BT-Drucksache 16/11775

Frauen und Mädchen mit Behinderungen wirksam vor Gewalt schützen und Hilfsangebote verbessern

Vom 28. Januar 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11775
16. Wahlperiode 28. 01. 2009

Antrag
der Abgeordneten Antje Blumenthal, Hubert Hüppe, Thomas Bareiß, Maria
Eichhorn, Ingrid Fischbach, Markus Grübel, Hartmut Koschyk, Katharina
Landgraf, Paul Lehrieder, Thomas Mahlberg, Dr. Eva Möllring, Michaela Noll,
Dr. Norbert Röttgen, Johannes Singhammer, Elisabeth Winkelmeier-Becker,
Volker Kauder, Dr. Peter Ramsauer und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Renate Gradistanac,
Angelika Graf (Rosenheim), Kerstin Griese, Jürgen Kucharczyk, Helga Kühn-
Mengel, Ute Kumpf, Helga Lopez, Lothar Mark, Caren Marks, Thomas Oppermann,
Sönke Rix, Wolfgang Spanier, Dieter Steinecke, Dr. Peter Struck
und der Fraktion der SPD

Frauen und Mädchen mit Behinderungen wirksam vor Gewalt schützen
und Hilfsangebote verbessern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Entschließung des Europäischen Parlaments (EP) vom 26. April 2007 zur
Lage der Frauen und Mädchen mit Behinderungen in der Europäischen Union
(2006/2277 (INI)) macht deutlich, dass noch erhebliche Defizite in der Analyse
und Bekämpfung von Gewalt an Frauen mit Behinderungen bestehen. Das EP
will die Öffentlichkeit dafür sensibilisieren, dass alle Menschen ein Recht
haben, vor Diskriminierung geschützt zu werden. Es fordert die Mitgliedstaaten
auf, sich für gleiche Lebensbedingungen für alle Menschen einzusetzen.

Am 4. Mai 2007 haben über 100 Frauen mit unterschiedlichen Behinderungen
aus 17 Ländern ein europäisches Netzwerk behinderter Frauen und Mädchen
gegründet. Sie verstehen sich als behinderungsübergreifende, unabhängige
Frauen- und Menschenrechtsorganisation. Eine ihrer Forderungen ist das Recht
auf ein Leben ohne Gewalt in jeglicher Form.

Deutschland hat das Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen
vom 13. Dezember 2006 über die Rechte der Menschen mit Behinderungen so-
wie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen
der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen rati-
fiziert. Das Gesetz trat am 1. Januar 2009 in Kraft. Mit der Ratifikation ver-

pflichtet sich Deutschland gegenüber der Bevölkerung, aber auch gegenüber
der internationalen Gemeinschaft, die UN-Konvention einzuhalten und umzu-
setzen. Das Übereinkommen ist das erste universelle Rechtsdokument, in dem
bestehende Menschenrechte an die spezifische Lebenssituation behinderter
Menschen angepasst werden. Erklärtes Ziel der UN-Konvention ist die Chan-
cengleichheit der Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten, ihre umfas-

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sende Teilhabe in der Gesellschaft zu fördern und ihre Grundrechte zu garantie-
ren.

Für Frauen und Mädchen mit Behinderungen stellt Artikel 6 der UN-Konven-
tion fest:

1. Die Vertragsstaaten erkennen an, dass behinderte Frauen und Mädchen
mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt sind und ergreifen in dieser Hinsicht
Maßnahmen, um sicherzustellen, dass sie alle Menschenrechte und Grund-
freiheiten uneingeschränkt und gleichberechtigt genießen können.

2. Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen zur Sicherung der
vollen Entfaltung, der Förderung und der Stärkung der Autonomie der
Frauen und Mädchen, damit gewährleistet wird, dass sie die in diesem Über-
einkommen genannten Menschenrechte und Grundfreiheiten ausüben und
genießen können.

Das Thema „Frauen und Mädchen mit Behinderungen“ muss verstärkt in den
Fokus der Öffentlichkeit gerückt werden. Im Vergleich zu nichtbehinderten
Frauen und Mädchen erleben behinderte Frauen und Mädchen in vielen Berei-
chen nach wie vor Benachteiligungen und sind häufig auch Mehrfachdiskrimi-
nierungen ausgesetzt.

