BT-Drucksache 16/10628

Rede der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen zum Tag der Heimat 2008

Vom 13. Oktober 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10628
16. Wahlperiode 13. 10. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Lukrezia Jochimsen, Petra Pau und der
Fraktion DIE LINKE.

Rede der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen zum Tag der Heimat 2008

Der Bund der Vertriebenen (BdV) wird durch die Bundesregierung jährlich mit
einer Summe von 920 000 Euro unterstützt. Laut Begründung im Haushaltsplan
seien viele Heimatvertriebene zu „Botschaftern der Aussöhnung und Verständi-
gung“ geworden. Darüber hinaus gewährt die Bundesregierung dem BdV Gelder
in Höhe von 1,1 Mio. Euro für Projekte „die geeignet sind, die Verständigung
und Aussöhnung mit unseren östlichen Nachbarn und die Einigung Europas zu
fördern“ (Bundestagsdrucksache 16/9900, Einzelplan 06; S. 186) Dem hier for-
mulierten Anspruch wird der BdV nach Ansicht der Fragestellerinnen in keiner
Weise gerecht. Die vom BdV und seinen Repräsentanten in zahlreichen Reden
und Stellungnahmen vertretene Sicht auf die Folgen des von Deutschland begon-
nenen Zweiten Weltkriegs tragen nach Ansicht der Fragestellerinnen zu einem
begründeten Misstrauen in den Ländern Osteuropas gegenüber der Bundesrepu-
blik Deutschland bei, geht es dem BdV und seinen Repräsentanten doch augen-
scheinlich um eine Verfälschung der historischen Kausalitäten, die schließlich
zur Aussiedlung und Vertreibung der deutschen Bevölkerungsgruppe aus zahl-
reichen osteuropäischen Ländern führte.

In ihrer Rede zum Tag der Heimat am 6. September 2008 in Berlin ging es
Erika Steinbach als Präsidentin des BdV dem Eindruck der Fragestellerinnen
nach ganz offensichtlich um eine sprachliche und inhaltliche Gleichsetzung des
Schicksals zahlreicher Deutscher in Osteuropa nach dem 8. Mai 1945 mit der
Vernichtung der europäischen Juden bzw. mit der von Nazideutschland organi-
sierten Zwangsarbeit, der Millionen Menschen in den von Deutschland besetz-
ten Ländern unterworfen waren. So wird „Mittel-, Ost-, und Südosteuropa (…)
über viele Jahre nach dem Krieg noch“ von der BdV-Präsidentin als „gigan-
tische Sklavenhalter-Region“ beschrieben (Rede von Erika Steinbach zum „Tag
der Heimat“ 2008, nachzulesen unter www.bund-der-vertriebenen.de/files/
tdh2008steinbachrede.pdf, alle weiteren Zitate dort). Im Zusammenhang mit
der Vertreibung von Deutschen spricht sie von „vorsätzlich geplanten und sys-
tematischen Vernichtungsaktionen“. Die jugoslawischen Partisanen im Krieg
gegen die Wehrmacht werden als die eigentlichen Aggressoren beschrieben,
gegen die die „Reaktionen“ der Wehrmacht „brutal, drastisch und trotzdem
hilflos“ waren. In höchst problematischer Diktion werden die jugoslawischen

Partisanen als Verbrecher beschrieben und ihr Anführer, Josip Broz Tito, von
Erika Steinbach – die sich hier hinter einem Zitat Konrad Adenauers versteckt –
als „ein ganz gewöhnlicher Verbrecher“ bezeichnet. Die Behandlung der
Deutschen in Jugoslawien bezeichnet die BdV-Präsidentin als „Völkermord“,
durchgeführt in von ihr so genannten Todeslagern, die an anderer Stelle als
„Vernichtungslager“ bezeichnet werden.

