BT-Drucksache 16/10924

Wehrpflicht und Musterungspraxis

Vom 11. November 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10924
16. Wahlperiode 11. 11. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Monika Knoche und der Fraktion
DIE LINKE.

Wehrpflicht und Musterungspraxis

Auf der Kinder-Website der Bundesregierung erklärt der Bundesminister der Ver-
teidigung, Dr. Franz Josef Jung, Wehrpflicht und Wehrgerechtigkeit folgender-
maßen (http://www.regierenkapieren.de/nsc_true/Webs/KW/Content/DE/Artikel/
Anlagen/jung-ministertext-pdf,templateId=raw,property=publication File.pdf/
jung-ministertext-pdf): „Um immer genug Soldaten zu haben, müssen alle jungen
Männer, die mit der Schule fertig und 18 Jahre alt sind, für neun Monate als Soldat
zur Bundeswehr. Die nennt man dann ,Wehrpflichtige‘. Der Name kommt daher,
dass Deutschland sie braucht, um sich notfalls ,wehren‘ zu können. Und da alle
jungen Männer zur Bundeswehr müssen, ist es ihre ,Pflicht‘.“

Die Realität steht in einem auffallenden Widerspruch zur Ministererklärung.
Lediglich 16,7 Prozent des Jahrgangs 1984 haben den neunmonatigen Grund-
wehrdienst oder den längeren „freiwilligen Wehrdienst“ angetreten. Nicht alle,
sondern nur jeder Sechste hat aufgrund der „allgemeinen Wehrpflicht“ den
Militärdienst antreten müssen oder freiwillig angetreten. Angesichts von Jahr-
gangsstärken mit durchschnittlich über 350 000 jungen Männern, die ab 2010
in die Wehrpflicht hineinwachsen, ist auch in Zukunft keine signifikante Ände-
rung der Einberufungsquote zu erwarten. Gemäß dem gültigen Personal-
strukturmodell der Bundeswehr wird die Anzahl der Dienstposten für Grund-
wehrdienstleistende auf 30 000 gesenkt. Dies würde bei einer neunmonatigen
Dienstzeit die Einberufung von 40 000 jungen Männern erlauben. Selbst wenn
man die 25 000 Dienstposten für die freiwillig länger Wehrdienstleistenden (die
sich aus eigenem Antrieb für einen Zeitraum zwischen 10 und 23 Monaten ver-
pflichten und durchschnittlich etwa 17 500 Einberufungen pro Jahr erhalten)
dazurechnet, wären insgesamt lediglich rund 57 500 Einberufungen möglich
(Bundestagsdrucksache 16/8637, Antwort zu Frage 60).

Vor dem Hintergrund dieser offensichtlichen Diskrepanz zwischen verfügbaren
Dienstposten und Jahrgangsstärken ist es wichtig zu prüfen, ob die derzeitige
Wehrpflichtpraxis den Vorgaben des Grundgesetzes (GG) genügt und u. a. nicht
das Willkürverbot verletzt. Das grundgesetzlich geschützte Willkürverbot greift
nicht nur bei der strafbewehrten Heranziehung zu Zwangsdiensten, sondern
bereits im Vorfeld. Insbesondere die Musterung, deren Ergebnis entscheidend

dafür ist, ob jemand nicht dienen braucht oder zum Dienen zur Verfügung steht,
muss nach gleichen und nicht nach willkürlichen Kriterien durchgeführt wer-
den. Angesichts eines rapiden Anstiegs der Ausmusterungsquote in den letzten
sieben Jahre (2000 bis 2007) von 10 Prozent auf knapp 40 Prozent und an-
gesichts der deutlich höheren Entlassungsquote von Wehrdienstleistenden, die
aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig entlassen werden, im Vergleich zu

Drucksache 16/10924 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Zivildienstleistenden scheinen Zweifel berechtigt, ob alle Wehrpflichtigen im
Rahmen der Tauglichkeitsbeurteilungen gleich behandelt werden.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Tauglichkeitsbeurteilungen gab es bei den abgeschlossenen Erst-
musterungen in den Kalenderjahren 2006 und 2007 und im ersten Halbjahr
2008 (bitte aufgeschlüsselt nach Kalenderjahr, nach Kreiswehrersatz-
ämtern, nach Wehrbereichsverwaltungen und Bundesländern)?

2. Welche Erklärung hat die Bundesregierung dafür, dass die Tauglichkeits-
grade bei diesen Musterungen bei den Kreiswehrersatzämtern unterschied-
lich vergeben werden?

3. Wie viele Wehrpflichtige der Jahrgänge 1981 bis 1984 wurden vor dem
Erreichen des 19. Lebensjahres gemustert (bitte aufgeschlüsselt nach Jahr-
gängen)?

