BT-Drucksache 16/112

zu der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin

Vom 29. November 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 16/112
16. Wahlperiode 29. 11. 2005

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Dr. Wolfgang Gerhardt und
der Fraktion der FDP

zu der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die ehemalige Bundesregierung aus SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat
nach 7 Jahren Regierungsverantwortung eine dramatische Schlussbilanz hinter-
lassen: Knapp 5 Millionen Menschen sind offiziell arbeitslos. Hinzu kommen
über 1,3 Millionen Menschen, die sich in Betreuungsprogrammen der Arbeits-
verwaltung befinden sowie weitere Hunderttausende, die sich enttäuscht zu-
rückgezogen haben. Fast 7 Millionen Menschen – die höchste Zahl seit Bestehen
der Bundesrepublik Deutschland – sind ohne Arbeit. Deutschland ist zum wirt-
schaftlichen Schlusslicht in Europa geworden. Die wirtschaftlichen Probleme
Deutschlands, die anhaltende Wachstumsschwäche und die hohe Arbeitslosig-
keit sind das Ergebnis längerfristiger politischer und gesellschaftlicher Fehlent-
wicklungen. Sie sind in den letzten Jahren lediglich zunehmend deutlich gewor-
den. Die bisherigen Fehlentwicklungen liegen vor allem in immer mehr staatli-
chen Eingriffen und Regulierungen, die den Wettbewerb, die Eigeninitiative und
die Selbstverantwortung zunehmend verdrängt haben. Die Staatsquote ist von
32 Prozent zu Beginn der 60er Jahre auf heute etwa 50 Prozent gestiegen. Die
steigenden Steuern und Abgaben und die steigende Staatsverschuldung sind die
Konsequenz aus einem Übermaß an Verteilung in nahezu allen Systemen, eine
damit verbundene Undurchschaubarkeit und eine Lähmung der Eigeninitiative.

Die bisherigen Reformansätze in Deutschland sind zu kurzatmig, um wirklich
neue Perspektiven und Vertrauen zu schaffen. Die Agenda 2010 deutete zwar
einen Wechsel in Richtung von mehr Markt an, aber der Weg zu Wettbewerb und
Eigenverantwortung wurde zu zögerlich beschritten.

In diesem Jahr wird das Wachstum voraussichtlich erneut unter 1 Prozent blei-
ben. Es droht also die Rückkehr zum faktischen Stillstand der letzten Jahre. Alle
15 Minuten geht in Deutschland eine Firma Pleite. Unser Land zehrt von der
Substanz. Seit 2002 sind die öffentlichen Finanzen völlig aus dem Ruder gelau-
fen. Trotz niedriger Zinsen wird die Zinslast – ohne Einbeziehung möglicher
Zinserhöhungen – in den kommenden 4 Jahren von aktuell 39 Mrd. Euro auf

über 45 Mrd. Euro ansteigen. Lag der Schuldenstand Deutschlands 1999 bei
rd. 60 Prozent, liegt er 6 Jahre später bereits bei 65 Prozent. Die Entwicklung
seit 1999 ist nicht linear. Hält sie weiter an, wird Deutschlands Schuldenstand in
2 Dekaden 100 Prozent des Bruttoinlandprodukts erreichen. In jeder Stunde
eines Tages kommen zu dem bestehenden Schuldenberg 6 Mio. Euro neue
Schulden hinzu. Diese Hypothek lastet schwer auf Deutschlands Zukunft.

