BT-Drucksache 16/125

Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer

Vom 29. November 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 16/125
16. Wahlperiode 29. 11. 2005

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen und der Fraktion DIE LINKE.

Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer

Im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD heißt es im Kapitel VIII
„Sicherheit für unsere Bürger“ im Abschnitt 1.2 zum Thema „Rückführung von
ausreisepflichtigen Ausländern“: „Wir wollen durch geeignete Maßnahmen die
Rückführung von ausreisepflichtigen Ausländern verbessern und praktische
Hindernisse der Abschiebung insbesondere von Straftätern soweit möglich be-
seitigen.“ Zur gleichen Zeit wurde insbesondere im Land Nordrhein-Westfalen
über Erleichterungen für bereits lange in der Bundesrepublik Deutschland le-
bende, aber ausreisepflichtige Ausländer insbesondere aus dem Kosovo und an-
deren Kriegs- und Krisenregionen debattiert. Der dortige Abschiebebeobachter
des „Forum Flughäfen“ Uli Sextro wurde in der „tageszeitung“ vom 10. Novem-
ber 2005 mit seiner Kritik an der Abschiebepraxis von Ausländerbehörden zi-
tiert: „Der besondere Schutz der Familie, wie er in Artikel 6 des Grundgesetzes
festgelegt wurde, gilt nicht für Flüchtlinge“, volljährige, in Deutschland aufge-
wachsene Flüchtlingskinder würden selbst dann abgeschoben, wenn die Eltern
ein Bleiberecht hätten. Menschen mit Posttraumatischen Belastungsstörungen
(PTBS) würden als ausreisefähig bereits dann eingestuft, wenn in ihren Her-
kunftsländern prinzipiell eine Behandlung möglich sei – egal, ob das wie im Fal-
le von Flüchtlingen aus dem Kosovo faktisch nicht möglich sei. Auffällig sei in
diesem Zusammenhang, dass von den Ausländerbehörden eine bestimmte Grup-
pe von Medizinern zur Begutachtung eingesetzt werde (Generalanzeiger Bonn
vom 10. November 2005). In seinem Erlass vom 7. September 2005 setzt das
Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen die Schwelle, ab der das
Vorliegen einer PTBS und einer Suizidgefahr ein Abschiebungs- bzw. Vollstre-
ckungshindernis darstellt, sehr hoch an. Der Ausländerdezernent und
Landeskirchenrat der Evangelischen Kirche im Rheinland, Jörn-Erik Gutheil,
kritisiert in diesem Zusammenhang auch das neue Zuwanderungsgesetz, das für
die immer rigorosere Abschiebepraxis verantwortlich sei. Ermessensspielräume
der Beamten in den Ausländerbehörden seien durch das Gesetz weggefallen, wie
Jörn-Erik Gutheil gegenüber dem Generalanzeiger Bonn vom 10. November
2005 äußerte. Bestätigt wird dies immer wieder durch Berichte in den Medien
über Flüchtlinge aus Bosnien oder dem Kosovo, die nach jahrelangem Aufent-
halt in der Bundesrepublik Deutschland in ihrem Heimatort integriert sind, aber
trotz zahlreicher Proteste von Mitschülern und Mitschülerinnen, Kolleginnen
und Kollegen oder ihrer Kirchengemeinde nach Ablauf ihrer Duldung abge-
schoben werden sollen. Beamte in den Ausländerbehörden erklären dabei regel-
mäßig, dass ihnen per Gesetz die Hände gebunden seien, auch wenn sie dem
Anliegen ihrer Mitbürger und Mitbürgerinnen an sich zustimmen.

Drucksache 16/125 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie ist die Zahl der Geduldeten derzeit und aus welchen Herkunftsstaaten
kommen sie (bitte Aufstellung)?

2. Sind nach Auffassung der Bundesregierung mit der im Koalitionsvertrag
genannten Gruppe ausreisepflichtiger Ausländer auch diejenigen gemeint,
die „geduldet“ sind, und sieht die Bundesregierung in diesem Zusammen-
hang Änderungsbedarf am Aufenthaltsgesetz, um das in der Gesetzesbe-
gründung zum Zuwanderungsgesetz angegebene Ziel der Reduktion der
Zahl der Geduldeten zu erreichen?