Frauen und Mädchen mit Behinderungen sind im häuslichen Bereich und auch
außerhalb einer erhöhten Gefahr ausgesetzt, Opfer von Gewalt, Körperverlet-
zung oder Missbrauch, Verwahrlosung oder Vernachlässigung, Misshandlung
oder Ausbeutung zu werden. Die Entschließung des Europäischen Parlaments
hält fest, dass davon auszugehen ist, dass nahezu 80 Prozent der Frauen und
Mädchen mit Behinderungen zu Opfern von physischer und psychischer Ge-
walt werden. Dabei sind sie offensichtlich in höherem Maße als andere Frauen
der Gefahr von sexueller Gewalt ausgesetzt. Die sonst verwendeten Strategien
der Prävention oder Bewältigung sexueller Übergriffe können nicht ohne Wei-
teres auf die Situation von Frauen und Mädchen mit Behinderungen übertragen
werden. Gegenwärtig gibt es hierzu keine repräsentativen Daten oder wissen-
schaftlichen Untersuchungen für Deutschland.

Die Täter, und zum Teil auch Täterinnen, kommen überwiegend aus dem sozia-
len Umfeld der Frauen und Mädchen. Die Gewaltübergriffe erfolgen daher
auch in allen Einrichtungsformen, im häuslichen Bereich oder auf Fahrten zur
Schule oder Werkstatt. Dabei wird die vorhandene Abhängigkeitssituation
ausgenutzt. Bei Frauen und Mädchen mit geistiger Behinderung kann hinzu-
kommen, dass sie nicht oder nur unzureichend sexuell aufgeklärt sind und über
sexualisierte Gewalt nicht Bescheid wissen. Ist es zu Übergriffen gekommen,
kann dies nicht immer verständlich mitgeteilt werden oder aber die Mitteilun-
gen werden von Dritten bzw. den Betreuungspersonen nicht entsprechend ernst
genommen. Daher ergeben sich besondere Erfordernisse für die Inanspruch-
nahme von rechtlichen Schutzmöglichkeiten.

Für Frauen und Mädchen mit Behinderungen, die in Einrichtungen leben, sind
vertrauensvolle Ansprechpersonen besonders wichtig, die sie bei der Durch-
setzung ihrer Anliegen entsprechend unterstützen.

Die Bundesregierung hat in der Beantwortung einer Großen Anfrage (Bundes-
tagsdrucksache 16/9283 vom 27. Mai 2008) mitgeteilt, dass eine Untersuchung
zum Ausmaß und Umfang von Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen ge-
plant ist. Neben einer repräsentativen Erfassung von Gewalt gegen behinderte
Frauen sollen die besonderen Problemlagen erhoben, wissenschaftlich syste-
matisiert und erforscht werden. Die Untersuchung ist für eine Dauer von drei
Jahren geplant und soll den häuslichen, beruflichen und öffentlichen Bereich
sowie die ambulanten und stationären Einrichtungen und Dienste der Einglie-

derungshilfe untersuchen. Die Studie ist Bestandteil des Aktionsplans II der

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Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Sie wird vom
Deutschen Bundestag ausdrücklich begrüßt.

Eine der wirkungsvollsten Präventionsmaßnahmen vor Gewalt liegt darin, die
Betroffenen im Vorfeld zu stärken. Mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein
können sie möglichen Grenzüberschreitungen und Übergriffen rechtzeitig ent-
gegentreten. Zu den Präventionsmaßnahmen gehört auch, dass Frauen und
Mädchen entsprechend ihren Fähigkeiten und ihrem Alter Sexualaufklärung er-
halten.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen endet nicht mit einem bestimmten Lebens-
alter. Dies wird auch auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinde-
rungen zutreffen. Sie kann sich bis ins höhere Alter fortsetzen oder gar erst im
höheren Lebensalter beginnen und bedarf besonderer Betrachtung. Herkömm-
liche Gewaltkonzepte, die auf den überwiegend männlichen Täter ausgerichtet
sind, haben für die Ursachenforschung und für Bekämpfungsstrategien wohl
nur eingeschränkten Wert.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● die geplante Studie zum Ausmaß und Umfang von Gewalt gegen Frauen
und Mädchen mit Behinderungen unter Berücksichtigung der Gewalt- und
Täterstruktur sowie Tatumstände schnellstmöglich in Auftrag zu geben, und
dem Parlament einen Zwischenbericht vorzulegen,