Drucksache 16/112 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Es gilt nun, das Land aus seiner tiefen Krise zu führen. Deutschland braucht eine
realistische Politik für mehr Arbeitsplätze, für mehr Wachstum und für solide
Staatsfinanzen und damit für eine fundierte, verlässliche soziale Sicherheit. Nur
ein klarer Kurswechsel kann Deutschland vor dem Abstieg bewahren und zu
neuer Stärke führen. Notwendig ist ein über mehrere Jahre angelegtes, in der
Sache überzeugendes Modernisierungsprogramm für die Bundesrepublik
Deutschland. Es geht um Erwirtschaften vor Verteilen, Freiheit vor Gleichheit,
Privat vor Staat, Eigenverantwortung statt Staatsgläubigkeit, Chancengleichheit
statt Gleichmacherei. Politik muss auf die Reduzierung von Standortkosten bei
Steuern und Abgaben abzielen. Sie muss Freiräume schaffen und die Regelungs-
dichte zurückführen. Sie muss forschungs- und bildungspolitische Impulse po-
sitiv begleiten. Die Tarifvertragsparteien müssen aus dem Festhalten an Flä-
chentarifen heraus. Nicht nur Unternehmen stehen im Wettbewerb, sondern
auch jeder Arbeitsplatz. Die Bürger müssen sich schließlich neu zwischen An-
sprüchen und eigener Verantwortung zum Erhalt sozialer Sicherheit und Freiheit
entscheiden. Es gibt keinen Staat, der für die Menschen mehr tun könnte, als sie
für sich selbst tun könnten und sollten. Eine verantwortungsvolle Politik muss
die Chancen Deutschlands nutzen, damit mehr Wachstum und mehr Arbeit ent-
stehen können. Sie muss die Menschen ermutigen. Die Menschen in Deutsch-
land müssen wieder erfolgreich ihre Chancen wahrnehmen können. Es geht um
die Jungen, die ihren Weg in das Berufsleben suchen. Es geht um die Mütter und
Väter, die wirtschaftliche Sicherheit für ihre Familien brauchen. Es geht um die
älteren Arbeitnehmer, auf deren Erfahrung unsere Gesellschaft nicht verzichten
kann. Und es geht um die alten Menschen, die sich ein langes Arbeitsleben hin-
durch ein Recht auf einen gesicherten Lebensabend erworben haben.

Vorrangig müssen wir folgende zentrale Aufgaben angehen:

1. Arbeit hat Vorfahrt

Erstes und wichtigstes Ziel ist die Belebung des Arbeitsmarktes in Deutschland.
Die dringend notwendigen Impulse auf dem Arbeitsmarkt müssen von 2 Seiten
angegangen werden: Wegräumen von Blockaden auf dem Arbeitsmarkt und
Weichenstellungen für mehr Wachstum. Denn Arbeit schafft Wachstum und
Wachstum schafft Arbeit.

Doch die Koalitionsvereinbarung ist kein Wachstumsprogramm. Sie ist Resultat
einer besseren Haushaltsverhandlung. Die Kassenlage diktiert die politischen
Inhalte. Ein wirtschafts- und ordnungspolitisches Leitmotiv ist nicht zu ent-
decken. Ein ganzheitliches Konzept zur Erneuerung Deutschlands wird auch
deshalb nicht vorgelegt, weil große Reformblöcke wegen unüberbrückbarer
Differenzen fast vollständig ausgeklammert werden. Statt Strukturreformen
anzupacken, wird das Heil in Konjunkturmaßnahmen gesucht.

Die Wettbewerbspolitik, das Herzstück jeder Wirtschaftspolitik, war der Koali-
tion von CDU, CSU und SPD nicht einmal einen eigenen Abschnitt im Koa-
litionsvertrag wert. Wettbewerb ist aber für die soziale Marktwirtschaft fun-
damental. Wettbewerb sorgt für Dynamik, faire Preise und Innovation. Doch
davon hält die Koalition offensichtlich wenig. Stattdessen verspricht die neue
Bundesregierung Wettbewerbsausnahmen etwa im Pressekartellrecht oder der
Breitbandverkabelung. Eine ordnungspolitische Linie ist dabei nicht zu erken-
nen.

Die Koalition ist offensichtlich in keynesianischem Denken verhaftet. Sie setzt
auf positive Konjunktureffekte im Jahre 2006 durch die Vorzieheffekte der
angekündigten Mehrwertsteuererhöhung und bei den Investitionen wegen der
befristeten Verbesserung der Abschreibungsbedingungen. Mit einer solchen
wirtschaftspolitischen Strategie ist Japan in den 90er Jahren gescheitert. Es

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/112

wurden allenfalls konjunkturelle Strohfeuer entfacht, denen hinterher drastische
Wachstumseinbußen folgten.

Auch für Deutschland ist ein Erfolg zweifelhaft. Dem Vorzieheffekt des Kon-
sums steht wahrscheinlich eine Erhöhung der Sparquote gegenüber, weil die
Menschen für die angekündigte Steuererhöhung Geld zurücklegen. Ob in einer
solchen gesamtwirtschaftlichen Lage die Abwartehaltung bei den Investitions-
entscheidungen der Unternehmen nachlässt, ist mehr als zweifelhaft.

