kreta in einer
Garage, für die er 40 Euro Miete monatlich bezahlen muss. Bei seiner Ankunft
am Athener Flughafen wurde mit ihm ein Gespräch geführt, allerdings ohne
Dolmetscher. Er erhielt eine „Rote Karte“, die seinen Aufenthalt zunächst für
ein halbes Jahr legalisiert. Als Wohnort ist dort eingetragen, dass er obdachlos
sei. Alle Bescheide zu seinem Asylverfahren werden daher „öffentlich“ zuge-
stellt durch einen Aushang in der zentralen Ausländerbehörde in Athen. Walid
M. A. werden von griechischer Seite keinerlei Mittel zum Lebensunterhalt oder
medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Er ist auf illegale Arbeitsgele-
genheiten und Überweisungen seiner zivilgesellschaftlichen Unterstützer in der
Bundesrepublik Deutschland angewiesen. Auch diese sind jedoch nicht aus-
reichend, um eine notwendige Behandlung gegen eine Hautinfektion zu finan-
zieren, die sich Walid M. A. durch die völlig unzureichenden Umstände seiner
Unterkunft zugezogen hat.
Dieser Einzelfall widerspricht komplett der Darstellung im Bericht des BAMF,
der unter anderem auch gegenüber dem Petitionsausschuss des Deutschen Bun-
destages und mehreren Verwaltungsgerichten abgegeben wurde. Dass es sich
keineswegs „nur“ um einen Einzelfall handelt, legt wiederum ein aktueller Be-
richt von PRO ASYL vom 17. Februar 2009 nahe, der u. a. den Mitgliedern des
Innenausschusses vorliegt. Aus diesem geht hervor, dass rücküberstellte
Schutzsuchende in Griechenland weitgehend rechtlos sind. Die Darstellungen

Drucksache 16/12548 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

des BAMF seien dagegen „unzutreffend und ergänzungsbedürftig“, so PRO
ASYL. Sie blendeten zentrale Problemfelder aus und seien in der Gesamtschau
verharmlosend. Erschwerend komme hinzu, dass den Verwaltungsgerichten als
Basis für ihre Entscheidung über Rücküberstellungen nach Griechenland eine
Version des Berichts zur Verfügung gestellt werde, die „einige wichtige
Aspekte (…) und Fakten einfach vorenthält“ (S. 8 des Berichts „Zur aktuellen
Situation von Asylsuchenden in Griechenland“). Die teils eklatanten Wider-
sprüche zwischen den Berichten des BAMF einerseits und andererseits von
PRO ASYL, Human Rights Watch, des Hohen UN-Flüchtlingskommissars, des
Schweizerischen Bundesamtes für Migration und zuletzt des Menschenrechts-
kommissars des Europarates Thomas Hammarberg bedürfen einer Klärung.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Kann die Bundesregierung bestätigen, dass in den Stellungnahmen des Bun-
desamtes für Migration und Flüchtlinge gegenüber deutschen Verwaltungs-
gerichten und dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages die Aus-
führungen von K. S. (UNHCR Griechenland) aus dem Dienstreisebericht
(wie er nach eigenen Angaben PRO ASYL vorliegt) verschwiegen werden,
wonach bei Dublin II-Überstellten nach Griechenland

a) im Falle eines z. B. wegen Abwesenheit erfolgten rechtskräftigen Ab-
schlusses des Verfahrens in der 1. Instanz der Zugang zum Asylverfahren
verwehrt werde,

b) Flugbegleiter bei Anhörungen am Flughafen als Dolmetscher eingesetzt
würden,

c) der Zugang von Überstellten zur zentralen Ausländerbehörde in der
Petrou-Ralli-Straße in Athen oft nicht möglich sei und es infolgedessen
„Probleme bei der Registrierung“ gebe,

d) die Nichtregierungsorganisationen keine ausreichenden Kapazitäten für
eine Beratung der Betroffenen hätten,

e) in der Praxis keine materielle Prüfung der Asylanträge stattfinde,

f) es Flüchtlingsfamilien mit „Roter Karte“ gebe, die dennoch in Obdach-
losigkeit lebten,

und wie begründet das BAMF gegebenenfalls diese selektive Weitergabe
von Informationen aus dem Dienstreisebericht, hält sie die oben genannten
Informationen für zutreffend, und welche Schlussfolgerungen zieht sie hier-
aus?

