BT-Drucksache 16/10259

Berücksichtigung der Benachteiligung von Migrantinnen und Migranten im deutschen Bildungssystem beim Bildungsgipfel

Vom 17. September 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10259
16. Wahlperiode 17. 09. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Cornelia Hirsch, Sevim Dag˘delen, Dr. Petra Sitte,
Volker Schneider (Saarbrücken) und der Fraktion DIE LINKE.

Berücksichtigung der Benachteiligung von Migrantinnen und Migranten im
deutschen Bildungssystem beim Bildungsgipfel

Viele vergleichende Bildungsstudien belegen, dass Kinder und Jugendliche mit
Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem benachteiligt sind. Zu-
letzt sorgte eine Studie des Mainzer Instituts für Psychologie zur Verteilung von
Kindern nach der vierten Klasse an weiterführende Schulen in Wiesbaden für
Furore. Demnach erhalten „bei gleich guter Schulnote (2,0) [...] nur drei von
vier Kindern aus der niedrigsten Einkommens- und Bildungsgruppe eine Emp-
fehlung für die höchste Schulbildung. Dagegen sollten von den Kindern mit
wohlhabenden und gebildeten Eltern 97 Prozent aufs Gymnasium – so gut wie
alle also“ (vgl. SPIEGEL ONLINE vom 11. September 2008). Überproportio-
nal häufig sind davon Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund
betroffen, da sie vorwiegend aus sozioökonomisch schwachen Haushalten
stammen. Zu diesem Schluss kommt auch die EU-Kommission in ihrem im Juli
2008 vorgelegten Grünbuch „Migration & Mobilität: Chancen und Heraus-
forderungen für die EU-Bildungssysteme“. Darin heißt es: „Generell besteht
eine starke Korrelation zwischen Schulleistung und sozioökonomischem
Milieu. Einer der Hauptgründe für die Schwierigkeiten von Migrantenschülern
ist häufig ihre schlechte sozioökonomische Situation.“

Selbstverständlich ist diese Studie nicht ohne Weiteres eins zu eins auf alle
Bundesländer übertragbar. Die Ergebnisse der verschiedenen Studien machen
jedoch deutlich, dass die Bundesländer die Integration von Kindern und
Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht gewährleisten können oder
wollen. Auch wird deutlich, dass die soziale Herkunft der Kinder eine weitaus
größere Beachtung in den Integrationsbemühungen finden muss. Armut verhin-
dert bekanntermaßen den Bildungsaufstieg von Kinder und Jugendlichen, und
Migrantinnen und Migranten sind überproportional häufiger von Armut betrof-
fen. Zum anderen wirkt es motivationshemmend, wenn Kinder und Jugendliche
mit Migrationshintergrund sehen, dass ihre Eltern an der Integration in den
Arbeitsmarkt gehindert werden, wenn ihre zum Teil hohen Qualifikationen in
Deutschland nicht anerkannt und somit ihre Bildungsanstrengungen durch-
kreuzt werden.
Angesichts des bevorstehenden Bildungsgipfels stellt sich die Frage, wie die
Bildungsintegration von Zugewanderten in Deutschland verbessert werden
muss und welche Rolle die Bundesregierung dabei spielen kann.

Drucksache 16/10259 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. a) Was sind aus Sicht der Bundesregierung die wichtigsten politischen Her-
ausforderungen, um Kindern und Jugendlichen mit Migrationshinter-
grund ein gutes Bildungsangebot bieten zu können?

b) Mit welchen Maßnahmen will die Bundesregierung die durch verschie-
dene Studien (PISA, Bildungsbericht etc.) nachgewiesene Benachtei-
ligung von Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im
deutschen Bildungssystem bekämpfen?