CDU, CSU und SPD haben sich in ihrer Koalitionsvereinbarung an die dringend
notwendigen Reformen im Arbeitsrecht nicht herangetraut. Mit dem Kom-
promiss, dass der gesetzliche Kündigungsschutz bei Neueinstellungen erst nach
2 Jahren greift, ist im Interesse der Arbeitslosen kaum etwas gewonnen, da er
nicht über die bereits heute bestehende Rechtslage hinausgeht. Um die Bereit-
schaft der Unternehmen zur Einstellung neuer Mitarbeiter zu steigern, wäre der
richtige und wesentliche Schritt gewesen, den Schwellenwert des Kündigungs-
schutzgesetzes deutlich anzuheben und die Abwicklung von Arbeitsverhältnis-
sen bei arbeitgeberseitiger betriebsbedingter Kündigung durch die Aufnahme ei-
ner Optionsregelung zu vereinfachen und zu beschleunigen. Bei der gefundenen
Minimallösung bleibt es dabei: Nach wie vor schützt das Kündigungsschutzge-
setz zwar die Inhaber eines Arbeitsplatzes, erschwert aber Arbeitsuchenden den
Einstieg in den Arbeitsmarkt. Die zeitgleiche Abschaffung der sachgrundlosen
Befristung bis 2 Jahre macht das Ganze zu einem Nullsummenspiel.

Für die Schaffung von Arbeitsplätzen muss dringend eine größere Differenzie-
rung nach Sektoren und Regionen bei Löhnen und Arbeitszeiten erreicht wer-
den. Sie müssen sich an den betrieblichen Notwendigkeiten orientieren können.
Das entspricht einer der wichtigsten Vorstellungen des Sachverständigenrates
zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Es ist daher für den
Arbeitsmarkt fatal, dass keine Einigung im Streit über betriebliche Bündnisse er-
reicht wurde. Notwendig ist die gesetzliche Absicherung betrieblicher Bünd-
nisse für Arbeit durch Lockerungen im Tarifvertragsgesetz.

Eine Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozent-
punkte ist der richtige Ansatz, um Impulse für mehr Arbeitsplätze zu setzen.
Falsch ist es jedoch, wie in der Koalitionsvereinbarung vorgesehen, dies mit ei-
ner Anhebung der Mehrwertsteuer und damit neuen Belastungen für die Bürger
und Unternehmen zu verbinden. Die teilweise Nutzung der Mehrwertsteuer-
erhöhung zur Beitragssenkung nimmt den Druck für dringend notwendige
Strukturveränderungen bei der Bundesagentur für Arbeit.

In den anderen sozialen Sicherungssystemen – Rente, Gesundheit und Pflege –
versäumt die Koalition dringend notwendige Reformmaßnahmen und kann da-
her keinen Beitrag zu einer nachhaltigen Senkung der Lohnnebenkosten leisten.
Im Gegenteil werden Erhöhungen der Lohnnebenkosten angekündigt. Statt in
der Rentenpolitik den notwendigen Einstieg in die kapitalgedeckte Altersvor-
sorge verstärkt zu fördern, schreibt der Koalitionsvertrag das Umlageverfahren
und die gesetzliche Rentenversicherung (RV) explizit als wichtigste Säule der
Alterssicherung fest. Der Beitrag zur Rentenversicherung soll dafür 2007 auf
19,9 Prozent erhöht werden. Die heutige gesetzliche Krankenversicherung
(GKV), die auf dem Umlageverfahren basiert und hauptsächlich aus Löhnen
und Gehältern finanziert wird, belastet die Lohnzusatzkosten und gefährdet da-
durch Arbeitsplätze, benachteiligt die nachwachsenden Generationen und ist
nicht geeignet, die Herausforderung des medizinischen Fortschritts ohne Ratio-
nierung und/oder drastisch steigende Beitragssätze zu bewältigen. Notwendig
ist deshalb eine grundlegende Reform, die auf leistungsgerechte, lohnunabhän-
gige Prämien mit Altersrückstellungen abstellt, den Katalog der zu versichern-
den Grundleistungen auf das medizinisch unbedingt Notwendige beschränkt

und durch eine Auszahlung der Arbeitgeberbeiträge Planungssicherheit für die
Unternehmen gewährleistet.

