BT-Drucksache 16/12155

Widerrufsverfahren gegen anerkannte kurdische Flüchtlinge (Nachfrage zu Bundestagsdrucksache 16/11745)

Vom 3. März 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12155
16. Wahlperiode 03. 03. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Widerrufsverfahren gegen anerkannte kurdische Flüchtlinge
(Nachfrage zu Bundestagsdrucksache 16/11745)

Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort (Bundestagsdrucksache 16/11745) auf
die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. zur Kritik von PRO ASYL an der
massenhaften Asyl-Widerrufspraxis des Bundesamtes für Migration und Flücht-
linge (BAMF) gegenüber anerkannten Flüchtlingen türkischer Staatsangehörig-
keit, bei denen es sich mehrheitlich um politisch verfolgte Kurdinnen und Kurden
handelt (Bundestagsdrucksache 16/11571), aus Sicht der Fragesteller einzelne
Fragen nicht oder unzureichend beantwortet. Dies macht eine Nachfrage erfor-
derlich.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Prüfverfahren in „Altfällen“ (im Sinne von § 73 Absatz 7 Asylver-
fahrensgesetz – AsylVfG), die bis zum 31. Dezember 2008 eingeleitet wur-
den, waren zum 31. Dezember 2008, zum 31. Januar 2009 bzw. zum 28. Fe-
bruar 2009 noch nicht entschieden?

2. Welche Zeiträume hält die Bundesregierung für angemessen, um eine Ent-
scheidung in diesen „Altfällen“ zu erlassen, und von welchen Faktoren ist dies
im Einzelfall abhängig?

3. Wie lange dauern nach den Erfahrungen der vergangen beiden Kalenderjahre
Widerrufsverfahren (bitte Mittel- und Medianwert angeben)?

4. Ist es zutreffend, dass das BAMF sowohl die Widerrufsbescheide als auch An-
träge auf Berufungszulassungen in verwaltungsgerichtlichen Verfahren bei
anerkannten Flüchtlingen aus der Türkei vor allem mit der angeblich deutlich
verbesserten Menschenrechtslage in der Türkei begründet, und wenn ja, auf
welche konkreten oberverwaltungsgerichtlichen Entscheidungen oder sonsti-
gen Erkenntnisse stützt sich das BAMF dabei (und wenn nein, bitte begrün-
den)?

5. Welche dieser Auffassung einer substantiell verbesserten Menschenrechts-
lage widersprechenden oberverwaltungsgerichtlichen Entscheidungen gibt es
bislang, und inwieweit gehen diese in die Entscheidungspraxis des BAMF bei
Widerrufsverfahren ein?
6. Bestreitet die Bundesregierung inhaltlich das Ergebnis der von einer Rechts-
referendarin des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen
(UNHCR) vorgenommenen Rechtsprechungsanalyse, wonach die Verwal-
tungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland mehrheitlich nicht
von derart grundlegend geänderten Verhältnissen in der Türkei ausgeht, die
den Widerruf einer Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung rechtfertigen könn-
ten, und wenn ja, mit welcher Begründung?

Drucksache 16/12155 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

7. Welche Vorgaben oder Leitlinien innerhalb des BAMF gibt es zu der Frage,
ob sich die politische und menschenrechtliche Situation in der Türkei so
nachhaltig und wesentlich verändert hat, dass eine erneute Verfolgung auf ab-
sehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann (vgl.
Urteil des Bundesverwaltungsgerichts 1 C 21/04 vom 1. November 2005)?

8. Bedeutet die Einschätzung der EU-Kommission in ihrem Fortschrittsbericht
zur Türkei vom 5. November 2008: „Im Bereich der Grundrechte sind einige
gesetzgeberische Fortschritte zu verbuchen, doch sind zur Gewährleistung
der uneingeschränkten Achtung der Grundrechte im Einklang mit der Euro-
päischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäi-
schen Gerichtshofs für Menschenrechte noch erhebliche weitere Anstren-
gungen erforderlich“ – der sich die Bundesregierung angeschlossen hat (vgl.
Bundestagsdrucksache 16/11854, Antwort zu Frage 10) – nicht, dass für
politisch Verfolgte im Falle einer Rückkehr eben keine hinreichende Sicher-
heit bestünde (bitte begründen)?

9. Wird die Bundesregierung dafür sorgen, dass angesichts der Rechtsprechung
zur weiterhin unsicheren Menschenrechtslage in der Türkei auf Widerrufe
gegenüber anerkannten Flüchtlingen aus der Türkei zumindest dann verzich-
tet wird, wenn sich ein Widerruf nur mit den angeblich geänderten Verhält-
nissen im Herkunftsland begründen ließe, und wird sie auch in anhängigen
Klageverfahren in entsprechenden Fällen für Klaglosstellungen durch das
BAMF sorgen (bitte begründen; die Verweisantwort zu Frage 10 auf Bun-
destagsdrucksache 16/11745 enthält keine ausreichende inhaltliche Antwort
auf die Frage, die ersichtlich auf der Annahme beruht, dass ausschließlich die
geänderten Verhältnisse im Herkunftsland einen Widerruf begründen könn-
ten, so dass ein Verweis auf angeblich nur im jeweiligen Einzelfall mögliche
Beurteilungen unzulässig ist)?

10. Wie viele Gerichtsverfahren gegen Widerrufe des BAMF waren zum 31. De-
zember 2008 bei den Verwaltungsgerichten bzw. Oberverwaltungsgerichten
anhängig (bitte auch nach den zehn bedeutendsten Staatsangehörigkeiten dif-
ferenzieren)?

11. Wie hoch waren die Erfolgsquoten von Klagen gegen Widerrufsbescheide
des BAMF im Jahr 2008 (bitte auch nach den fünf bedeutendsten Staatsan-
gehörigkeiten differenzieren)?

12. Was war der konkrete Inhalt der Ausführungen des Parlamentarischen Staats-
sekretärs beim Bundesminister des Innern, Peter Altmaier, zur Frage der sehr
unterschiedlichen Widerrufsquoten bezogen auf die Herkunftsländer der an-
erkannten Flüchtlinge in der 80. Sitzung des Bundestagsinnenausschusses,
der wie üblich nicht-öffentlich tagte und dessen Inhalte so naturgemäß nicht
einmal alle Fragesteller, geschweige denn die demokratische Öffentlichkeit,
erreichten (Nachfrage zu Frage 16 auf Bundestagsdrucksache 16/11745)?

13. Bedeutet die Bemerkung der Bundesregierung „Es bleibt abzuwarten, wie
sich die Praxis der Mitgliedstaaten entwickeln wird“ auf Bundestagsdruck-
sache 16/11745 (Antwort zu Frage 17), dass die Bundesregierung bereit ist,
die Praxis der Regelüberprüfung eines Widerrufs nach drei Jahren aufzuge-
ben, wenn sie sich als isolierte Praxis in der Europäischen Union erweisen
sollte (bitte begründen)?

Berlin, den 2. März 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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