BT-Drucksache 16/10685

Deutsch-syrisches Rückübernahmeabkommen

Vom 21. Oktober 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10685
16. Wahlperiode 21. 10. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Jan Korte, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Deutsch-syrisches Rückübernahmeabkommen

Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Arabischen Republik Syrien
ist am 14. Juli dieses Jahres ein Abkommen abgeschlossen worden, das beide
Seiten zur Rückübernahme von eigenen und fremden Staatsangehörigen sowie
Staatenlosen verpflichtet, die aus oder über das Hoheitsgebiet des einen Ver-
tragsstaates in das Hoheitsgebiet des anderen Vertragsstaates illegal eingewan-
dert sind oder sich illegal dort aufhalten.

Die deutsche Seite verspricht sich davon vor allem, staatenlose Kurdinnen und
Kurden aus Syrien abschieben zu können. Dies scheiterte bislang zumeist an
der Weigerung des syrischen Staates, diese Personen aufzunehmen.

Die Weigerung zur Aufnahme staatenloser Kurdinnen und Kurden ist Teil der
Arabisierungspolitik des syrischen Regimes in den mehrheitlich kurdisch
besiedelten Gebieten im Norden und Osten des Landes. Im nördlichen Teil,
der „Jazira“, wurde 1962 eine Volkszählung durchgeführt, in deren Folge
ca. 120 000 Kurdinnen und Kurden ausgebürgert und damit staatenlos wurden.
Kurdinnen und Kurden, denen die Staatsangehörigkeit entzogen wurde, gelten
seitdem als „Ausländer“, da ihnen der syrische Staat unterstellt, illegal aus der
Türkei und dem Irak eingewandert zu sein. Kurdinnen und Kurden, die bei der
Volkszählung nicht erfasst wurden, sind seitdem „Nichtregistrierte“, ebenso wie
ihre Nachkommen und die Nachkommen von „Ausländern“. Human Rights
Watch (HRW) schätzte 1996 ihre Zahl auf insgesamt ca. 200 000.

Im Alltag hat der Status als „Ausländer“ oder als „Nichtregistrierter“ zahlreiche
negative Konsequenzen. In den anderen Provinzen Syriens sind die zur Identifi-
zierung ausgestellten Papiere unbekannt oder werden nicht anerkannt. Mit die-
sen Papieren ist es selbst in den Herkunftsregionen in Syrien nicht möglich, an
Schulabschlussprüfungen teilzunehmen, der Weg zur Universität ist damit voll-
kommen versperrt. Viele weitere Maßnahmen aus den 80er/90er Jahren hatten
oder haben eine kulturelle und politische Diskriminierung der Kurdinnen und
Kurden zum Ziel: es darf nicht auf Kurdisch publiziert oder unterrichtet wer-
den, es ist verboten, am Arbeitsplatz kurdisch zu sprechen, kurdische Firmen-
namen sind ebenso verboten wie das Singen nicht-arabischer Lieder auf Hoch-
zeiten und anderen Festen. Nur syrische Staatsbürger dürfen Eigentümer oder

Herausgeber von Zeitschriften und Zeitungen sein. In Reaktion auf politische
Aktivitäten von Kurdinnen und Kurden kommt es regelmäßig zu gewaltsamen
Übergriffen der syrischen Sicherheitskräfte, Folterungen und anderen Willkür-
maßnahmen.

Viele Kurdinnen und Kurden aus Syrien haben deshalb das Land verlassen und
unter anderem in der Bundesrepublik Deutschland Zuflucht gesucht. Viele

Drucksache 16/10685 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

erhielten keinen Asyl- oder Flüchtlingsstatus und leben deshalb seit vielen Jah-
ren nur mit einer Duldung in der Bundesrepublik Deutschland.

Viele Ausländerbehörden haben vom syrischen Staat die Legende übernom-
men, dass die Betroffenen (oder deren Vorfahren) eigentlich aus der Türkei
kommen und sie also die Möglichkeit hätten, die türkische Staatsangehörigkeit
zu erlangen. Da die meisten kurdischen Syrer aus Angst vor einer Abschiebung
an einer entsprechenden „Passbeschaffung“ nicht mitwirken, wird ihnen wegen
Verletzung der aufenthaltsrechtlichen Mitwirkungspflichten ein Bleiberecht
verweigert und sie bleiben ausreisepflichtig. Mit dem deutsch-syrischen Rück-
übernahmeabkommen ist eine neue Grundlage zur Durchsetzung dieser Ausrei-
sepflicht, mit anderen Worten: zur massenhaften Abschiebung der kurdischen
Syrer, geschaffen worden. Das Problem der Staatenlosigkeit und die damit ver-
knüpfte Diskriminierung der Betroffenen bleiben dabei ungelöst.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Syrer befanden sich zum Stichtag 30. September 2008 mit einer
Niederlassungserlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland,

a) die vor weniger als sechs Jahren in die Bundesrepublik Deutschland ein-
gereist sind,

b) die seit sechs Jahren oder länger in der Bundesrepublik Deutschland leben

(bitte nach Bundesländern auflisten)?