Drucksache 16/112 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Der Koalitionsvertrag enthält keinen Vorschlag für eine nachhaltige, der demo-
grafischen Herausforderung gewachsene Finanzierung der chronisch defizitären
sozialen Pflegeversicherung, jedoch eine Vielzahl von Leistungsausweitungen.
Erst wenn jedoch die nachhaltige Finanzierung sichergestellt ist, und die ist nur
über den von der FDP vorgeschlagenen gleitenden Übergang in ein kapitalge-
decktes Versicherungssystem realisierbar, besteht ein Spielraum zur Dynamisie-
rung und Ausweitung der Leistungen.

Die derzeitige Ausgestaltung des Hartz IV-Gesetzes (SGB II) weist viele Män-
gel auf. Daher ist der Ansatz der Koalitionsvereinbarung durchaus richtig, dass
Änderungen an der Hartz IV-Reform kurzfristig vorgenommen werden sollen,
z. B. durch Bekämpfung von Leistungsmissbrauch. Die Koalition beseitigt da-
mit Fehler, die zu den drastischen Mehrausgaben geführt haben. Keine entschei-
denden Änderungen werden jedoch zur Lösung des Grundproblems vorgenom-
men, dass nämlich die erzwungene Kooperation zwischen der Bundesagentur
für Arbeit und den Kommunen bei der Betreuung Langzeitarbeitsloser nicht
funktioniert. Im Interesse der Arbeitslosen wäre es richtig gewesen, die Verant-
wortung für die Vermittlung und Integration Arbeitsloser auf die Kommunen zu
übertragen, die dafür, grundgesetzlich abgesichert, einen finanziellen Ausgleich
erhalten müssen.

Die Energiepolitik als Standortpolitik ist unter der früheren Koalition der SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum reinen Anhängsel der Umweltpolitik ge-
worden. Die ökonomische Bedeutung bezahlbarer Energie für Verbraucher und
Unternehmen ist gegenüber den Fragen der Umweltverträglichkeit systematisch
vernachlässigt worden. Die jetzige Koalition hat sich entschlossen, diesen ener-
giepolitischen Crashkurs fortzusetzen: Der Kardinalfehler der letzten Jahre, die
Verfolgung einer dirigistischen, staatszentrischen Energiepolitik soll unverän-
dert weiterverfolgt werden. So wird am Beschluss zum Ausstieg aus der Kern-
energie, der ökonomisch wie ökologisch sinnlos ist, unverändert festgehalten,
die Entsorgungsfrage bleibt ungelöst. Die Frage der Subventionierung der deut-
schen Steinkohle soll auf die lange Bank geschoben werden, das erforderliche
Bekenntnis zum Ausstieg aus dieser Subventionierung der Vergangenheit zum
frühest möglichen Zeitpunkt im Jahre 2008 fehlt. Und auch im Bereich der För-
derung der erneuerbaren Energien mittels der Zwangseinspeisung zu Garantie-
preisen über 20 Jahre (Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG)) wird die bisherige
Linie fortgesetzt, allenfalls sind Angleichungen der Fördersätze für die einzel-
nen Energieträger vorgesehen. Eine Rückführung der staatlichen Zusatzlasten
durch Ökosteuer, Mehrwertsteuer, Mineralölsteuer, Kraft-Wärme-Kopplungs-
gesetz und EEG ist nicht beabsichtigt. Die notwendige Kehrtwende bleibt also
aus, die bisherige Strategie einer dirigistischen Energieverteuerungspolitik wird
unverändert fortgesetzt.

Die FDP dagegen setzt auf eine Rückkehr zur energiepolitischen Vernunft.
Künftig muss auch die Wirtschaftlichkeit neben der Versorgungssicherheit und
der Umweltverträglichkeit gleichrangiges energiepolitisches Ziel sein. Die deut-
sche Energiewirtschaft sollte sich endlich wieder an Markt und Wettbewerb
orientieren. Hierzu muss die staatliche Privilegierung (siehe EEG) bestimmter
Energieträger, aber auch der staatlich gewollte Ausschluss anderer Energie-
erzeugungsarten (siehe Kernenergie) ein Ende haben. Dies sollten unterneh-
merische Entscheidungen sein. Stattdessen müssen vor allem die wettbewerbs-
feindlichen Oligopolstrukturen auf den Strom- und Gasmärkten nachhaltig
aufgebrochen werden und die Voraussetzungen für funktionierende Märkte
geschaffen werden.