Drucksache 16/10628 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Die bei dieser Rede einer führenden Vertreterin des BdV verwandte Diktion
arbeitet nach Auffassung der Fragestellerinnen exakt mit den Begriffen, die für
die Beschreibung der Ermordung der europäischen Juden durch das NS- Regime
genutzt werden: „Vernichtungsaktionen“, „auszurotten“, „Vernichtungslager“,
„Völkermord“. Es geht dem BdV und seinen Repräsentanten anscheinend um
eine sprachliche Gleichsetzung des Schicksals zahlreicher Deutscher mit den
Juden und um die Verwischung der historischen Differenz bzw. der historischen
Kausalität zwischen der verbrecherischen Politik der Nazis und der – auch häu-
fig unmenschlichen – Reaktion der von Deutschland überfallenen Länder und
Menschen auf diese Aggression. Diese Form der sprachlichen Parallelisierung
und das damit vermittelte Geschichtsbild erfüllt nach Ansicht der Fragestelle-
rinnen nicht die bei der Gewährung der Projektmittel geforderte „historische
Aufarbeitung der Vertreibungsgeschichte“ in einer angemessenen Art und
Weise.

Vor dem Hintergrund des finanziellen Engagements der Bundesregierung für
den BdV fragen wir die Bundesregierung:

1. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass Positionen und Wertungen, wie
sie z. B. von Erika Steinbach als Vorsitzende des BdV am Tag der Heimat
2008 in Berlin geäußert wurden, zur Aussöhnung und Verständigung mit
den östlichen Nachbarländern der Bundesrepublik Deutschland beiträgt, und
wie begründet sie ihre Auffassung?

2. Sieht die Bundesregierung in dem vom BdV und seiner Präsidentin zum Tag
der Heimat 2008 verbreiteten Bild der „Vertreibungsgeschichte“ eine sach-
lich angemessene Aufarbeitung dieser Geschichte, und macht sie sich das
hier vertretene Bild zu eigen, bzw. wo hat die Bundesregierung Differenzen
zu diesem Bild?

3. Teilt die Bundesregierung die von der BdV-Präsidentin in ihrer Rede zum
Tag der Heimat 2008 vertretene Sichtweise, dass die Siegermächte USA und
Großbritannien bezogen auf das Thema „Zwangsarbeit“ mit zweierlei Maß
gemessen und Josef Stalin die Verpflichtung deutscher Staatsbürger zur
„Zwangsarbeit“ „ausdrücklich zugestanden“ hätten, und vertritt die Bundes-
regierung diese Sicht auch gegenüber den westlichen Siegermächten?

4. Sieht die Bundesregierung eine Differenz zwischen der vom NS-Regime
organisierten Form der Zwangsarbeit und den von Deutschen erzwungenen
Arbeiten in den von Deutschland zerstörten Ländern Osteuropas, und wie
macht sich dieser Unterschied gegebenenfalls auch bei Fragen der „Zwangs-
arbeiterentschädigung“ fest?

5. Teilt die Bundesregierung die von der BdV-Präsidentin vertretene Ansicht,
bei den Aussiedlungen und Vertreibungen der deutschen Bevölkerung aus
Ländern Osteuropas handele es sich teilweise um „vorsätzlich geplante und
systematische Vernichtungsaktionen“, und was versteht die Bundesregie-
rung unter dem Terminus „Vernichtungsaktionen“?

6. Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, dass der Terminus
„Vernichtungslager“ im deutschen Sprachraum aufs engste mit den Lagern
zur Vernichtung der europäischen Juden wie Auschwitz, Sobibor, Belzec,
Treblinka, Majdanek, Chelmno verbunden ist, und wie bewertet sie vor die-
sem Hintergrund die Verwendung des Terminus durch Erika Steinbach?

7. Sieht Bundesregierung vor dem Hintergrund der sehr komplizierten Ver-
handlungen mit Polen und der Tschechischen Republik zum Themenkom-
plex der geplanten Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, die mög-
liche Mitwirkung von Vertretern des BdV im Stiftungsrat als förderlich für

den Ausgleich mit den östlichen Nachbarländern an, und wie begründet sie
ihre Haltung?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/10628

8. Sieht die Bundesregierung in der von Repräsentanten des BdV beim Tag der
Heimat 2008 und auch bei zahlreichen anderen Anlässen vertretenen Sicht-
weise auf die Aussiedlung und Vertreibung der Deutschen aus zahlreichen
Ländern Osteuropas inhaltliche Übereinstimmungen zur geplanten Ausrich-
tung der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, und wenn ja, welche,
und wenn nein, wo sieht sie die Unterschiede?

Berlin, den 10. Oktober 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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