2. Wie viele Syrer befanden sich zum Stichtag 30. September 2008 mit einer
Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland,

a) die vor weniger als sechs Jahren in die Bundesrepublik Deutschland ein-
gereist sind,

b) die seit sechs Jahren oder länger in der Bundesrepublik Deutschland leben

(bitte nach Bundesländern auflisten)?

3. Wie viele Syrer befanden sich zum Stichtag 30. September 2008 mit einer
Gestattung in der Bundesrepublik Deutschland,

a) die vor weniger als sechs Jahren in die Bundesrepublik Deutschland ein-
gereist sind,

b) die seit sechs Jahren oder länger in der Bundesrepublik Deutschland leben

(bitte nach Bundesländern auflisten)?

4. Wie viele Syrer befanden sich zum Stichtag 30. September 2008 mit einer
Duldung in der Bundesrepublik Deutschland,

a) die vor weniger als sechs Jahren in die Bundesrepublik Deutschland ein-
gereist sind,

b) die seit sechs Jahren oder länger in der Bundesrepublik Deutschland leben

(bitte nach Bundesländern auflisten)?

5. Wie viele Syrer halten sich zum Stichtag 30. September 2008 ohne Aufent-
haltstitel (auch ohne Duldung) in der Bundesrepublik Deutschland auf,

a) die vor weniger als sechs Jahren in die Bundesrepublik Deutschland ein-
gereist sind,

b) die seit sechs Jahren oder länger in der Bundesrepublik Deutschland leben

(bitte nach Bundesländern auflisten)?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/10685

6. Wie viele Syrer befanden sich zum Stichtag 30. September 2008 in der
Bundesrepublik Deutschland, gegen die eine Ausweisungsverfügung er-
gangen ist, und

a) die vor weniger als sechs Jahren in die Bundesrepublik Deutschland
eingereist sind,

b) die seit sechs Jahren oder länger in der Bundesrepublik Deutschland
leben

(bitte nach Bundesländern auflisten)?

7. Wie viele Syrer befanden sich zum Stichtag 30. September 2008 in der Bun-
desrepublik Deutschland, die vollziehbar ausreisepflichtig sind und

a) die vor weniger als sechs Jahren in die Bundesrepublik Deutschland
eingereist sind,

b) die seit sechs Jahren oder länger in der Bundesrepublik Deutschland
leben

(bitte nach Bundesländern auflisten)?

8. Wie viele Staatenlose, bei denen Syrien als Herkunftsstaat feststeht oder
vermutet wird, befanden sich zum Stichtag 30. September 2008 mit einer
Niederlassungserlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland,

a) die vor weniger als sechs Jahren in die Bundesrepublik Deutschland
eingereist sind,

b) die seit sechs Jahren oder länger in der Bundesrepublik Deutschland
leben?

9. Wie viele Staatenlose, bei denen Syrien als Herkunftsstaat feststeht oder
vermutet wird, befanden sich zum Stichtag 30. September 2008 mit einer
Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland,

a) die vor weniger als sechs Jahren in die Bundesrepublik Deutschland
eingereist sind,

b) die seit sechs Jahren oder länger in der Bundesrepublik Deutschland
leben?

10. Wie viele Staatenlose, bei denen Syrien als Herkunftsstaat feststeht oder
vermutet wird, befanden sich zum Stichtag 30. September 2008 mit einer
Gestattung in der Bundesrepublik Deutschland,

a) die vor weniger als sechs Jahren in die Bundesrepublik Deutschland
eingereist sind,

b) die seit sechs Jahren oder länger in der Bundesrepublik Deutschland
leben?

11. Wie viele Staatenlose, bei denen Syrien als Herkunftsstaat feststeht oder
vermutet wird, befanden sich zum Stichtag 30. September 2008 mit einer
Duldung in der Bundesrepublik Deutschland,

a) die vor weniger als sechs Jahren in die Bundesrepublik Deutschland
eingereist sind,

b) die seit sechs Jahren oder länger in der Bundesrepublik Deutschland
leben?

Drucksache 16/10685 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

12. Wie viele Staatenlose, bei denen Syrien als Herkunftsland feststeht oder
vermutet wird, halten sich zum Stichtag 30. September 2008 ohne Aufent-
haltstitel (auch ohne Duldung) in der Bundesrepublik Deutschland auf,

a) die vor weniger als sechs Jahren in die Bundesrepublik Deutschland
eingereist sind,

b) die seit sechs Jahren oder länger in der Bundesrepublik Deutschland
leben

(bitte nach Bundesländern auflisten)?

13. Wie viele Staatenlose, bei denen Syrien als Herkunftsstaat feststeht oder ver-
mutet wird, befanden sich zum Stichtag 30. September 2008 in der Bundes-
republik Deutschland, gegen die eine Ausweisungsverfügung ergangen ist,
und

a) die vor weniger als sechs Jahren in die Bundesrepublik Deutschland
eingereist sind,

b) die seit sechs Jahren oder länger in der Bundesrepublik Deutschland
leben?

