BT-Drucksache 16/1065

Öffentlicher Personennahverkehr - Wettbewerb transparent und fair ordnen

Vom 28. März 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1065
16. Wahlperiode 28. 03. 2006

Antrag
der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Peter Hettlich, Kerstin
Andreae, Cornelia Behm, Hans Josef Fell, Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, Sylvia
Kotting-Uhl, Undine Kurth (Quedlinburg), Dr. Reinhard Loske und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Öffentlicher Personennahverkehr – Wettbewerb transparent und fair ordnen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Ausbau und die Stärkung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV)
auf Schiene und Straße ist ein wichtiger Baustein für ein ökologisch nachhal-
tiges Verkehrssystem. Zugleich stellt der ÖPNV Mobilität für weite Bevölke-
rungsgruppen sicher und ist damit ein wichtiger Teil der Daseinsvorsorge.

In Zeiten knapper öffentlicher Finanzen stellt sich die Frage, wie die im Regel-
fall nicht kostendeckenden und auf öffentliche Zuschüsse angewiesenen ÖPNV-
Dienste möglichst effizient und kostengünstig angeboten werden können. Die
Erfahrungen aus einer Reihe von europäischen Ländern, die den ÖPNV-Sektor
für den Wettbewerb geöffnet haben, zeigt, dass mit dem System des öffentlich
kontrollierten Wettbewerbs, wie es die europäische Kommission vorschlägt, ein
quantitativ und qualitativ hochwertigeres ÖPNV-Angebot bei gleichem öffent-
lichen Mitteleinsatz erreichbar ist. In diesen Ländern hat es auch einen deut-
lichen Zuwachs des Marktanteils des ÖPNV am Verkehrsmarkt gegeben.
Dadurch entstanden und entstehen neue Arbeitsplätze im ÖPNV und in damit
verbundenen Branchen (z. B. Bus- und Schienenfahrzeughersteller).

Auch in Deutschland liegen im Bereich des Schienenpersonennahverkehrs
(SPNV) positive Erfahrungen mit einem deutlich verbesserten Verhältnis von
Zuschussbedarf zu Leistung durch eine wettbewerbliche Vergabe vor, z. B. aus
dem Bundesland Schleswig-Holstein, wo mittlerweile rund die Hälfte der Nah-
verkehrsleistungen ausgeschrieben werden, während es im Bundesdurchschnitt
erst 17 Prozent sind.

Hinsichtlich des übrigen ÖPNV (Bus, Straßenbahn, U-Bahn) ist in Deutschland
zwar bereits seit über zehn Jahren die Einführung von Wettbewerbselementen
vorgesehen. Mit Ausnahme des Bundeslands Hessen hat es aber bisher in dieser
Frage kaum Fortschritte gegeben. Die Gründe liegen in einer unklaren und teil-

weise widersprüchlichen Gesetzgebung, die Rechtsunsicherheit erzeugt, und
einer auf dieser Basis erfolgreich durchgesetzten Verzögerung von Wettbe-
werbsverfahren durch die betroffene Branche.

Zwar sieht das Personenbeförderungsrecht in Deutschland bei gemeinwirt-
schaftlichen Verkehren grundsätzlich ein Ausschreibungsverfahren für Linien-
genehmigungen und eine Vergabe an den Bieter mit den niedrigsten Kosten für
die Allgemeinheit vor. Jedoch ist die gesetzliche Definition der „Eigenwirt-

Drucksache 16/1065 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

schaftlichkeit“ derart weit auslegungsfähig, dass nach verbreiteter Interpretation
auch hoch bezuschusste ÖPNV-Leistungen formal nicht gemeinwirtschaftlich
sind und somit nicht ausgeschrieben werden müssen.

Seit dem Jahr 2000 versucht die Europäische Kommission durch eine Folgever-
ordnung der EG-Verordnung 1191 aus dem Jahr 1969 (EG-VO 1191/69), zuletzt
geändert durch die EG-VO 1893/91, einen einheitlichen europäischen Rechts-
rahmen für mehr Wettbewerb im ÖPNV und damit neben einem geregelten
Marktzugang auch mehr Rechtssicherheit für alle beteiligten Akteure zu schaf-
fen. Nach dem politischen Scheitern von zwei sehr wettbewerbsorientierten Ent-
würfen in Parlament und Rat liegt seit Juli 2005 ein dritter, wesentlich geänder-
ter Entwurf der Kommission vor.

Der neue Entwurf ist durch folgende Eckpunkte gekennzeichnet:

– Basis des Entwurfs ist das Modell des kontrollierten Wettbewerbs, bei wel-
chem die zuständigen örtlichen Behörden (= Aufgabenträger) die öffentlich
gewünschten Leistungen (Angebotsumfang, Qualität, Fahrpreise) definieren
und in einem Vertragsverhältnis gegen die Zahlung eines Ausgleichsbetrags
bei den Verkehrsunternehmen bestellen. Eine vollständige Liberalisierung
des ÖPNV-Marktes wie beispielsweise in Großbritannien wird verworfen.

