BT-Drucksache 16/12392

Missstände in der konventionellen Putenhaltung

Vom 20. März 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12392
16. Wahlperiode 20. 03. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann
und der Fraktion DIE LINKE.

Missstände in der konventionellen Putenhaltung

In Deutschland wurden im Jahr 2008 insgesamt etwa 36 Millionen Puten gehal-
ten. (Diese Zahl leitet sich aus der Schlupfmenge an Putenküken in Deutsch-
land ab.) Der größte Anteil davon konventionell. Der kleinste Anteil der Tiere
wird nach den Kriterien der ökologischen Tierhaltung und demzufolge eher
tiergerecht gehalten. Bei der überwiegend industriellen Putenhaltung werden
bis zu 10 000 Tiere gehalten.

Die meisten Verbraucherinnen und Verbraucher assoziieren mit Putenfleisch
eine gesunde und cholesterinarme Kost. Im Jahr 2007 lag der Pro-Kopf-Ver-
brauch bei etwa 6,1 kg. Nach einem Bericht des Norddeutschen Rundfunks
NDR vom 19. Februar 2009 werden in Deutschland in der Putenhaltung regel-
mäßig Antibiotika eingesetzt. Zum Teil, so der Bericht, werden die Antibiotika
während der gesamten Mastdauer der Tiere eingesetzt. Weiterhin ergaben
Recherchen des Senders, dass den Puten nach wie vor die Schnäbel gekürzt
werden. Diese Recherchen decken sich auch mit den Untersuchungen des Bun-
des für Umwelt und Naturschutz (BUND) in Nordrhein-Westfalen. Die Ergeb-
nisse der Studie wurden im Januar veröffentlicht (http://www.bund-nrw.de/
fileadmin/bundgruppen/bcmslvnrw/PDF_Dateien/Themen_und_Projekte/
Landwirtschaft_Gentechnik/BUNDhintergrund_Putenhaltung_2009.pdf). Bereits
im Jahr 2003 wurde vom BUND eine Studie zu Putenhaltung durchgeführt,
die gravierende Missstände aufzeigte. Diese bestätigten sich auch bei der durch
das Landwirtschaftsministerium Nordrhein-Westfalen durchgeführten Unter-
suchung. Auf dieser Grundlage stellten Anfang 2005 die Länder Nordrhein
Westfalen und Schleswig Holstein einen Antrag, der die Eindämmung des tier-
schutzwidrigen Schnabelkürzens zum Ziel hatte. Dieses Vorhaben wurde nicht
weitergeführt.

Aus der aktuellen Studie des BUND wie auch aus dem NDR-Bericht geht her-
vor, dass den in der Intensivmast gehaltenen Puten bereits als Küken fast aus-
nahmslos die empfindlichen Oberschnäbel gekürzt werden. Dadurch sollen
Federpicken und Kannibalismus, Folgen haltungsbedingter Verhaltensstö-
rungen, verhindert werden. Das Schnabelkürzen ist jedoch laut Allgemeiner
Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Tierschutzgesetzes (Nummer 4
Zu § 6 (Amputation)) verboten und darf (nach Nummer 4.1 Erlaubnis nach § 6

Abs. 3 Nr. 1) nur durchgeführt werden, „wenn bekannte, für Federpicken und
Kannibalismus (mit) ursächliche Faktoren soweit wie möglich ausgeschlossen
worden sind, aber dennoch der Gefahr des Auftretens dieses Verhaltens und der
damit verbundenen Schmerz-, Leidens- und Schadenszufügung der Tiere unter-
einander anders nicht begegnet werden kann.“ Diese Haltungsvorschrift findet
laut BUND-Bericht in Nordrhein-Westfalen praktisch keine Anwendung. Es ist
davon auszugehen, dass sich die Zustände in der industriellen Putenmast in den

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unterschiedlichen Bundesländern kaum voneinander unterscheiden. Haupt-
problem dabei ist jedoch, dass es in Deutschland keine rechtsverbindlichen
Vorgaben für Mindeststandards zur Putenhaltung gibt. Einzige Rechtsgrund-
lage ist das Tierschutzgesetz mit seinen Ausführungsbestimmungen (1999,
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Haltung von Legehennen in Käfigen,
in Kraft seit 2002, geändert 2006).