2. Neue Steuergesetzgebung

Deutschland braucht einen steuerpolitischen Neuanfang. Ziel muss sein, das

deutsche Steuerrecht grundlegend neu zu formulieren und ein Steuerrecht zu
schaffen, das wesentlich einfacher ist, das mit niedrigeren Sätzen auskommt, das

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/112

auch im internationalen Wettbewerb bestehen kann und das vom Steuerzahler
als gerecht empfunden wird.

In der Steuerpolitik gibt es in der Koalition nicht einmal einen Ansatz für eine
Strukturreform. Es besteht bei allen Experten breite Übereinkunft darin, dass
zum Ausgleich des Wegfalls steuerlicher Vergünstigungen die Steuersätze
sinken müssen. Alle Ausnahmen wurden bei ihrer Einführung mit den hohen
Steuersätzen begründet. Niedrige Steuersätze sind zudem ein Beitrag für mehr
wirtschaftliche Dynamik, mehr Investitionen und Arbeitsplätze. Die Koalition
beschränkt sich auf viele kleine Steuererhöhungen durch den Wegfall oder
Abbau von Steuervergünstigungen. Dazu gehören die Einschränkung der Pend-
lerpauschale, die Absenkung des Sparerfreibetrags, die Besteuerung privater
Veräußerungsgewinne oder der Wegfall der degressiven Abschreibung bei Im-
mobilien. Einer Absenkung der Tarife wird eine Absage erteilt. Darüber hinaus
werden durch die so genannte Reichensteuer sowie die Anhebung von Mehr-
wert- und Versicherungsteuer auf 19 Prozent Steuern an anderer Stelle erhöht.
Steuervereinfachung spielt überhaupt keine Rolle. Das zeigt die Einführung
neuer Sondertatbestände, z. B. die vorübergehende Anhebung der Abschrei-
bungssätze für Unternehmen oder eine neue, steuersparende Rücklagemöglich-
keit für die Binnenschifffahrt. Die Koalition bekennt sich dazu, durch steuer-
liche Maßnahmen lenkend in das Wirtschaftsgeschehen einzugreifen.

Deutschland hat in Europa die höchsten Steuersätze für Unternehmen. Trotz jah-
relanger Diskussionen und dringenden Handlungsbedarfs wird eine Unterneh-
mensteuerreform erst für 2008 in Aussicht gestellt. Völlig offen bleibt, wie sie
inhaltlich ausgestaltet werden soll. Insbesondere zur Gewerbesteuer, die längst
hätte abgeschafft werden müssen, gibt es nur vage Äußerungen. Das verunsi-
chert die Wirtschaft im In- und Ausland und zeugt von der Rat- und Mutlosig-
keit, mit der die Koalition ihre Arbeit beginnt. Leitlinie der Koalition ist aus-
schließlich die Erhöhung von Steuern durch den Wegfall von Vergünstigungen.
Anstatt die Ursachen für die Defizite im Haushalt zu beseitigen, sollen sie ledig-
lich kurzfristig mit neuen Einnahmen zugeschüttet werden.

Die Steuersätze müssen sinken und zum Ausgleich steuerliche Vergünstigungen
abgebaut werden. Vorrangig ist eine Reform der Unternehmensbesteuerung, da-
mit die Belastung der deutschen Unternehmen international wieder wettbe-
werbsfähig wird. Nur über Anreize für mehr Beschäftigung werden am Ende
Haushalte konsolidiert und soziale Sicherungssysteme saniert werden können.

3. Solide Haushaltspolitik

Die Verschuldungsfrage muss zu einer Generationenfrage gemacht werden. Das
heißt konkret in der Finanz- und Haushaltspolitik, den Generationenvertrag in
beide Richtungen auszulegen: So wie wir die Lebensleistungen der älteren Ge-
neration zu achten und gegen Angriffe zu verteidigen haben, müssen wir ebenso
die Chancen der Jungen und Ungeborenen bewahren. Wechsel zu Lasten kom-
mender Generationen darf es deshalb nicht mehr geben. Dazu gehört, die von
der früheren Koalition der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Schei-
tern gebrachte Föderalismusreform dazu zu nutzen, endlich klare Zuständigkei-
ten zwischen dem Bund und den Ländern vor allem in den Finanzbeziehungen
zu schaffen und Mischfinanzierungen umfassend zurückzuführen. So wie die
Bundesländer ein existentielles Interesse an finanzstarken Kommunen haben,
hat der Bund ein Interesse an verfassungskonformen Haushalten in den Ländern.
Die bestehende Verschuldungsspirale muss auf allen Ebenen durchbrochen und
durch eine gemeinsame Konsolidierungsanstrengung ersetzt werden.

