BT-Drucksache 16/11571

Widerrufsverfahren gegen anerkannte kurdische Flüchtlinge

Vom 7. Januar 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11571
16. Wahlperiode 07. 01. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Jörn Wunderlich und der
Fraktion DIE LINKE.

Widerrufsverfahren gegen anerkannte kurdische Flüchtlinge

Die Bundesarbeitsgemeinschaft PRO ASYL kritisierte in einer E-Mail vom
17. Oktober 2008 an die Mitglieder des Innenausschusses des Deutschen Bun-
destages die massenhafte Asyl-Widerrufspraxis des Bundesamtes für Migration
und Flüchtlinge (BAMF) gegenüber anerkannten Flüchtlingen türkischer Staats-
angehörigkeit, bei denen es sich mehrheitlich um politisch verfolgte Kurdinnen
und Kurden handelt. PRO ASYL wies aufgrund einer stichprobenhaften Urteils-
auswertung darauf hin, dass diese Widerrufsbescheide häufig dürftig und text-
bausteinartig begründet seien und von den Verwaltungsgerichten überwiegend
aufgehoben würden. Auch sei die Widerrufsquote bei türkischen Staatsangehö-
rigen im Vergleich zu anderen Staatsangehörigen im 1. Halbjahr 2008 auffallend
hoch.

Auf diesbezügliche schriftliche Fragen bestätigte der Parlamentarische Staatsse-
kretär beim Bundesminister des Innern, Peter Altmaier, am 28. Oktober 2008
zunächst, dass Widerrufe bei türkischen Staatsangehörigen von den Verwal-
tungsgerichten „in der überwiegenden Zahl der Fälle“ als rechtswidrig aufgeho-
ben würden, kommentierte dies jedoch mit den Worten: „Das BAMF ist gehal-
ten, gegen fehlerhafte verwaltungsgerichtliche Entscheidungen Anträge auf Zu-
lassung der Berufung bei den Oberverwaltungsgerichten zu stellen“ (Antwort
zu Frage 5 der schriftlichen Fragen auf Bundestagsdrucksache 16/10733, S. 3).
In einem schriftlichen Bericht an den Innenausschuss vom 15. Dezember 2008
stellt der Parlamentarische Staatssekretär Peter Altmaier dann nicht mehr auf
die angebliche „Fehlerhaftigkeit“ von Verwaltungsgerichtsentscheidungen ab.
Jedoch soll die hohe Quote der erfolgreichen Klagen gegen Widerrufsbescheide
des Bundesamtes (im 1. Halbjahr 2008: ca. 51 Prozent) trickreich dadurch rela-
tiviert werden, dass auch nicht beklagte Bescheide und behördenintern einge-
stellte Widerrufsverfahren einberechnet werden.

Ähnlich wie PRO ASYL stellt auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Ver-
einten Nationen (UNHCR) in einer Auswertung vom 14. Oktober 2008 von
80 (Ober-)Verwaltungsgerichtsentscheidungen des Jahres 2008 zu Widerrufen
bei türkischen Staatsangehörigen fest, dass Widerrufsbescheide „in nahezu
allen Fällen allgemein begründet“ seien und vom BAMF zumeist nur angeführt
werde, „die Rechtslage und Menschenrechtssituation in der Türkei habe sich

deutlich zum Positiven verbessert.“ Dem trete jedoch „ein großer Teil der
Rechtsprechung kritisch gegenüber.“ Denn positive Reformansätze auf legis-
lativer Ebene bedeuteten noch keine erhebliche und dauerhafte Änderung der
maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse und böten auch keine hinreichende
Sicherheit vor Verfolgung. Die Gerichte gingen zudem von einer Verschlechte-
rung der Menschenrechtssituation für Kurden in der Türkei seit Mai 2005
infolge der Verschärfung der „Anti-Terror-Gesetzgebung“ aus.

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Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche internen Vorgaben und/oder Personalveränderungen gab bzw. gibt es
im BAMF, um die Masse der über 40 000 Widerrufsverfahren insbesondere
in „Altfällen“ fristgerecht bis Ende 2008 bearbeiten zu können, und wurde
die anvisierte Zahl an Widerrufsverfahren erreicht?

2. Bedeutet die Regelung des § 73 Absatz 7 des Asylverfahrensgesetzes
(AsylVfG), dass eine Widerrufsprüfung in „Altfällen“ bis zum
31. Dezember 2008 eingeleitet oder abgeschlossen sein muss, und wenn ers-
teres der Fall ist, bis wann sollen dann noch Widerrufsentscheidungen in
„Altfällen“ möglich sein?