– Grundsätzlich müssen öffentlich bezuschusste ÖPNV-Leistungen in einem
transparenten, wettbewerblichen Ausschreibungsverfahren vergeben wer-
den. Gleiches gilt für die Gewährung ausschließlicher Rechte (Liniengeneh-
migungen).

– Davon abweichend erhalten die zuständigen Gebietskörperschaften das
Recht, ÖPNV-Leistungen in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich selbst zu
erstellen oder an ein eigenes kommunales Unternehmen („interner Betrei-
ber“) direkt, d. h. ohne wettbewerbliches Verfahren zu vergeben.

– Auch in diesen Fällen muss jedoch Transparenz gewahrt sein (eindeutige
Definition der gemeinwirtschaftlichen Leistung und des Abgeltungsbetrags,
keine Überkompensation, langfristige vorherige Bekanntgabe der geplanten
Direktvergabe etc.).

– Im Gegenzug dürfen sich direkt beauftragte interne Betreiber nicht außerhalb
ihrer Kommune an anderen Vergabeverfahren beteiligen.

– In allen Fällen müssen die gewährten Ausgleichsleistungen im Rahmen eines
Verkehrsvertrags mit klar definierten Leistungen und Vergütungen erfolgen.

– Für den Bereich des Schienenpersonennahverkehrs ist für den Verkehr in
Ballungsräumen eine wettbewerbliche Vergabe verbindlich vorgesehen. Hin-
gegen sollen beim Regional- und Fernverkehr auch Direktvergaben zulässig
sein.

– Auch kleinere Aufträge mit einem Wert bis zu 1 Mio. Euro/Jahr sollen ohne
wettbewerbliches Verfahren direkt vergeben werden können.

Durch den vorliegenden Kommissionsentwurf kann das Ziel einer klareren
Trennung zwischen der politischen Aufgabe, das öffentlich gewünschte Ver-
kehrsangebot festzulegen, und der unternehmerischen Aufgabe der Leistungs-
erstellung erreicht werden. Zu erwarten sind daher mehr Transparenz bei den
eingesetzten Mitteln sowie mehr Effizienz.

Mit dem Wahlrecht der Kommunen auf eine eigene ÖPNV-Produktion außer-
halb des Vergaberegimes ist die Kommission einer wesentlichen Forderung des
Europäischen Parlaments, aber auch der deutschen kommunalen Spitzenver-
bände nachgekommen.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/1065

Damit ist der vorliegende Verordnungsentwurf ein vertretbarer Kompromiss
zwischen dem Grundsatz des kontrollierten Wettbewerbs im ÖPNV und dem
Anspruch der Kommunen auf das Recht zur eigenen Aufgabenerledigung.

Der Entwurf ist geeignet, die jahrelange Blockade im Bemühen um einen neuen
ÖPNV-Rechtsrahmen aufzubrechen und Rechtssicherheit für die Branche zu
schaffen. Dies ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Weiterentwicklung des
ÖPNV.

In einer Reihe von Punkten ist jedoch Korrekturbedarf am vorliegenden Kom-
missionsentwurf notwendig:

– Für den Agglomerationsverkehr der Eisenbahnen ist eine generelle Aus-
schreibungspflicht vorgesehen. Eine davon abweichende Herausnahme des
Regional- und Fernverkehrs auf der Schiene aus der Ausschreibungspflicht
ist sachlich nicht nachvollziehbar. Daher hat die Ausschreibungspflicht für
alle bezuschussten Schienenpersonenverkehre zu gelten.

– Der Kommissionsentwurf klärt das Verhältnis von allgemeinem Vergabe-
recht und speziellem ÖPNV-Vergaberecht nur unzureichend. Das wichtige
Ziel der Herstellung von Rechtssicherheit wird daher noch nicht erreicht.
Hier besteht dringender Präzisierungsbedarf.

– Für kommunale Verkehrsbetriebe muss die Möglichkeit eines schrittweisen
Übergangs in den Wettbewerb geschaffen werden. Daher ist der Ausschluss
von Wettbewerbsbeteiligungen für direkt beauftragte interne Betreiber für
eine Übergangszeit zu lockern.

– Um eine integrierte Verkehrsbedienung zu sichern und Verkehrsbrüche an der
Stadtgrenze zu vermeiden, müssen interne Betreiber auch die Möglichkeit
haben, über das eigene Hoheitsgebiet hinaus führende Linien in benachbarte
Gemeinden zu bedienen.

– Um ausreichend Zeit zu schaffen, den jeweiligen nationalen Rechtsrahmen
an die Bestimmungen der Verordnung anzupassen und um den Branchenteil-
nehmern ausreichend Vorbereitungszeit zu gewähren, sollte die Verordnung
erst zwei Jahre nach ihrer Veröffentlichung in Kraft treten.