Das in der Koalitionsvereinbarung angesprochene, so genannte Konsolidie-
rungsprogramm ist ein einziges „Einnahmeverbesserungsprogramm“. Zwischen
Ausgabenminderungen und Einnahmeerhöhungen besteht ein eklatantes Miss-

verhältnis. Im Betrachtungszeitraum 2006 bis 2009 wird der Staat durch die Er-

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höhung der Mehrwert- und Versicherungsteuer auf 19 Prozent ab dem 1. Januar
2007, dem Abbau von Steuervergünstigungen, der sog. Reichensteuer sowie
Einmalerlösen u. a. durch die Verbriefung des ERP-Sondervermögens (ERP:
Europäisches Wiederaufbauprogramm) und bei den Postunterstützungskassen
rd. 150 Mrd. Euro einnehmen. Dem stehen – berücksichtigt man die Lastenver-
schiebungen in die Sozialkassen (Abbau Pauschalabgeltung versicherungsfrem-
der Leistungen an die GKV und Reduzierung Hartz-Zuschuss an die RV) – an
„echten“ Minderausgaben 15 Mrd. Euro gegenüber. Angesichts eines 10:1-Ver-
hältnisses führt der Begriff „Sparpaket“ völlig in die Irre. Zudem ist abzusehen,
dass mit dem „Verschiebebahnhof Sozialkassen“ die Beitragssätze für die Ver-
sicherten weiter steigen werden. Statt den Staatshaushalt konsequent durch Ein-
sparungen bei Subventionen, Staatskonsum und Leistungen zu sanieren, wollen
CDU, CSU und SPD den konjunkturpolitisch schädlichen Weg über Steuer-
erhöhungen gehen. Diese Vorgehensweise verschafft nur kurzzeitig Luft in den
Staatshaushalten. Wegen der deutlich höheren Dynamik der Ausgaben wird
schon nach einigen Jahren erneut nachgesteuert werden müssen; umfangrei-
chere und drastischere Konsolidierungsschritte wären die Folge. Erfahrungsge-
mäß sind Ausgabenkürzungen flankiert durch Eingriffe in die Leistungsgesetze
nachhaltiger und Erfolg versprechender für den Konsolidierungskurs als Ein-
nahmeerhöhungen.

Bemerkenswert ist, dass CDU, CSU und SPD zunächst – noch bevor die Bun-
desminister den Eid auf die Verfassung abgelegt hatten – den Haushalt 2006
schon verloren gegeben und die Verfassungswidrigkeit nach Artikel 115 GG ein-
geräumt haben, obwohl SPD, CDU und CSU mit dem hehren Ziel in die Koali-
tionsverhandlungen gegangen waren, für 2006 einen verfassungskonformen
Haushalt vorzulegen. Mit der sprachlichen und rechtlichen Wendung und dem
Hinweis auf die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts – ein Sach-
verhalt, der im Übrigen bestritten werden kann – ist aber nicht das Haushaltspro-
blem für 2006 abgewendet. Insgesamt 41 Mrd. Euro Neuverschuldung stehen
rd. 23 Mrd. Euro an Investitionen gegenüber. Die große Koalition wird darlegen
müssen, inwieweit die erhöhte Kreditaufnahme geeignet sein wird, die Störung
des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzuwenden. Dabei muss die durch
eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts veranlasste erhöhte
Kreditaufnahme final auf die Abwehr dieser Störung bezogen sein und ein
mögliches Ungleichgewicht abwehren können. Es bleibt daher abzuwarten, ob
und gegebenenfalls wie die große Koalition ihrer Darlegungslast nachkommen
und die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts begründen wird.

4. Priorität für Familien

Familienpolitik muss zu einer echten Querschnittsaufgabe deutscher Politik
werden. Der Deutsche Bundestag bekennt sich zu dem Ziel, die Voraussetzun-
gen für ein Leben mit Kindern zu verbessern. Es müssen schnell neue Akzente
in der Politik für Familien mit Kindern gesetzt werden. Das, was Familien für
den Lebensunterhalt und für die Erziehung von Kindern aufwenden müssen, soll
von jeder Besteuerung freigestellt bleiben. Dazu muss ein einheitlicher Grund-
freibetrag pro Familienmitglied eingeführt werden. Die Haushaltssanierung
muss zu einer Generationenfrage gemacht werden. Es muss Schluss sein damit,
dass Lasten von heute auf noch junge oder ungeborene Generationen verlagert
werden.