14. Wie viele Staatenlose, bei denen Syrien als Herkunftsland feststeht oder ver-
mutet wird, befanden sich zum Stichtag 30. September 2008 in der Bundes-
republik Deutschland, die vollziehbar ausreisepflichtig sind und

a) die vor weniger als sechs Jahren in die Bundesrepublik Deutschland
eingereist sind,

b) die seit sechs Jahren oder länger in der Bundesrepublik Deutschland
leben

(bitte nach Bundesländern auflisten)?

15. Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Zahl der syrischen Staatsan-
gehörigen und Staatenlosen aus Syrien, die nach Inkrafttreten des Rück-
übernahmeabkommens abgeschoben werden können?

16. Folgt die Bundesregierung der Ansicht der Syrisch-Arabischen Republik,
dass die 1962 ausgebürgerten Kurdinnen und Kurden in Syrien in erster
Linie illegal übergesiedelte Kurdinnen und Kurden aus der Türkei waren
und sie damit Anspruch auf die türkische Staatsangehörigkeit hätten (bitte
begründen)?

17. Folgt die Bundesregierung der Ansicht der Syrisch-Arabischen Republik,
dass die „Nichtregistrierten“ in erster Linie illegal übergesiedelte Kurdin-
nen und Kurden aus der Türkei und dem Irak waren, die damit Anspruch
auf die türkische bzw. irakische Staatsangehörigkeit hätten (bitte begrün-
den)?

18. Wird die Bundesregierung Repatriierungsbemühungen der syrischen Re-
gierung gegenüber diesen „illegalen Migranten“ aus der Türkei und dem
Irak unterstützen, und welche Repatriierungsmaßnahmen sind ihr seit 1962
bekannt geworden?

19. Welche Haltung vertritt die Bundesregierung gegenüber der Ansicht von
Menschenrechtsorganisation (u.a. Human Rights Watch), dass die Ausbür-
gerungen, das Nicht-Ausstellen von Papieren und die Weigerung, illegal in
andere Staaten emigrierte Kurdinnen und Kurden „zurückzunehmen“ Aus-
druck einer gezielten Arabisierungspolitik der Syrisch-Arabischen Repu-
blik sind?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/10685

20. Welche Einschätzung vertritt die Bundesregierung zu der Frage, warum
sich die syrische Regierung bislang geweigert hat, staatenlose Kurdinnen
und Kurden mit syrischer Herkunft „zurückzunehmen“, und wie erklärt
sie sich den im Rückübernahmeabkommen zum Ausdruck gekommenen
Sinneswandel?

21. Welche Einschätzung vertritt die Bundesregierung zu der Frage, wie sich
die rechtliche Situation der (staatenlosen) Kurdinnen und Kurden in Syrien
in den nächsten Jahren entwickeln wird, und sind insbesondere

a) Bestrebungen der syrischen Regierung bekannt, in Übereinstimmung
mit Artikel 7 der UN-Kinderrechtskonvention allen in Syrien von Nicht-
registrierten und „Ausländern“ geborenen Kindern die syrische Staats-
angehörigkeit zu verleihen?

b) Bestrebungen der syrischen Regierung bekannt, in Übereinstimmung
mit Artikel 8 der UN-Kinderrechtskonvention den 1962 als Kinder Aus-
gebürgerter die Staatsangehörigkeit zurückzugeben und damit das da-
mals begangene Unrecht wiedergutzumachen?

c) Bestrebungen der syrischen Regierung bekannt, die gegen Artikel 28
der UN-Kinderrechtskonvention verstoßende Diskriminierung nicht-
registrierter kurdischer Kinder beim Zugang zu Schule und Studium
aufzuheben?

d) Bestrebungen der syrischen Regierung bekannt, dem Übereinkommen
über die Rechtsstellung der Staatenlosen von 1954 beizutreten und in
Anknüpfung daran die Einbürgerung Staatenloser zu vereinfachen und
zu beschleunigen?

e) Bestrebungen der syrischen Regierung bekannt, dem Übereinkommen
zur Verminderung der Staatenlosigkeit von 1961 beizutreten und in
Anknüpfung daran die ethnische Diskriminierung gegenüber der kur-
dischen Bevölkerung in Fragen der Staatsangehörigkeit aufzuheben?

22. Hat die Bundesregierung im Rahmen ihrer Verhandlungen mit der syri-
schen Regierung auf Garantien gedrungen, dass die in Frage 17 genannten
Abkommen von Syrien ratifiziert und konsequent angewendet werden?

Welche Garantien wurden von Syrien abgegeben, dass die von dem Ab-
kommen in Zukunft Betroffenen Zugang zur Staatsangehörigkeit oder zu
einem sicheren Aufenthaltsstatus bekommen und vor diskriminierenden
Maßnahmen geschützt sind?

23. Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung darüber hinaus ergriffen, im
Rahmen ihrer „wertorientierten Außenpolitik“ gegen Menschenrechtsver-
letzungen und Diskriminierungen von ethnischen und religiösen Minder-
heiten in Syrien zu protestieren und auf die Einhaltung rechtsstaatlicher
Standards zu drängen?

Berlin, den 16. Oktober 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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