● besondere Erfordernisse für die Inanspruchnahme von rechtlichen Schutz-
möglichkeiten für Frauen und Mädchen mit Behinderungen festzustellen
und darüber zu berichten, damit ggf. notwendige rechtliche Regelungen zü-
gig erarbeitet werden können,

● bei der Entwicklung von entsprechenden Maßnahmen die Altersverteilung
der Betroffenen besonders in den Blick zu nehmen und entsprechend zu be-
rücksichtigen,

● zu prüfen, ob von Deutschland die explizite Aufnahme der Bekämpfung von
Gewalt gegen behinderte Frauen und Mädchen als Schwerpunkt für das
kommende Arbeitsprogramm des Programms „Daphne“ auch zur Bekämp-
fung von Gewalt an behinderten Frauen und Mädchen angeregt werden
kann,

● zielgruppenspezifisches Aufklärungs- und Informationsmaterial zu erarbei-
ten und zur Verfügung zu stellen,

● Menschen mit Behinderungen beiderlei Geschlechts – soweit möglich – im
Rahmen von Sexualerziehung bzw. Sexualaufklärung über mögliche Ver-
suche von sexuellen Übergriffen aufzuklären sowie die von Sexualgewalt
Betroffenen über Wege und Möglichkeiten der Aufklärung und Bewältigung
bzw. Aufarbeitung zu informieren,

● die Öffentlichkeit durch geeignete Kampagnen, Projekte oder andere Maß-
nahmen für das Thema „Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinde-
rungen“ zu sensibilisieren,

● für Personen, die Menschen mit Behinderungen professionell betreuen und
für Sozialarbeiterinnen und -arbeiter sowie für Psychotherapeutinnen und
Psychotherapeuten einen Leitfaden zum Umgang mit sexuellen Übergriffen
gegen Menschen mit Behinderungen zu erstellen und entsprechend bekannt
zu machen,

● Projekte und Modellversuche zu fördern, die zum Ziel haben, das Betreuungs-
personal von Einrichtungen, das Pflegepersonal und die Ärzteschaft im

Zusammenhang mit Therapie von Gewaltfolgen und Prävention von Gewalt
in Bezug auf betroffene Frauen und Mädchen mit Behinderungen, fortzubilden,

Drucksache 16/11775 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
● zu prüfen, welche Präventionsmaßnahmen erforderlich sind und entspre-
chende Maßnahmen hierzu zu ergreifen,

● zu prüfen, ob die Einführung von Frauenbeauftragten in Einrichtungen er-
folgen sollte, damit die dort lebenden Frauen und Mädchen mit Behinderun-
gen vor Ort eine erste Anlaufstelle erhalten. Daneben muss sichergestellt
werden, dass Frauen und Mädchen der Zugang zu einer Vertrauensperson
außerhalb der Einrichtung ermöglicht wird,

● dafür Sorge zu tragen, dass von Gewalt betroffene Menschen mit Behinde-
rungen schnellen Zugang zu psychologischer und psychotherapeutischer
Hilfe erhalten,

● sich bei den Ländern dafür einzusetzen, dass das Hilfesystem verstärkt auch
den Bedürfnissen von Frauen und Mädchen mit Behinderungen gerecht wird
und spezielle Unterstützungsangebote entwickelt und bereitgestellt werden,

● sich dafür einzusetzen, dass ein ausreichendes Angebot an barrierefreien
Frauenberatungsstellen und Frauenhäusern für Frauen mit Behinderungen,
die von Gewalt betroffen sind, zur Verfügung steht,

● sich auf allen Ebenen dafür einzusetzen, dass von Gewalt betroffene Frauen
und Mädchen mit Behinderungen situationsgerecht versorgt und unterstützt
werden, insbesondere den Zugang zu den Angeboten des Gesundheitswe-
sens zu erleichtern und geschlechtsspezifische, medizinische Angebote be-
reitzustellen.

Berlin, den 28. Januar 2009

Volker Kauder, Dr. Peter Ramsauer und Fraktion
Dr. Peter Struck und Fraktion

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