Das Vorhaben der Koalition, das heutige Erziehungsgeld durch ein zwölfmona-
tiges, einkommensabhängiges Elterngeld zu ersetzen und die maximal dreijäh-
rige Elternzeit zu erhalten, ist grundsätzlich zu begrüßen. Die konkrete Umset-
zung in Gesetzesform wird aber kritisch zu begleiten sein. Insbesondere ist
wichtig, wie eine Benachteiligung von vor der Geburt nicht erwerbstätigen El-

ternteilen vermieden und in welcher Weise eine Budgetregelung die Wünsche
der Eltern nach flexiblen, individuellen Lösungen berücksichtigt wird. Abzuleh-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/112

nen ist, dass die Teilzeitregelungen nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz
unverändert bleiben sollen. Denn diese können zum Einstellungshemmnis für
junge Frauen werden.

Der bestehende Kinderzuschlag soll laut Koalitionsvertrag ab 2006 so weiter-
entwickelt werden, dass der Berechtigtenkreis deutlich ausgeweitet wird. Trans-
ferleistungen für Familien sollen harmonisiert und organisatorisch in einer Fa-
milienkasse gebündelt werden. Der Grundgedanke, Leistungen effektiv, effizi-
ent und transparent zu organisieren und bedarfsgenaue Transfers zu leisten, ist
grundsätzlich zu begrüßen. Bislang ist der Kinderzuschlag jedoch nicht sehr wir-
kungsvoll in der Bekämpfung von Kinderarmut und hoch bürokratisch. Es bleibt
abzuwarten, ob dies künftig besser wird und ob die konkret noch zu planende
Familienkasse tatsächlich eine zielgenaue Wirksamkeit, hohe Effizienz und Bür-
gerfreundlichkeit bringt.

Der in der Koalitionsvereinbarung vorgesehene Erhalt des von der rot-grünen
Koalition verabschiedeten Tagesbetreuungsausbaugesetzes (TAG), die bis 2010
vorgesehene Schaffung von 230 000 Betreuungsplätzen für unter dreijährige
Kinder sowie die geplante Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Aus-
übung der Tagespflege sind grundsätzlich zu begrüßen. Der Ausbau der Kinder-
betreuungsangebote, besonders der Tagespflege, die Gebührenfreiheit und auch
ein vorgezogener Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz sind wichtige Maß-
nahmen einer zukunftsorientierten Familienpolitik. Dabei ist allerdings zu beto-
nen, dass die Finanzierung der neuen Betreuungsplätze i. H. v. 1,5 Mrd. Euro
jährlich aus Einsparungen aus Hartz IV für die Kommunen nicht gesichert ist.
Die Koalitionsvereinbarung hält aber an dieser Finanzierungsform fest. Statt-
dessen fordert der Deutsche Bundestag, die Kinderbetreuung als kommunale
Aufgabe angemessen in der Neuregelung der Finanzen im Zuge der Föderalis-
musreform zu berücksichtigen. Da die Finanzreform in der Föderalismusreform
jedoch von der Koalition vertagt wird, ist hier keine Lösung in Sicht.

5. Innovationskraft Deutschlands stärken

Kluge Köpfe sind die wichtigste Ressource unseres Landes. Neue Ideen schaf-
fen neue Produkte und neue Arbeitsplätze.

Bildung und Forschung müssen wieder in den Vordergrund rücken. Forschung
im Dienst des Menschen benötigt Freiheit. Innovationen brauchen ein Klima des
Aufbruchs und ein gesellschaftliches Umfeld, das wieder Zukunftsvisionen er-
möglicht, sie fördert und zugleich auch akzeptiert. Ein hervorragend aufgestell-
tes Forschungssystem und die Spitzenforschung bilden die Grundlage für wett-
bewerbsfähige Produkte und Dienstleistungen und die Schaffung hochwertiger
Arbeitsplätze.