3. Welche „praktischen Hindernisse der Abschiebung“ sind nach Auffassung
der Bundesregierung im Koalitionsvertrag konkret gemeint und durch wel-
che geeigneten Maßnahmen beabsichtigt sie, diese zu beseitigen?

4. Welche Gruppen „ausreisepflichtiger Ausländer“, außer den genannten
Straftätern, sind nach Auffassung der Bundesregierung im Koalitionsver-
trag gemeint (bitte Aufstellung)?

5. Beabsichtigt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang, in den
Rechtsschutz der betroffenen Ausländer einzugreifen, insbesondere durch
die generelle Aufhebung des rechtsstaatlichen Grundsatzes der aufschieben-
den Wirkung von Klagen gegen Verwaltungsakte (hier: der Abschiebung),
wie dies bereits jetzt im Asylverfahrensgesetz der Fall ist?

6. Plant die Bundesregierung darüber hinaus Maßnahmen zur Verbesserung
der Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer, bei denen rechtliche Hin-
dernisse einer Abschiebung im Wege stehen?

Wenn ja, welche?

7. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass de facto schutzbedürftige
Flüchtlinge und Asylsuchende vom Zugang zu entsprechenden Anerken-
nungsverfahren ausgeschlossen werden, wenn ihre Einreise illegal war und
sie sich allein durch den Grenzübertritt strafbar gemacht haben, also de jure
zur Gruppe der Straftäter gehören?

8. Welche Maßnahmen sind in diesem Zusammenhang von der Bundesregie-
rung zur Stärkung des Flüchtlingsschutzes geplant?

9. a) Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, um den Schutz der
Familie und des Kindes im Flüchtlings- und Ausländerrecht zu stär-
ken?

b) Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, um die Integrität von
Familien zu wahren, deren Kinder während ihres Aufenthaltes in
Deutschland die Volljährigkeit (nach deutschem Recht) erreichen?

10. Teilt die Bundesregierung die in oben zitiertem Erlass und seinen Anlagen
dargelegte Ansicht des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfa-
len, dass die Abschiebung vollstreckt werden muss, wenn eine Behandlung
einer psychischen Erkrankung der Abzuschiebenden im Zielland prinzipiell
möglich ist, ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Möglichkeiten einer psy-
chischen Behandlung von Flüchtlingen mit PTBS im Zielland?

11. Welche Regelungen bestehen auf der Ebene der Länder im Umgang mit
Flüchtlingen, die unter einer PTBS oder akuter Suizidgefahr leiden (bitte
Aufstellung)?

12. Welche Vorhaben (in Form von Erlassen, politischen Initiativen bei der In-
nenministerkonferenz etc.) plant die Bundesregierung in der Frage der Ab-
schiebung von Flüchtlingen mit PTBS und/oder suizidgefährdeten Flücht-
lingen, deren Abschiebung unmittelbar bevorsteht?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/125

13. Welche Initiativen plant die Bundesregierung, um zukünftig Fälle von Ab-
schiebung von Familien oder Einzelpersonen zu vermeiden, die geduldet
sind, deren Duldung aber schon so lange besteht, dass von einem „regel-
mäßigen“ und „rechtmäßigen“ Aufenthalt gesprochen werden kann, und de-
nen also nach dem von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichneten
Europäischen Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit der Erwerb der
deutschen Staatsangehörigkeit erleichtert werden sollte?

14. Hält die Bundesregierung es in einer allgemeinen menschenrechtsorientier-
ten Abwägung für zumutbar, Menschen nach jahrelangem Aufenthalt in
Deutschland und den damit verbundenen persönlichen Perspektiven nicht
nur einen sicheren Aufenthaltsstatus zu verweigern, sondern sie sogar abzu-
schieben?

Berlin, den 29. November 2005

Ulla Jelpke
Sevim Dagdelen
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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