Die hohe Besatzdichte von 52 bis 58 kg/qm, die Langeweile in den Ställen, die
körperlichen Probleme durch zu schnelles Wachstum und schließlich auch das
Schnabelkürzen führen jedoch nicht nur zu schweren Tierschutzproblemen,
sondern letztlich auch zu verbraucherschutzrelevanten Fragen beispielsweise
im Bereich der Lebensmittelhygiene hinsichtlich einer massiv eingeschränkten
Tiergesundheit. Etwa zehn Prozent der geschlüpften und eingestallten Puten-
küken sterben während der Mast. Bereits nach 4 bis 5 Monaten haben Puten
aufgrund ihrer Zucht auf schnelles Wachstum – hierzulande wird der im
Ausland gezüchtete Hochleistungsmasthybrid B.U.T. Big 6 gemästet – ihr
Schlachtgewicht von 15 (Hennen) bzw. 20 kg (Hähne) und mehr erreicht. So-
mit sind die Tiere dreimal so schwer wie die Wildform. Problematisch dabei ist,
dass die Puten als Zuchtmerkmal eine besonders ausgeprägte Brustmuskulatur
haben. Da diese 30 Prozent des Körpergewichts ausmacht, es dadurch zu
Gleichgewichtsstörungen, schweren Schäden am Skelett-, Gelenk- und Band-
apparat und dadurch bedingten schmerzhaften Fehlstellungen der Gliedmaßen
kommt, wird in Fachkreisen auch von Qualzucht gesprochen. Untersuchungen
haben gezeigt, dass sich 85 bis 97 Prozent der Tiere am Ende der Mast nur noch
unter Schmerzen fortbewegen können. Eine individuelle tiermedizinische Ver-
sorgung ist in der industriellen Putenhaltung praktisch ausgeschlossen. Der
Einsatz von Antibiotika zur Therapie ist angesichts der Haltungsbedingungen
schlüssig. Allerdings sind sie zur Leistungssteigerung verboten. Dass sie,
wenngleich tierärztlich verschrieben – dennoch als solche eingesetzt werden,
haben ebenfalls die Recherchen des NDR gezeigt. Da es keine gesetzlich vor-
geschriebene Abgabemengenverordnung für Antibiotika, sondern lediglich
eine Ermächtigung im Arzneimittelgesetz gibt, kann der Umfang verkaufter
bzw. eingesetzter Antibiotika speziell in der industriellen Putenmast nur ge-
schätzt werden. Lediglich eine freiwillige Vereinbarung soll den Antibiotika-
einsatz in der Putenmast einschränken; angesichts des wirtschaftlichen Konkur-
renzkampfes der Betriebe ist hiervon jedoch keine große Wirkung zu erwarten.
Dies steht im Widerspruch beispielsweise zur Deutschen Antibiotika-Resis-
tenzstrategie (DART), die die Reduktion der Ausbreitung von Antibiotika-
Resistenzen in Deutschland zum Ziel hat. Unter anderem sieht die Strategie
vor, den sachgerechten Einsatz und verantwortungsvollen Umgang mit Anti-
biotika durch Tierärztinnen und Tierärzte sowie durch Landwirtinnen und
Landwirte zu fördern.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Puten wurden im Jahr 2008 in Deutschland gehalten (bitte auf-
schlüsseln nach konventioneller und nichtkonventioneller Haltung)?

2. Wie viele Betriebe zur Zucht und Mast von Puten gibt es in Deutschland?

3. Wie viele Puten bzw. wie viel Putenfleisch wurde 2008 nach Deutschland
importiert (bitte aufschlüsseln nach Herkunftsländern)?

4. Wie viele Puten wurden 2008 lebend nach Deutschland importiert, und wie
viele lebend aus Deutschland exportiert?

5. Welche Länder innerhalb der Europäischen Union gehören zu den größten
Produzenten von Putenfleisch?
6. In welchen Bundesländern werden die meisten Puten gemästet (bitte auf-
schlüsseln nach Bestand und Betriebsgröße)?

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7. In wie vielen Betrieben konnten 2008 aufgrund amtsveterinärmedizinischer
Kontrollen Verstöße gegen geltendes Tierschutzrecht bei der Haltung von
Puten festgestellt werden, und was für Konsequenzen hatte das für die
jeweiligen Betriebe?

8. In wie vielen Betrieben konnten 2008 aufgrund amtsveterinärmedizini-
scher Kontrollen Verstöße beim Einsatz von Medikamenten wie Anti-
biotika bei der Haltung von Puten festgestellt werden, und was für Konse-
quenzen hatte das für die jeweiligen Betriebe?

9. In welchem Umfang werden Putenbestände hinsichtlich Haltung, Medika-
menteneinsatz und Schlachtung kontrolliert bzw. untersucht?

10. Plant die Bundesregierung die Schaffung verbindlicher Haltungsvorschrif-
ten für Mastputen, und wenn nein, warum nicht?

11. Welche Maßnahmen will die Bundesregierung treffen, um die Schaffung
verbindlicher Haltungsvorschriften auf EU-Ebene zu beschleunigen?