Die jährlichen Investitionen in Forschung und Entwicklung (FuE) müssen bis
2010 schrittweise gesteigert werden. Bereits 2006 sollen die FuE-Ausgaben des
Bundes um 520 Mio. Euro auf 9,48 Mio. Euro erhöht werden. Jährlich steigende
Zuwächse sollen bis 2010 dazu führen, dass am Ende 11,9 Mrd. Euro pro Jahr
durch den Bund für FuE eingesetzt wird. Ein Drei-Prozent-Anteil für FuE am
Bruttoinlandsprodukt ist aber nur zu erreichen, wenn die Wirtschaft in die Lage
versetzt wird, den Löwenanteil von rd. 2 Dritteln auch tatsächlich zu tragen. Da-
für müssen Anreize geschaffen werden.

Die Qualität des deutschen Bildungswesens muss sich insgesamt verbessern.
Dies wird nur gelingen, wenn die einzelnen Bildungseinrichtungen in einen
Wettbewerb um die beste Ausbildung treten. Dazu brauchen sie das Recht der
Selbstverwaltung, größere Personalautonomie sowie pädagogische und finanzi-
elle Eigenverantwortung, aber auch übergreifende und durch unabhängige Insti-
tutionen garantierte Qualitätsstandards. Frühkindliche Bildung ist der entschei-

dende Faktor für die Chancengerechtigkeit am Start. Faire Chancen sind eine

Drucksache 16/112 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Grundvoraussetzung, um Kindern aus allen sozialen Schichten eine bessere Zu-
kunft zu ermöglichen.

Die geplante Föderalismusreform darf nicht zu Lasten der Hochschulen gehen.
Besonders sie benötigen eine umfassende und garantierte Autonomie. Zur Be-
wältigung der großen Herausforderungen durch die steigenden Studierenden-
zahlen und den zunehmenden internationalen Wettbewerb müssen Hochschul-
förderprogramme auch mit Bundesbeteiligung möglich bleiben.

Die Berufsbildung muss sich weiter modernisieren. Die Weiterbildung muss in
unserer älter werdenden Gesellschaft zur 4. Säule des Bildungswesens werden.
Dafür sind neue Finanzierungsformen zu entwickeln. Die Möglichkeiten des
eLearning müssen und können gerade in diesem Bereich durch Forschungs- und
Erprobungsprogramme mit Nachdruck vorangetrieben werden.

Damit in Deutschland innovative Verfahren und Produkte entwickelt werden
können, müssen die selbst auferlegten Denkblockaden beseitigt werden. Wir
brauchen eine eigene Stammzellforschung, um Heilungsverfahren für degenera-
tive Krankheiten einer älter werdenden Gesellschaft zu entwickeln, die grüne
Gentechnik für die Schaffung leistungsfähiger Sorten für eine gesunde Ernäh-
rung und zur Schonung der Natur durch Einsparung von Pflanzenschutzmitteln,
die Intensivierung der Forschung über die Nutzung nachwachsender Rohstoffe
für eine stärker auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Wirtschaft.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. ein ganzheitliches Reformkonzept für mehr Wettbewerb und Eigenverant-
wortung zur Erneuerung Deutschlands vorzulegen und dabei insbesondere

2. die Vorschläge im Jahresgutachten 2005/06 des Sachverständigenrates zur
Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zu berücksichtigen,

3. den Staatshaushalt konsequent durch Einsparungen bei Subventionen, Staats-
konsum und Leistungen zu sanieren, auf konjunkturschädliche Steuererhö-
hungen zu verzichten und dem Deutschen Bundestag einen verfassungskon-
formen Haushaltsentwurf für das Jahr 2006 vorzulegen,

4. durch eine Steuer-Strukturreform, verbunden mit einer Absenkung der Steu-
ersätze sowie durch eine zügige Reform der Unternehmensbesteuerung die
Voraussetzungen für eine bessere internationale Wettbewerbsfähigkeit deut-
scher Unternehmen, für mehr wirtschaftliche Dynamik, mehr Investitionen
und neue Arbeitsplätze zu schaffen,

5. durch eine Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik und strukturelle Verände-
rungen bei der Bundesagentur für Arbeit den Faktor Arbeit für mehr Wachs-
tum und Beschäftigung zu entlasten,

6. die notwendigen Reformen in den sozialen Sicherungssystemen im Hinblick
auf die Finanzierbarkeit, die Nachhaltigkeit und die Sicherung von Arbeits-
plätzen umgehend anzugehen und zugleich die Kapitaldeckung gegenüber
der Umlagefinanzierung zu stärken.

Berlin, den 29. November 2005

Dr. Guido Westerwelle
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion
Entschließungsantrag
zu der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin

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