BT-Drucksache 16/1202

Für die unbeschränkte Geltung der Menschenrechte in Deutschland

Vom 6. April 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1202
16. Wahlperiode 06. 04. 2006

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen, Kersten Naumann, Petra Pau
und der Fraktion DIE LINKE.

Für die unbeschränkte Geltung der Menschenrechte in Deutschland

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. In Deutschland lebt eine Vielzahl von Menschen (Schätzungen gehen bis zu
einer Million), deren grundlegende Menschenrechte nicht gewahrt sind, weil
sie stets fürchten müssen, festgenommen, inhaftiert und abgeschoben zu wer-
den. Dabei geht es um das Recht auf (Schul-)Bildung, auf Achtung des Pri-
vatlebens, auf medizinische Versorgung, auf eine gerechte Entlohnung der
Arbeit sowie auf körperliche Unversehrtheit und Freiheit. Die Ursache des
Problems liegt darin, dass die Betroffenen nicht über einen Aufenthaltstitel
verfügen können und dass öffentliche Stellen gesetzlich dazu verpflichtet
sind, Menschen ohne Aufenthaltstitel unverzüglich der zuständigen Auslän-
derbehörde zu melden (§ 87 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG), die
wiederum die Abschiebung der Betroffenen betreibt.

2. Die Gründe dafür, dass Menschen ohne eine behördliche Erlaubnis in
Deutschland leben, sind vielfältig. Nicht selten hängen sie mit der restrikti-
ven Rechtslage und Behördenpraxis in der Asyl- und Ausländerpolitik zu-
sammen:

● Familiäre Bindungen werden nur unter bestimmten (engen) Voraussetzun-
gen als Bleiberechtsgrund anerkannt, so dass Verwandte ohne staatliche
Erlaubnis nach Deutschland kommen oder hier verbleiben (Stichworte:
Beschränkung auf „Kernfamilie“, Forderung von Einkommens- und Woh-
nungsnachweisen usw.).

● Nur bestimmte Fluchtgründe werden nach dem Gesetz bzw. in der Recht-
sprechung als „asylrelevant“ angesehen (bis 2005 wurden z. B. nicht-
staatliche oder geschlechtsspezifische Verfolgungshandlungen als asyl-
rechtlich irrelevant betrachtet; auch Kindersoldaten, Kriegsflüchtlinge
und Deserteure haben z. B. kaum Anerkennungschancen). Zudem kommt
es in der Praxis der Asylverfahren nicht selten zu Fehlentscheidungen.
Menschen, die eine begründete Furcht vor Verfolgung, Krieg oder eine
existenzielle Notlage geltend machen, aber dennoch im Asylverfahren ab-

gelehnt werden, verbleiben deshalb mitunter ohne behördliche Erlaubnis
in Deutschland.

● Pauschale Ausschlussregelungen, wie etwa die Drittstaatenregelung des
Artikels 16a Abs. 2 des Grundgesetzes (GG), und die strikten Verteilungs-
vorschriften im deutschen Asyl- (§ 46 des Asylverfahrensgesetzes –
AsylVfG) und Aufenthaltsrecht (§ 15a AufenthG) führen dazu, dass Be-

Drucksache 16/1202 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

troffene auf ein reguläres Verfahren verzichten und stattdessen ohne be-
hördliche Erlaubnis dort verbleiben, wo sie Kontakte haben oder aus an-
deren guten Gründen leben wollen.

● Auch in der ausländerbehördlichen Praxis wird von Ermessensspielräu-
men zumeist nur restriktiv Gebrauch gemacht, obwohl die Betroffenen in-
dividuell gute und nachvollziehbare Gründe für ihren weiteren Aufenthalt
vorbringen können (langjährig geduldete und faktisch integrierte Men-
schen, schwer traumatisierte Flüchtlinge, Lebenspartnerinnen und
Lebenspartner, denen eine „Scheinehe“ unterstellt oder denen das Zusam-
menleben im Ausland zugemutet wird, die die erforderlichen Papiere nicht
rechtzeitig beibringen können usw.). Auch der Verlust des Aufenthalts-
rechts oder eine Ausweisung können der Grund dafür sein, dass Menschen
ohne behördliche Erlaubnis weiter in Deutschland verbleiben.