4. Ist der Widerruf eines Einberufungsbescheides im Fall eines 22-jährigen
Wehrpflichtigen, der sich an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundes-
tages (Bundestagsdrucksache 16/9500, S. 39) gewandt hatte, weil er trotz
Verfügbarkeit erst etwa 18 Monate später gemustert und anschließend zur
Bundeswehr einberufen wurde, ein Einzelfall?

5. In wie vielen gleichgelagerten Fällen wurden Einberufungsbescheide wider-
rufen?

6. Welche Gründe sprechen aus Sicht des Bundesministeriums der Verteidi-
gung (BMVg) dagegen, Einberufungen nur innerhalb eines bestimmten
Zeitraums ab Verfügbarkeit des Wehrpflichtigen zuzulassen um eine ge-
wisse Planungssicherheit für die Wehrpflichtigen zu gewährleisten?

7. Wann und wie werden Wehrpflichtige über ihre Rechte im Rahmen des
Musterungsverfahrens unterrichtet, und betrifft dies auch die ärztliche
Untersuchung?

8. Werden die Wehrpflichtigen im Rahmen dieser Unterrichtung darüber
informiert, dass sie beantragen können, einzelne Teiluntersuchungen, vor
allem im Intimbereich, von gleichgeschlechtlichen Ärzten vornehmen zu
lassen?

Wenn nicht, mit welcher Begründung?

9. Trifft es zu, dass es zur Umsetzung des § 17 des Wehrpflichtgesetzes
(WPflG) frühere Anweisungen gegeben hat, dass Frauen nicht an der ärzt-
lichen Untersuchung von Wehrpflichtigen beteiligt sein dürfen?

a) Wenn ja, welche Gründe gab es damals für diese Anweisungen?

b) Wann und mit welcher Begründung wurden diese Anweisungen auf-
gehoben?

10. Welche Möglichkeiten haben Wehrpflichtige und freiwillige Bewerbe-
rinnen und Bewerber im Rahmen des Musterungsverfahrens bzw. der An-
nahmeuntersuchung medizinische Teiluntersuchungen von externen Ärz-
tinnen und Ärzten durchführen zu lassen, und wie werden die Wehrpflichti-
gen und freiwilligen Bewerberinnen und Bewerber darüber informiert?

11. Trifft es zu, dass Frauen im Rahmen der Tauglichkeitsfeststellung bei der
Bundeswehr von vorneherein das sinnvolle Recht eingeräumt wird, für vor-
geschriebene Teiluntersuchungen, z. B. im Genitalbereich, entsprechende
Atteste externer Ärzte einzureichen, und insbesondere den Zwangsdienst-
leistenden dieses sinnvolle Recht nur auf Nachfrage bzw. Bitte eingeräumt

wird?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/10924

Wenn ja, wie ist dies mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung zu verein-
baren?

12. Welche Gründe sprechen nach Auffassung der Bundesregierung gegen die
Gleichbehandlung aller Menschen im Rahmen der Tauglichkeitsunter-
suchung bei der Bundeswehr?

13. Werden Wehrpflichtige am Tage ihrer Musterung durch Mitarbeiter des
Kreiswehrersatzamtes im Rahmen der Personalaufnahme und somit vor der
ärztlichen Untersuchung gefragt, ob sie Wehrdienst oder Zivildienst leisten
bzw. einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellen wollen?

a) Wenn ja, in welcher Form wird die Antwort aktenkundig oder in anderer
Weise dokumentiert?

b) Wenn ja, wird den Wehrpflichtigen angeboten, sogleich einen Antrag
auf Kriegsdienstverweigerung zu stellen, und hat das Kreiswehrersatz-
amt entsprechende Vordrucke?

c) Wenn ja, wie wird ausgeschlossen, dass Mitarbeiter des ärztlichen
Dienstes die Entscheidung auf Kriegsdienstverweigerung vor der Mus-
terungsuntersuchung zur Kenntnis nehmen können?

d) Wenn nein, in welcher Weise werden Wehrpflichtige im Rahmen der
Erfassung, Musterungsvorbereitung und Musterung über das Grund-
recht auf Kriegsdienstverweigerung informiert?

14. Wie viele Soldaten stellten sei Januar 2007 während ihrer Dienstzeit einen
Antrag auf Kriegsdienstverweigerung (bitte aufgeschlüsselt nach Monaten
und Status als Grundwehrdienstleistender (GWDL), freiwillig Wehrdienst
leistende Soldaten (FWDL), Soldat auf Zeit (SaZ) und Berufssoldaten)?

15. Wie viele einberufene Wehrpflichtige hatten im Jahr 2008 den Grundwehr-
dienst anzutreten (einschließlich Marine)?

16. Wie viele einberufene Wehrpflichtige hatten im Jahr 2008 den freiwillig
längeren Wehrdienst anzutreten (einschließlich Marine)?

Berlin, den 4. November 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.