3. Worauf basierte die Bestätigung der Einschätzung, dass Widerrufe der
Flüchtlingsanerkennung bei türkischen Staatsangehörigen von den Verwal-
tungsgerichten „in der überwiegenden Zahl der Fälle“ als rechtswidrig auf-
gehoben werden, durch den Parlamentarischen Staatssekretär Peter Altmaier
am 28. Oktober 2008 (vgl. Bundestagsdrucksache 16/10733, S. 3), vor dem
Hintergrund seines Berichts vom 15. Dezember 2008, mit dem diese Ein-
schätzung tendenziell in Frage gestellt wird?

4. Ist die Bezeichnung von Verwaltungsgerichtsentscheidungen als „fehler-
haft“ durch das Bundesministerium des Innern (BMI) üblich, wenn diese der
Auffassung des Ministeriums bzw. des BAMF widersprechen, und wie wird
eine solche Wortwahl von der Bundesregierung bewertet?

5. Bleibt das BMI bei seiner Auffassung, die Verwaltungsgerichtsentscheidun-
gen, mit denen Widerrufsbescheide gegenüber türkischen Staatsangehörigen
als rechtswidrig aufgehoben werden, seien „fehlerhaft“, auch angesichts des
Beschlusses des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts (OVG
SH 4 LA 24/08, Beschluss vom 22. April 2008), mit dem eine solche angeb-
lich „fehlerhafte“ Entscheidung bestätigt wird, unter anderem, weil tragfä-
hige Berufungsgründe durch das BAMF nicht einmal im Ansatz vorgetragen
worden seien (bitte begründen)?

6. Auf welche konkreten oberverwaltungsgerichtlichen Entscheidungen, Tat-
sachen oder sonstigen Argumente stützt sich das BMI bei seiner Auffassung,
die mehrheitlichen verwaltungsgerichtlichen Aufhebungen der benannten
Widerrufsbescheide seien „fehlerhaft“?

7. Ist die Einschätzung von PRO ASYL, des UNHCR sowie von Rechtsanwäl-
tinnen und -anwälten zutreffend, wonach das BAMF sowohl die Widerrufs-
bescheide als auch Berufungszulassungen (bitte differenzieren) gegenüber
anerkannten Flüchtlingen aus der Türkei weitgehend schematisiert – d. h.
wenig einzelfallbezogen und vor allem mit Textbausteinen zur angeblich
deutlich verbesserten Menschenrechtslage in der Türkei – begründet, und
wie wird diese – auch von den Verwaltungsgerichten monierte – Praxis des
Bundesamts gerechtfertigt (bitte begründen)?

8. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass sich die politische und men-
schenrechtliche Situation in der Türkei tatsächlich so nachhaltig und wesent-
lich verbessert hat (wie es die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsge-
richts verlangt), dass Widerrufe von Asylanerkennungen hiermit begründet
werden können – und womit begründet sie diese Einschätzung, die von den
Verwaltungsgerichten mehrheitlich nicht geteilt wird (vgl. zuletzt: VG Göt-
tingen 1 A 392/06, taz vom 25. November 2008)?

9. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der Rechtsprechungs-
analyse des UNHCR vom 14. Oktober 2008, mit der insbesondere fest-
gestellt wird, dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht von derart grund-

legend geänderten Verhältnissen in der Türkei ausgeht, die den Widerruf
einer Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung rechtfertigen könnten (bitte nach-
vollziehbar begründen)?

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10. Wird die Bundesregierung dafür sorgen, dass angesichts der genannten
Rechtsprechung zur nach wie vor unsicheren Menschenrechtslage in der
Türkei auf Widerrufe gegenüber bereits anerkannten Flüchtlingen aus der
Türkei zumindest dann verzichtet wird, wenn sich ein Widerruf nur mit den
angeblich geänderten Verhältnissen im Herkunftsland begründen ließe, und
wird sie auch in anhängigen Klageverfahren in entsprechenden Fällen für
Klaglosstellungen durch das BAMF sorgen (bitte begründen)?

11. Wie viele Gerichtsverfahren gegen Widerrufe des BAMF sind derzeit bei
den Verwaltungsgerichten bzw. Oberverwaltungsgerichten anhängig (bitte
auch nach den zehn bedeutendsten Staatsangehörigkeiten differenzieren)?

12. Wie lange dauert ein Verwaltungsgerichtsverfahren wegen des Widerrufs
der Anerkennung einer Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennung im Durch-
schnitt?