2. a) Welche Programme wurden nach Kenntnis der Bundesregierung in den
Bundesländern aufgelegt, um den Wegfall der Förderprogramme des
Bundes für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im Zuge
der Föderalismusreform zu kompensieren?

b) Falls der Bundesregierung hierzu keine Erkenntnisse oder Daten vorlie-
gen, inwiefern evaluiert sie die Auswirken der Föderalismusreform im
Bildungsbereich, um sich qualifiziert in die weiteren Beratungen zur
zweiten Föderalismusreform sowie in die bildungsföderale Debatte im
Rahmen des Bildungsgipfels am 22. Oktober 2008 angemessen ein-
zubringen?

c) Plant die Bundesregierung gesetzliche Regelungen, um auf Dauer ange-
legte Programme zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Mig-
rationshintergrund im Bildungswesen zukünftig finanziell zu ermög-
lichen?

Falls ja, welche?

Falls nein, warum nicht?

3. a) Welche Handlungskompetenzen kann und will die Bundesregierung
wahrnehmen, um die Mängel der Bildungsintegration von Kindern und
Jugendlichen mit Migrationshintergrund einzuschränken?

b) Hält die Bundesregierung unabhängig von ihrer verfassungsmäßigen
Kompetenz die Gemeinschaftsschule für ein geeignetes Instrument, um
der in der Einleitung beschriebenen diskriminierenden Verteilungspraxis
in das mehrgliedrige Bildungssystem entgegen zu treten (bitte begrün-
den)?

4. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der im Grünbuch
der EU-Kommission „Migration & Mobilität: Chancen und Herausforderun-
gen für die EU-Bildungssysteme“ gemachten Feststellung, dass sich die
Leistungen der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund der
zweiten Generation in einigen wenigen EU-Ländern in den drei Kompetenz-
bereichen (Mathematik, Lesen, Naturwissenschaften) gegenüber denen der
ersten Generation verschlechtert haben und die Bundesrepublik Deutschland
in allen drei Kompetenzbereichen dazugehört?

5. Inwiefern unterstützt die Bundesregierung die Arbeit der Europäischen
Agentur für Sonderpädagogik zur Erarbeitung einer Vergleichsanalyse der
Situation von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund an
Sonderschülern, die voraussichtlich Anfang 2009 vorliegen soll?

6. a) Wie viele Mittel erhält die Otto-Benecke-Stiftung e. V., die im Auftrag
der Bundesregierung Programme zur Arbeitsmarktintegration von Spät-
aussiedlerinnen und Spätaussiedler, Kontingentflüchtlingen und aner-
kannten Asylberechtigen durchführt, ressortübergreifend und aus EU-
Mitteln für ihre Projektförderung und als institutionelle Förderung (bitte
seit 2000 nach Jahren und Herkunft der Mittel aufschlüsseln)?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/10259

b) Plant die Bundesregierung die Programme der Otto-Benecke-Stiftung
e. V. zur Qualifizierung von Migrantinnen und Migranten vor dem
Hintergrund eines geschätzten Potenzial von 500 000 zugewanderten
Akademikerinnen und Akademikern, deren Abschluss hierzulande nicht
anerkannt wird (vgl. AP vom 3. August 2007), in finanzieller Hinsicht
deutlich auszubauen?

Falls ja, in welcher Höhe?

Falls nein, warum nicht?

7. a) Wie viele Bewerbungen bzw. Anträge sind für folgende Programme der
Otto-Benecke-Stiftung e. V. in den Jahren 2000 bis 2007 jeweils einge-
gangen:

● Akademikerprogramm (AKP), gefördert durch das Bundesministe-
rium für Bildung und Forschung (BMBF),

● Garantiefonds-Hochschulbereich, gefördert durch das Bundesminis-
terium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ),

● AQUA, gefördert durch das BMBF,

und was beinhalten die jeweiligen Programme?

b) Wie viele Zusagen konnten in diesem Zeitraum für die einzelnen Pro-
gramme pro Jahr erteilt werden?

c) Nach welchen Kriterien werden die Bewerberinnen und Bewerber beur-
teilt, wie gestaltet sich das Auswahlverfahren, und wer ist für die Aus-
wahl der Bewerberinnen und Bewerber verantwortlich?