● Frauen, die nach Deutschland verschleppt und zur Prostitution gezwungen
werden, können sich unter Umständen nur deshalb nicht aus ihrer
Zwangslage befreien, weil sie für den Fall, dass sie gegen ihre Peiniger
aussagen, damit rechnen müssen, (früher oder später) abgeschoben zu
werden. Manche Frauen ziehen deshalb den „illegalen“ Aufenthalt einer
bloßen Duldung für die Dauer eines belastenden Prozesses vor.

● So genannte wirtschaftliche Gründe – die Suche nach einer Existenz
sichernden Arbeit – berechtigen ohnehin nicht zur Einreise oder zum Auf-
enthalt in Deutschland, es sei denn, dies läge im „deutschen Interesse“.
Das persönliche Interesse der Betroffenen zählt demgegenüber nichts.
Diese legalen Bestimmungen können Migrationswillige jedoch nicht von
ihrer Suche nach einem besseren Leben abhalten.

Dies sind nur einige der möglichen Gründe dafür, warum Menschen in
Deutschland ohne Papiere („sans papiers“) leben (müssen). Sie illustrieren,
dass das in der Öffentlichkeit verbreitete, Angst erregende Zerrbild über ille-
galisierte Menschen nicht zutrifft. Menschen ohne Papiere verhalten sich so-
gar zumeist weitaus unauffälliger und gesetzestreuer (von dem „Gesetzes-
bruch“ ihres unerlaubten Aufenthalts einmal abgesehen) als die übrige
Bevölkerung, zumal bereits eine einzige „Schwarzfahrt“ oder eine Ampel-
überquerung bei Rot für die Betroffenen das Ende ihres bisherigen Lebens
und die gewaltsame Abschiebung bedeuten kann.

3. Das „Leben in der Illegalität“ ist für die Betroffenen oft mit erheblichen psy-
chischen Belastungen und existenziellen Einschränkungen verbunden. Be-
reits der Schulbesuch der Kinder, die Notfallbehandlung beim Arzt, die
Klage beim Arbeitsgericht usw. können die Betroffenen vor unüberwindbare
Probleme stellen. Auch auf die Hilfe des Rechtsstaates müssen sie aufgrund
ihrer aufenthaltsrechtlichen Situation grundsätzlich verzichten, selbst wenn
sie Opfer eines Verbrechens oder diskriminierender Praktiken werden. Für
Frauen bedeutet ein Leben ohne Aufenthaltsrecht unter Umständen zusätz-
lich, dass sie sexueller Belästigung und Gewalt weitgehend schutzlos ausge-
liefert sind. Die Bewegungsfreiheit illegalisierter Menschen ist erheblich ein-
geschränkt, da sie Kontrollen in der Öffentlichkeit fürchten müssen. Im Er-
gebnis leben diese Menschen in Deutschland mitunter in einem Zustand, der
dem der mittelalterlichen „Vogelfreiheit“ nicht unähnlich ist: Jede/Jeder
könnte ihr Leben durch eine Anzeige bei der Polizei „zerstören“.

4. Von demokratischen Rechten sind „heimliche“ Menschen dauerhaft ausge-
schlossen. Selbst zu ihrer Situation können sie sich nicht angemessen öffent-
lich äußern – und gerade das befördert dann wieder, dass die Probleme von
Menschen ohne Papiere öffentlich nicht wahrgenommen werden. Meinungs-
freiheit, Pressefreiheit, Vereinigungsfreiheit – was den meisten Bürgerinnen

und Bürgern eine Selbstverständlichkeit ist, bleibt ihnen verwehrt. Nicht ein-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/1202

mal die grundlegendsten Rechte können die Betroffenen in der Praxis für sich
reklamieren. Nicht nur in menschenrechtlicher Hinsicht, sondern auch im
Hinblick auf demokratische Rechte ist dies ein inakzeptabler Befund.