2. Kann die Bundesregierung bestätigen, dass in den Stellungnahmen des
BAMF gegenüber den Verwaltungsgerichten Informationen aus dem aus-
führlichen Dienstreisebericht vorenthalten werden, die aus einem Gespräch
mit Vertretern des Griechischen Flüchtlingsrats stammen, nämlich

a) der Hinweis des Flüchtlingsrates, dass es derzeit eine Aufnahmekapazität
von 900 Plätzen in Unterkünften für Flüchtlinge gebe, der eine Zahl von
23 000 betroffenen Personen gegenüberstehe,

b) dass sich selbst vor dem Gebäude des Flüchtlingsrates obdachlose
Flüchtlinge aufhalten und seine eigenen Unterkünfte voll ausgelastet
seien,

c) der Hinweis auf zwölf obdachlose Familien in einem Park,

d) der Hinweis des Griechischen Flüchtlingsrates auf die Gefahr des indi-
rekten Refoulements (Zurückweisung von Flüchtlingen in ihren Her-

kunftsstaat oder unsichere Drittstaaten ohne inhaltliche Prüfung ihres
Schutzgesuches),

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/12548

und wie begründet das BAMF bzw. die Bundesregierung ggf. diese selektive
Weitergabe von Informationen aus dem Dienstreisebericht, hält sie die oben
genannten Informationen für zutreffend, und welche Schlussfolgerungen
zieht sie hieraus?

3. Kann die Bundesregierung nachvollziehen, dass PRO ASYL die Darstellung
der asylrelevanten Situation in Griechenland durch das BAMF unzutreffend
und verharmlosend nennt, insbesondere im Hinblick auf

a) eine bagatellisierende Darstellung der Situation vor den Toren der zentra-
len Ausländerbehörde in Athen,

b) die Behauptung, Dublin II-Überstellte seien von der Problematik der
Zugangsverweigerung bzw. -behinderung bei der zentralen Ausländer-
behörde nicht betroffen, wobei die Problematik der Registrierung als
„wohnsitzlos“ ausgeblendet wird,

c) die Behauptung, es gebe überhaupt kein Problem mit Obdachlosigkeit für
Asylsuchende in Athen,

d) die Behauptung, bei den Rücküberstellungen seien Dolmetscher am Flug-
hafen anwesend,

e) eine von BAMF und BMI betriebene trennscharfe Unterscheidung von
Asylsuchenden (inner- und außerhalb eines regulären Verfahrens) und
Dublin II-Rücküberstellten, die in der Praxis der griechischen Behörden
keine Rolle spielt?

4. Wie verhält sich die Bundesregierung zu den zahlreichen von im oben ge-
nannten Bericht von PRO ASYL zusammengestellten Stellungnahmen des
Griechischen Ombudsmannes, des Schweizerischen Bundesamtes für Mi-
gration, des UNHCR, des Menschenrechtskommissars des Europarates, von
Human Rights Watch und den Aussagen eines Polizisten aus Attika, wonach
der Zugang zur zentralen Ausländerbehörde aktiv versperrt werde, Termine
für die Annahme von Schutzgesuchen willkürlich und selektiv vergeben
würden, und das auch ganz klar der Abschreckung diene?

5. Sieht die Bundesregierung irgendeinen Widerspruch zwischen ihrer Behaup-
tung, die Asylantragstellung in der zentralen Ausländerbehörde an Sonn-
tagen sei eine „Serviceleistung“ für die Betroffenen, die unter der Woche
arbeiteten, und der Tatsache, dass die Betroffenen weder über einen Auf-
enthaltsstatus noch eine Arbeitserlaubnis verfügen, solange sie dort nicht
vorsprechen durften (bitte begründen)?

6. Sieht die Bundesregierung keine Schikane in der Behandlung der Asylsu-
chenden, wenn von 1 000 bis 3 000 Asylsuchenden jeden Sonntag lediglich
300 einen Asylantrag stellen können bzw. einen regulären Vorsprachetermin
erhalten, und wie bezeichnet die Bundesregierung ein solches Vorgehen von
Behörden (bitte begründen)?

7. Hält die Bundesregierung an ihrer Behauptung fest, es gebe nach solchen
Wochenenden vor der Ausländerbehörde in Athen keine Festnahme der
(dann immer noch) illegalen Ausländer, „weil das Problem ja bekannt sei“,
obwohl nach Aussagen des Griechischen Ombudsmannes und griechischer
Organisationen zahlreiche Inhaftierungen vorgenommen werden?

8. Haben sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BAMF oder des BMI in
Griechenland mit der Qualität und dem Gehalt der Befragungen von Asylsu-
chenden befasst, und welche Einschätzung hat die Bundesregierung zur
Feststellung des UNHCR (Bericht von Dezember 2008), wonach

a) „Art und Weise und der Umfang der Interviews sowie die Art der an-

schließenden Protokollierung nicht mit internationalen Standards eines
fairen Asylverfahrens vereinbar“ sei,

Drucksache 16/12548 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

b) „die ablehnenden Bescheide jede Befassung mit den vorgetragenen
Asylgründen vermissen“ ließen?

9. Welche Einschätzung vertritt die Bundesregierung zur Kritik des Men-
schenrechtskommissars des Europäischen Rates, das Fehlen von Dol-
metschern sei ein chronisches Problem im griechischen Asylsystem?