– Die Bagatellgrenze, unter welcher geringfügige Verkehrsleistungen ohne
wettbewerbliches Verfahren vergeben werden dürfen, sollte an die Bestim-
mungen des allgemeinen europäischen Vergaberechts angepasst werden
(250 000 Euro statt 1 Mio. Euro Jahreswert). Bei einer mit 1 Mio. Euro sehr
hoch angesetzten Bagatellgrenze besteht die Gefahr, dass durch die Bildung
kleiner Lose, deren Auftragswert unter dieser Grenze bleibt, gerade im länd-
lichen Raum der Grundsatz des kontrollierten Wettbewerbs unterlaufen wird.

– Wir fordern eine praxisgerechtere Ausgestaltung der Regelungen über die
zulässige Höhe des Ausgleichsbetrags bei direkt vergebenen Leistungen
(Anhang des Verordnungsentwurfs).

– Direkt beauftragte kommunale Unternehmen dürfen sich nicht auf Aufträge
außerhalb ihrer Gebietskörperschaft bewerben. Nach dem VO-Entwurf gilt
dies auch für deren Tochterunternehmen. Die Bestimmung sollte auf Schwes-
terunternehmen ausgeweitet werden.

Der Mehrwert einer raschen Verabschiedung der Verordnung gegenüber der
heutigen Situation liegt in folgenden Bereichen:

– Schaffung klarer Spielregeln für die Organisation und den Marktzugang im
ÖPNV sowie Rechtssicherheit für alle Beteiligten;

– durch klare Aufgabentrennung und Wettbewerb entstehen Chancen für einen

besseren ÖPNV bei begrenzten öffentlichen Mitteln und mehr Gestaltungs-
möglichkeiten für die kommunalen Aufgabenträger;

Drucksache 16/1065 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
– deutlich mehr Transparenz beim Einsatz öffentlicher Mittel;

– ein Ausbau der Arbeitnehmerrechte. Die ausschreibende Stelle kann vor-
schreiben, dass bei einem Betreiberwechsel die Beschäftigten wie bei einem
Betriebsübergang übernommen werden müssen.

Deutschland sollte daher eine rasche Verabschiedung einer Verordnung auf der
Basis des Kommissionsentwurfs grundsätzlich unterstützen, sofern die darge-
stellten noch notwendigen Korrekturen vorgenommen werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

bei den Verhandlungen im europäischen Ministerrat über den zukünftigen euro-
päischen Rechtsrahmen für den Öffentlichen Personennahverkehr (Folgeverord-
nung EG-VO 1191/69) folgende Positionen einzunehmen:

1. Das Ziel, die Verordnung noch im Jahr 2006 zu verabschieden, wird unter-
stützt.

2. Das Ziel eines Ordnungsrahmens des kontrollierten Wettbewerbs, ergänzt um
die Wahlmöglichkeit der Kommunen auf Direktvergabe ohne Wettbewerbs-
verfahren an einen internen Betreiber, wird unterstützt.

3. Das Ziel, vom Staat vergebene ausschließliche Rechte an einzelne Betreiber
(Liniengenehmigungen) ebenfalls in einem transparenten offenen Verfahren
zu vergeben, wird unterstützt.

4. Folgende Änderungen im Verordnungsentwurf der Kommission werden ein-
gebracht:

a) Es ist eine generelle Ausschreibungspflicht für gemeinwirtschaftliche
Leistungen des Schienenpersonenverkehrs vorzusehen.

b) Die Verordnung muss die Fragen des Vergaberechts klar und abschließend
regeln, um Rechtssicherheit herzustellen (Vorrang allgemeines Vergabe-
recht oder spezielles ÖPNV-Vergaberecht).

c) Für kommunale Verkehrsbetriebe muss die Option eines schrittweisen
Übergangs in den Wettbewerb ermöglicht werden. Daher sollte der Aus-
schluss von Bewerbungen in anderen Vergabeverfahren für direkt beauf-
tragte interne Betreiber für eine Übergangszeit gelockert werden.

d) Der Ausschluss von direkt beauftragten internen Betreibern von anderen
wettbewerblichen Verfahren ist nicht nur auf Tochter-, sondern auch auf
Schwesterunternehmen auszuweiten.

e) Um eine integrierte Verkehrsbedienung zu sichern und Verkehrsbrüche an
der Stadtgrenze zu vermeiden, müssen interne Betreiber auch die Mög-
lichkeit haben, über das eigene Hoheitsgebiet hinaus führende Linien in
benachbarte Gemeinden zu bedienen.

f) Die Bagatellgrenze, unter welcher geringfügige Verkehrsleistungen ohne
wettbewerbliches Verfahren vergeben werden dürfen, ist an die Bestim-
mungen des allgemeinen Vergaberechts anzupassen (250 000 Euro statt
1 Mio. Euro Jahreswert).

Berlin, den 28. März 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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