5. In Deutschland fehlt bislang entgegen den Forderungen breiter Kreise in der
Gesellschaft (insbesondere der Kirchen) jegliche rechtliche Möglichkeit und
politische Bereitschaft, die grundlegenden Rechte illegalisierter Menschen
sicherzustellen. In anderen europäischen und nichteuropäischen Ländern gibt
es zumindest Ansätze einer politischen Antwort auf die soziale Notlage der
Betroffenen. So hat es in mehreren Ländern (z. B. Italien, Spanien, Portugal,
Frankreich) diverse „Amnestieregelungen“ gegeben, aufgrund derer Illega-
lisierten nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer oder unter anderen inhalt-
lichen Voraussetzungen ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht erteilt wurde.
Zuletzt gewährte Spanien mehr als 500 000 „sans papiers“ ein Bleiberecht,
wobei die spanische Regierung zur Begründung in den Vordergrund stellte,
dass durch die Legalisierungsakte irreguläre in legale Beschäftigungsverhält-
nisse umgewandelt würden und hierdurch das Steuereinkommen gesteigert
würde.

6. Die Betroffenen können sich nicht gegen ausbeuterische Arbeitsverhältnisse
und untragbare Arbeitsbedingungen zur Wehr setzen. Obwohl auch sie das
Recht auf Auszahlung des Lohnes haben, fehlt ihnen die Handhabe, vorent-
haltenen Lohn vor Arbeitsgerichten einzufordern. Sie werden somit zum Ge-
genstand menschenverachtenden Kalküls. Ob auf Baustellen, als Haushalts-
hilfe, in der Prostitution: Illegalisierte sind eine disponible Masse, deren
Arbeitskraft ausgebeutet werden kann, ohne auf den Menschen in irgendeiner
Art Rücksicht zu nehmen. Bei Aufdeckung solcher ausbeuterischer Verhält-
nisse droht den Opfern die Abschiebung, während die Täter kaum Konse-
quenzen zu fürchten haben. Nur wenn Meldepflichten von Arbeitsgerichten
und Zoll entfallen, werden grundlegende und allgemeingültige Rechte im Zu-
sammenhang mit Arbeitsverhältnissen durchsetzbar. So kann auch der feh-
lenden Solidarität zwischen regulären Lohnarbeitenden und den Statuslosen
entgegengewirkt werden. Sind Rechte auch für Letztere einklag- und durch-
setzbar, werden sie nicht mehr im gleichen Maße als „unfaire“ Konkurrenten
um Arbeitsplätze wahrgenommen, was sich häufig mit rassistischen Ressen-
timents verbindet. Im Ergebnis würde die arbeitsrechtliche Gleichstellung
von Statuslosen insbesondere die Abkehr von rassistischem Denken und die
Solidarität der abhängig Beschäftigten befördern. Angesichts immer weiter
steigenden Drucks auf die abhängig Beschäftigten, Abstriche bei Lohn- und
Arbeitszeitregelungen hinzunehmen und auf Arbeitnehmerrechte und Mitbe-
stimmung de facto zu verzichten, ist eine solche arbeitsrechtliche Gleichstel-
lung also im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung.