10. Welche Einschätzung vertritt die Bundesregierung zur im PRO ASYL-Be-
richt wiedergegebenen Aussage der Vertreterin der griechischen amnesty
international-Sektion, die im Rahmen ihres Dublin-Monitoring-Projektes
berichtet hat, dass nach ihren Erkenntnissen keine Anhörung oder Beleh-
rung von Rücküberstellten unter Hinzuziehung eines Dolmetschers statt-
fand?

11. Welche eigenen Erkenntnisse hat die Bundesregierung zur Verteilung von
fünfsprachigen Informationsblättern des UNHCR, die angeblich an alle
von der Polizei festgenommenen Asylsuchenden ausgehändigt werden?

Welche Einschätzung vertritt sie zu Angaben von Menschenrechtsorganisa-
tionen, dass diese Flugblätter fast kaum verteilt werden?

Worauf beruhen diese Erkenntnisse?

12. Welche eigenen Erkenntnisse hat die Bundesregierung zu den Hinweisen
auf der so genannten Roten Karte, die die Asylsuchenden bei ihrer Regis-
trierung ausgehändigt bekommen?

Enthält diese, wie im BAMF-Bericht behauptet, alle „wesentlichen Verfah-
rensschritte“ oder vielmehr lediglich die „Mitwirkungspflichten“ bezogen
auf einen Wohnsitzwechsel?

Worauf beruhen diese Erkenntnisse?

13. Welche eigenen Erkenntnisse hat die Bundesregierung zur Darstellung des
Ecumenical Refugee Program, dass Dublin II-Überstellte genau so wie
Asylsuchende behandelt würden, und im Gegensatz zur Darstellung im
BAMF-Bericht auch niemand ihre Ankunft in der zentralen Ausländer-
behörde erwarte?

Worauf beruhen diese Erkenntnisse?

14. Welche eigenen Erkenntnisse hat die Bundesregierung

a) zur Unterbringung von Dublin II-Überstellten, denen nach Angaben aus
Griechenland genauso wenig wie Asylsuchenden im Erstverfahren Un-
terkünfte zur Verfügung gestellt werden,

b) zu Sozialleistungen an Asylsuchende und Dublin II-Überstellte, denen
nach den Bestimmungen des Präsidialdekretes zur Umsetzung der EU-
Aufnahmerichtlinie zwar ein Tagegeld zusteht, das aber wegen fehlen-
der Haushaltsmittel nicht ausgezahlt werden kann,

c) zu den Angaben von Flüchtlingsorganisationen und -anwälten, dass zum
22. Oktober 2008 in Athen über 100 Personen der höchsten Prioritäts-
stufe – Familien mit Kindern – obdachlos waren, am 24. November
(z. Zt. des Besuchs der BAMF-Mitarbeiterin) sogar ungefähr 176,

und wie bewertet sie diese Erkenntnisse, und welche Schlussfolgerungen
zieht sie hieraus?

15. Welche Einschätzung vertritt die Bundesregierung zur Position des Men-
schenrechtskommissars Thomas Hammarberg, dass derzeit die 2. Instanz
im Asylverfahren die Anforderungen an eine unabhängige Instanz nicht er-
füllt, da sie die Kriterien des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs für

die Unabhängigkeit solcher Instanzen nicht erfüllt (bitte begründen)?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/12548

16. Welche Einschätzung vertritt die Bundesregierung zur Position des Men-
schenrechtskommissars Thomas Hammarberg, auch die 3. Instanz („council
of state“) biete kein effektives Rechtsmittel im Sinne des Flüchtlingsschut-
zes, weil sich Prozesse so lange hinzögen („well-known, chronic problem
of excessively lengthy proceedings“)?

17. Ist es zutreffend, dass nach Angaben griechischer Behörden nach der
Dublin II-Verordnung Rücküberstellte in Griechenland in Bezug auf die
Unterbringung und den Zugang zum Asylverfahren „bevorzugt“ behandelt
werden, und welche Kenntnisse liegen der Bundesregierung diesbezüglich
vor?

a) Wenn ja, was sagt diese bevorzugte Behandlung über die Rechtsstaat-
lichkeit (Gleichbehandlungsgrundsatz) und „Fairness“ des griechischen
Asylsystems insgesamt aus, da im Umkehrschluss offenkundig alle an-
dere Asylsuchenden benachteiligt werden (bitte begründen)?

b) Wenn ja, folgt hieraus nicht, dass die Weiterflucht in die Bundesrepublik
Deutschland aus Sicht der Betroffenen selbst für den Fall „sinnvoll“
bzw. „rational“ ist, dass sie rücküberstellt werden, weil sich so ihre
Chancen auf Zugang zum Asylverfahren und eine Unterbringung in
Griechenland offenkundig verbessern (bitte begründen)?

c) Wenn ja, ist es nicht eine geradezu absurde Folge des Dublin II-Sys-
tems, wenn Rücküberstellte besser behandelt werden als andere Asyl-
suchende (bitte begründen)?

Berlin, den 27. März 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.