12. Ist der Bundesregierung bekannt, ob eine EU-weite Regelung der Puten-
haltung zeitnah geplant ist, und wenn ja, in welchem Umfang, und wenn
nein, warum nicht?

13. Verfügt die Bundesregierung über Statistiken, die Aufschluss über den
Medikamenteneinsatz in der Putenhaltung geben, und wenn nein, warum
nicht?

14. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Höhe des Medikamen-
teneinsatzes in der Putenhaltung durch Beimischung in Futtermitteln?

15. Welche antimikrobiell wirksamen Medikamente kommen allgemein in der
Putenhaltung zum Einsatz, und welche Medikamente lassen sich neben dem
therapeutischen Effekt auch als Leistungssteigerer verabreichen?

16. Welche Pläne hat die Bundesregierung zur Aktualisierung und verbindlichen
Regelung der „Bundeseinheitlichen Eckwerte für eine freiwillige Verein-
barung zur Haltung von Jungmasthühnern (Broiler, Masthähnchen) und
Mastputen“ von 1999, und wenn nicht, warum nicht?

17. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über den Umfang der Schnabel-
kürzungen in Putenmastbetrieben, die ja genehmigungspflichtig sind?

18. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung darüber, ob Betriebe, die
Schnabelkürzungen veranlassen, diese von der zuständigen Behörde auch
genehmigen lassen bzw. mit welchem Anteil die Genehmigung erteilt wird?

19. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die durchschnittliche Er-
krankungs- und Sterberate konventionell gehaltener Puten, und inwiefern
finden Dokumentationen durch zuständige Veterinäre auf Schlachthöfen
statt?

20. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über Infektionsraten bzw. Tier-
verluste infolge des Schnabelkürzens bei Puten?

21. Welche Ursachen sieht die Bundesregierung für die weite Verbreitung des
Schnabelkürzens in der Putenhaltung, obwohl diese Maßnahme nach gelten-
der Durchführungsverordnung des Tierschutzgesetzes die Ausnahme und
nicht die Regel sein sollte?

22. Welche Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Puten sind mit der
Schnabelkürzung verbunden?

23. Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, um dem weitverbreiteten
Schnabelkürzen entgegenzuwirken?

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24. Welche Änderungen bei der Haltung von Puten sind aus Sicht der Bundes-
regierung nötig, um dem Kannibalismus und Federpicken, beides Folgen
haltungsbedingter Verhaltensstörungen, vorzubeugen, und wie können diese
Änderungen verbindlich geregelt werden?

25. Plant die Bundesregierung Maßnahmen gegen den Einsatz von Putenrassen
(z. B. Hochleistungsmasthybrid B.U.T. Big 6) zu ergreifen, die aufgrund
ihrer Schnellwüchsigkeit und ihres partiell sehr starken Muskelwachstums
(Brustbereich) zu erheblichen Leiden und Schmerzen der Tiere führen, und
wenn nicht, warum nicht?

26. Worin unterscheidet sich die konventionelle von der nichtkonventionellen
Putenhaltung, sofern letztere nach den Kriterien der ökologischen Tier-
haltung stattfindet?

27. Hält die Bundesregierung die Haltung von Puten in Beständen von mehreren
Zehntausend bis Hunderttausend Tieren aus seuchenhygienischen Gründen
für problematisch, und wenn ja, warum, und wenn nein, warum nicht?

28. Wie viele Puten wurden in den vergangenen zehn Jahren infolge von Tier-
seuchen wie der Vogelgrippe gekeult (bitte aufschlüsseln nach Jahr, Tier-
zahl, Bundesland und Betreiber)?

29. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregeierung über die Bildung von
Antibiotikaresistenzen bei Puten vor?

30. Welche Grenzwerte existieren für Rückstände von Antibiotika in Puten-
fleisch?

31. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über die mögliche Bildung
von Antibiotikaresistenzen durch den Verzehr von Putenfleisch beim
Menschen vor?

32. Welche resistenten Keime sind in Putenmastbetrieben bzw. in Schlachthöfen
festgestellt worden und in welcher Häufigkeit?

33. Existiert durch die Massentierhaltung und den dadurch vermehrten Anti-
biotikaeinsatz ein erhöhtes Infektionsrisiko bezüglich antibiotikaresistenter
Keime für die Mitarbeiter der Putenmastbetriebe bzw. Schlachthöfe?

Welche Erkenntnisse darüber liegen der Bundesregierung vor?

34. Welche konkreten Folgen hat die Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie
(DART) für die Tierhaltung?

Berlin, den 19. März 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion
Kleine Anfrage
Missstände in der konventionellen Putenhaltung

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