Der Grundsatz der Einforderung und Durchsetzung der Menschenrechte darf
sich nicht als wohlfeile Forderung an andere Länder beschränken, sondern
muss auch in Deutschland unabhängig vom Aufenthaltsstatus der Betroffe-
nen gelten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Wahrung der grundlegenden Menschenrechte von Personen ohne Aufent-
haltstitel in der Praxis sicherzustellen. Hier ist vordringlich die Meldepflicht
nach § 87 Abs. 2 AufenthG und die Strafbarkeit der humanitären Hilfe für
Menschen ohne Aufenthaltstitel (§ 96 Abs. 1 AufenthG) aufzuheben. Den
Opfern von Zwangsarbeit, Zwangsprostitution und Menschenhandel ist
Schutz und ein sicherer Aufenthaltsstatus einzuräumen;

2. den Umgang mit illegalisierten Menschen zu entkriminalisieren und die

Debatte um sie nicht vorrangig unter polizeistaatlichen Gesichtspunkten,

Drucksache 16/1202 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

sondern orientiert an den Menschenrechten zu führen. Die humanitäre Hilfe
für illegalisierte Menschen (im Zusammenhang mit der Einreise und des Auf-
enthalts) ist deshalb straffrei zu stellen. Auch der Aufenthalt und die Einreise
ohne behördliche Erlaubnis als solche dürfen nicht als Straftat angesehen
werden;

3. rechtliche und politische Legalisierungsoptionen zu eröffnen. Menschen, die
in Deutschland leben, soll unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Interes-
sen und humanitärer Erwägungen ein Aufenthaltsrecht gewährt werden kön-
nen. Menschen, die bereits faktisch integriert sind, haben darüber hinaus auch
ein Anrecht auf Bleiberecht und auf Achtung ihres Privatlebens in Deutsch-
land (vgl. Artikel 8 EMRK). Politisch oder exekutiv begründete Legalisie-
rungsakte können bei einer Vielzahl vergleichbarer Fälle geeignet sein, um
den Menschenrechten zur Durchsetzung zu verhelfen und zum gesellschaft-
lichen Frieden beizutragen, wobei darauf zu achten ist, dass staatliche
„Amnestieangebote“ in der Praxis nicht dazu genutzt werden dürfen, um die
Erfassung und Abschiebung der bis zur Antragstellung noch klandestinen
Menschen vorzubereiten. Ergänzend sollte sichergestellt werden, dass die
Härtefallregelung nach § 23a AufenthG auch Menschen ohne Aufenthalts-
titel offen steht und dass bei der humanitären Abwägung in diesen Fällen der
„illegale“ Aufenthalt der Betroffenen nicht negativ bewertet wird;

4. das bestehende Asyl- und Ausländerrecht möglichst offen auszugestalten und
die persönlichen Interessen der Betroffenen im Verfahren angemessen zu be-
rücksichtigen, weil so der strukturellen Illegalisierung von Menschen entge-
gengewirkt werden kann (in diesem Zusammenhang ist auch die Unterzeich-
nung bzw. vorbehaltlose Umsetzung der UN-Kinderrechts- und der UN-
Wanderarbeiterinnen-/Wanderarbeiter-Konvention zu fordern).

Berlin, den 6. April 2006

Ulla Jelpke
Sevim Dagdelen
Kersten Naumann
Petra Pau
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Die allgegenwärtige Redeweise einer globalisierten Gesellschaft lässt zumeist
außer Acht, dass es Formen einer Globalisierung „von unten“ gibt, die massiv
kriminalisiert und bekämpft wird. Es geht um Menschen, die ohne die entspre-
chende behördliche Erlaubnis migriert sind oder trotz einer Ablehnung der Auf-
enthaltserlaubnis ohne Papiere (französisch: „sans papiers“) im Land verblei-
ben, auf der Suche nach einem besseren Leben, auf der Suche nach Schutz vor
Verfolgung, auf der Suche nach Wahrung ihrer Familieneinheit. Die deutsche
Politik ist in dieser Beziehung „immer noch nicht in der globalisierenden Welt
angekommen“ (Pater Dr. Jörg Alt), denn sie verweigert sich dem Umstand, dass
„illegale“ Migrationsbewegungen ein strukturelles Begleitmerkmal unserer Ge-
sellschaft sind – und schon immer waren. Solange ungleiche soziale und ökono-
mische und gewaltsame Verhältnisse in der Welt existieren und Nationalstaaten-
grenzen sich zwischen die Menschen schieben, wird es Migration geben: wenn
nicht mit, dann ohne behördliche Erlaubnis.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/1202