13. Wie hoch waren die Erfolgsquoten von Klagen gegen Widerrufsbescheide
des BAMF im Jahr 2008 (bitte auch nach den zehn bedeutendsten Staatsan-
gehörigkeiten differenzieren und zumindest Angaben zum 1. Halbjahr
2008 machen, falls die Gesamtzahl noch nicht vorliegt)?

14. Ist die hohe Zahl der Widerrufe gegenüber anerkannten kurdischen Flücht-
lingen, bei denen es sich nicht selten um gefolterte und/oder psychisch er-
krankte Menschen handeln dürfte, angesichts der erheblichen psychischen
Belastungen solcher Verfahren (Unsicherheit des Aufenthaltstatus) und des
hohen Anteils der später durch Gerichte für rechtswidrig erklärten Wider-
rufe nach Auffassung der Bundesregierung überhaupt verantwortbar (bitte
begründen)?

15. Wie erklärt die Bundesregierung, dass die Quote der Widerrufe bei kurdi-
schen/türkischen Flüchtlingen etwa drei mal höher ist als bei anderen
Staatsangehörigen (bis Oktober 2008: 60 Prozent gegenüber 20 Prozent)
und dass etwa drei Viertel aller Asyl-Widerrufe und die Hälfte aller Wider-
rufe eines Flüchtlings-Status im Jahr 2008 türkische Staatsangehörige be-
trafen (vgl. Bundestagsdrucksache 16/10971, Frage 3)?

16. Mit welcher Begründung will die Bundesregierung weiter an obligato-
rischen Widerrufsprüfungen nach drei Jahren festhalten, obwohl diese
Regelung europaweit einmalig ist und kein anderes Land der EU derart
viele Widerrufe – nicht einmal ansatzweise – ausspricht wie die Bundes-
republik Deutschland?

17. Wie ist die – was die Regelüberprüfung und den Umfang der Widerrufe an-
belangt: isolierte – deutsche Widerrufspraxis mit dem Ziel eines einheit-
lichen Asylsystems in der EU zu vereinbaren?

18. Ist die Bundesregierung immer noch der Überzeugung, dass die deutsche
Gesetzeslage zu Widerrufen den europarechtlichen Vorgaben entspricht
(vgl. Bundestagsdrucksache 16/7426, Frage 11a), nachdem das Bundesver-
waltungsgericht im Februar 2008 dem Europäischen Gerichtshof (EuGH)
zahlreiche Fragen zur Auslegung der EU-Qualifikationsrichtlinie zur Klä-
rung vorgelegt hat, was bedeutet, dass das EU-Recht zu Asyl-Widerrufen
nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts offenkundig gerade nicht
eindeutig ist (bitte begründen)?

19. Ist der Bundesregierung das Rechtsgutachten des UNHCR in dem eben be-
nannten Vorlageverfahren beim EuGH bekannt, in dem der UNHCR – zum
wiederholten Male – seinen Standpunkt betont, dass die deutsche Wider-
rufspraxis nicht mit der Genfer Flüchtlingskonvention vereinbar sei, und
welche Konsequenzen zieht sie hieraus?

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20. Unter welchen Umständen ergibt sich für türkische Staatsangehörige, deren
Asyl- oder Flüchtlingsstatus widerrufen wurde, ein assoziationsrechtliches
Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss des Assoziationsrats EWG-Türkei
Nr. 1/80, und wie hoch schätzt die Bundesregierung angesichts dieser asso-
ziationsrechtlichen und der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Bestim-
mungen den Anteil derjenigen türkischen Flüchtlinge ein, die nach einem
bestandskräftigen Widerruf ein asylrechtsunabhängiges Aufenthaltsrecht
erhalten können?

21. Wie erklärt sich die Bundesregierung, dass überdurchschnittlich viele
(nämlich mehr als ein Drittel) der nach einem Widerruf nur noch gedulde-
ten ehemaligen anerkannten Flüchtlinge/Asylberechtigten in Bayern ge-
meldet waren (vgl. Bundestagsdrucksache 16/10986, Frage 7), obwohl in
Bayern nur ca. 13 Prozent aller anerkannten Flüchtlinge leben (vgl. Bun-
destagsdrucksache 16/8321, Frage 1 und 2) und zugleich die Beschäfti-
gungslage in Bayern günstiger als in anderen Bundesländern ist, weshalb
die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem Widerruf der Asyl-
anerkennung auf der Grundlage des allgemeinen Aufenthaltsrechts hier
eigentlich häufiger möglich sein müsste, und sieht sie diesbezüglich even-
tuell einen Gesetzesänderungs- oder sonstigen Handlungsbedarf zur Ver-
einheitlichung dieser Praxis?

Berlin, den 5. Januar 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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