Dieser sozialen Tatsache muss sich eine verantwortungsbewusste und men-
schenrechtlich fundierte Politik stellen. Versuche einer ausschließlich repressi-
ven Migrationskontrolle sind nicht nur zum Scheitern verurteilt, sie sind auch
mit enormen menschenrechtlichen „Folgekosten“ verbunden: Zum einen leben
Menschen „mitten unter uns“, die mangels Papieren nicht einmal die grundle-
gendsten Menschenrechte angstfrei geltend machen können, weil sie befürchten
müssen, abgeschoben zu werden. Zum anderen bringen die aufenthaltsrecht-
lichen Regularien Abhängigkeits- und Gewaltverhältnisse erst hervor, die sie zu
bekämpfen vorgeben, denn das „Schlepperunwesen“ ist eine direkte Folge zu-
nehmend geschlossener Grenzen und verengter Rechtsvorschriften. Der „Preis“
der europäischen Migrationskontrolle ist unerträglich hoch: Tausende haben be-
reits ihr Leben verloren bei dem Versuch, die hochgerüsteten Grenzen Europas
zu überwinden.

In Deutschland bedarf es angesichts der Versäumnisse der Vergangenheit im
Umgang mit Illegalisierten dringend gesetzlicher Änderungen und Neuregelun-
gen, um die grundlegenden Menschenrechte der Betroffenen sicherstellen zu
können. Dabei muss die engstirnige bürokratische Verweigerungshaltung aufge-
geben werden, wonach den Betroffenen schon deshalb nicht entgegengekom-
men werden dürfe, weil ihr Aufenthalt auf einem Rechtsbruch basiere und dies
nicht auch noch „belohnt“ werden dürfe. Eine solch nachtragende und formalis-
tische Argumentation, die die berechtigten Interessen und Bedürfnisse der Indi-
viduen völlig übergeht und sogar noch die Kinder der „illegal“ Eingewanderten
in „Sippenhaft“ nimmt, ist eines sozialen Rechtsstaates unwürdig und wird der
absoluten Geltung der Menschenrechte nicht gerecht. Auch sollte nicht verges-
sen werden, dass es in Deutschland zahlreiche Profiteure des illegalisierten Sta-
tus der Betroffenen gibt, da diese zumeist höchst unattraktive Arbeiten für eine
geringe Entlohnung übernehmen müssen.

Schließlich wird häufig übersehen, dass das Phänomen der illegalisierten Men-
schen in nicht wenigen Fällen eine Folge der engen Gesetzeslage und der rest-
riktiven Behörden- und Gerichtspraxis in Deutschland ist: Es darf nicht krimi-
nalisiert werden, wenn sich Menschen, die sich subjektiv von Verfolgung, Krieg
oder anderen existenziellen Notlagen und Gefährdungen bedroht sehen, ihrer
Abschiebung durch „Untertauchen“ entziehen. Genauso gibt es ein „höherran-
giges“ Menschenrecht auf Familienzusammenleben und Freizügigkeit, das die
Betroffenen zum Bruch nationalen Rechts geradezu ermächtigt, wenn dieses un-
erfüllbare Anforderungen an sie stellt. Und schließlich zwingt die globale wirt-
schaftliche und politische Unrechtsordnung Menschen weltweit zur Flucht und
Migration, ohne dass die Länder, in denen die Erträge der Weltwirtschaft kumu-
liert und verteilt werden, das Recht dazu hätten, diesen Menschen den „Einlass“
zu verwehren. All diesen ethischen und menschenrechtlichen Fragen muss sich
die Politik stellen und nach verantwortbaren Lösungen suchen, ohne die Betrof-
fenen pauschal zu kriminalisieren, zu entrechten und zu illegalisieren. Sie müs-
sen als Träger unveräußerlicher Menschenrechte wahrgenommen werden!

Seit kürzerem vorliegende Initiativen zur Verbesserung der sozialen Situation
von Menschen ohne Aufenthaltsstatus gehen zwar in die richtige Richtung. In
der Regel greifen sie jedoch zu kurz, wenn insbesondere die Perspektive einer
Legalisierung und Integration der Betroffenen weitgehend ausgeblendet wird.
Selbst in Bezug auf die Opfer von Menschenhandel, Zwangsprostitution und
Zwangsarbeit fehlt bislang noch der politische Wille zu einer klaren Bleibe-
rechtsregelung. Die „Opferschutz-Richtlinie“ der Europäischen Union etwa
(Richtlinie 2004/81/EG vom 29. April 2004) unterwirft die Opfer schwerer
Menschenrechtsverbrechen einem Nützlichkeitsprinzip, das ausschließlich
staatsanwaltlichen Ermittlungsinteressen folgt: Ist eine Aussage der Betroffenen
als Zeuginnen in einem Strafverfahren nicht erforderlich, kommt der Richtlinie

zufolge nicht einmal die Erteilung eines befristeten Aufenthaltstitels in Betracht.
Nach Beendigung eines Prozesses gegen die Menschenhändler droht den Opfern

Drucksache 16/1202 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

ohnehin der Entzug der Aufenthaltserlaubnis und die Abschiebung (Artikel 13
Abs. 1 der Richtlinie).

Im Kontext der illegalisierten Migration ist vielfach von einer Pflicht des Staa-
tes, illegale Einwanderung und illegalen Aufenthalt zu bekämpfen, die Rede.
Genau dies verdeutlicht den grundlegend falschen Ansatz einer repressiven und
kriminalisierenden Migrationskontrolle, denn es gibt selbstredend keine solche
staatliche Verpflichtung. Das deutsche Grundgesetz enthält allerdings die kon-
krete Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Menschenwürde zu achten und
zu schützen und die unveräußerlichen Menschenrechte als Grundlage jeder
menschlichen Gemeinschaft zu wahren (Artikel 1 des Grundgesetzes – GG).
Auch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und körperlicher Unver-
sehrtheit gilt absolut (Artikel 2 GG). Und schließlich ist die Bundesrepublik
Deutschland durch Artikel 20 GG unabänderlich als demokratischer und sozia-
ler Rechtsstaat – und nicht etwa als Abschottungsstaat – verfasst worden. Die
Wahrung der sozialen Menschenrechte ist dabei nicht als ein „Gnadenrecht“ zu
verstehen, das zugänglich gemacht werden kann, wenn es möglichst wenig
„kostet“. Sowohl durch internationale Verträge wie den Pakt über die sozialen
und kulturellen Menschenrechte als auch durch zentrale Normen des Grund-
gesetzes selbst – wie sie in Artikel 20 Abs. 1 GG ihren zentralen Ausdruck
finden – ist die Bundesrepublik Deutschland auf die Wahrung der sozialen
Menschenrechte verpflichtet. Die Unteilbarkeit der Menschenrechte gilt auch
hier.

Die bundesrepublikanische Politik und Gesellschaft stehen also in der Pflicht,
den politischen und sozialen Menschenrechten in Deutschland möglichst umfas-
send zur Durchsetzung zu verhelfen, und hierzu gehört auch, die grundlegenden
Rechte der hier lebenden Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus sicherzu-
stellen, die Betroffenen jederzeit würdig und respektvoll zu behandeln und ihre
berechtigten Interessen bei allen staatlichen Entscheidungen maßgeblich zu
berücksichtigen.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.