8. a) Welche unterschiedlichen Personengruppen werden mit diesen Pro-
grammen, mit welchem Ziel gefördert (bitte nach Programmen, Perso-
nengruppen, Herkunftsstaat, Geschlecht, Altersgruppe und seit 2000
aufschlüsseln)?

b) Wieso werden die unterschiedlichen Programme nicht zu einem Pro-
gramm zusammengefasst, um beispielsweise mehr Transparenz zu ge-
währleisten und Werbemaßnahmen effektiver zu gestalten?

9. a) Wie viele zugewanderte, in ihren Herkunftsländern ausgebildete Ärztin-
nen und Ärzte haben in den Jahren 2000 bis 2007 bei der Otto-Benecke-
Stiftung e. V. einen Förderantrag gestellt?

b) Wie viele dieser zugewanderten Ärztinnen und Ärzte konnten nach wel-
chen Zeiträumen erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert werden?

c) Auf welche Hindernisse stößt diese Personengruppe nach ihrer Ankunft
bis zur Aufnahme ihrer Tätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland?

d) Wie viele zugewanderte, in ihren Herkunftsländern ausgebildete Ärztin-
nen und Ärzte haben sich in den Jahren 2000 bis 2007 bei der Otto-
Benecke-Stiftung e. V. nach einer Förderung erkundigt und konnten auf-
grund des förderfähigen Personenkreises nicht gefördert werden?

10. Wie beurteilt die Bundesregierung die Ergebnisse und Leistungen der von
der Otto-Benecke-Stiftung e. V. durchgeführten Programme vor dem Hin-
tergrund der möglichen positiven Vorbildfunktion für eventuell vorhandene
Kinder?

11. a) Weshalb beschränken sich diese von der im Auftrag der Bundesregie-
rung von der Otto-Benecke-Stiftung e. V. durchgeführten Programme
zur Arbeitsmarktintegration von Zugewanderten mit Hochschulab-
schluss auf den Personenkreis „Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler,

Kontingentflüchtlinge sowie Personen, die eine Niederlassungserlaub-

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nis gemäß § 23 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) erhalten
haben und Asylberechtigte, die älter als 30 und jünger als 50 Jahre
sind“?

b) Konnte die Bundesregierung ihren Willensbildungsprozess bezüglich
der Fortführung und Ausweitung des Personenkreises des Akademiker-
programms nach der vorteilhaften Bewertung durch die Programm-
evaluation positiv beenden (vgl. Bundestagsdrucksache 16/1741), und
spricht sie sich nun für die Erweiterung des Personenkreises auf alle
Migrantinnen und Migranten mit akademischen Abschluss aus?

12. a) Inwiefern fördert die Bundesregierung die Arbeitsmarktintegration von
Zugewanderten, die über keine akademische Ausbildung aus ihrem Her-
kunftsland verfügen?

b) Plant die Bundesregierung eine Ausweitung der Programme zur Ein-
gliederung in den Beruf von Zugewanderten ohne akademische Ausbil-
dung?

Falls nein, warum nicht?

Falls ja, inwiefern?

13. Plant die Bundesregierung die engen zeitlichen Antragsfristen (die Antrag-
stellung ist beispielsweise nur in den ersten zwei Jahren nach Ankunft in
der Bundesrepublik Deutschland möglich) aufzuheben oder auszuweiten,
um den Weg für eine Nachqualifizierung von bereits länger hier lebenden
Zugewanderten mit ausländischen Bildungsabschlüssen zu ermöglichen?

Falls ja, inwiefern, und ab wann?

Falls nein, warum plant die Bundesregierung dies nicht, angesichts des von
ihr monierten Fachkräftemangels und der Möglichkeit der schnellen Nach-
qualifizierung bereits hier lebenden Migrantinnen und Migranten durch
diese Programme?

14. Weshalb liegen der Bundesregierung bzw. den Bundesländern keine Zahlen
darüber vor, wie hoch die Zahl der Migrantinnen und Migranten pro Jahr
ist, die eine Anerkennung ihrer Bildungsabschlüsse beantragen (vgl. Bun-
destagsdrucksache 16/1741)?

15. a) Wie setzen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Programme
der Otto-Benecke-Stiftung e. V. sozial zusammen (bitte aufschlüsseln
nach Kategorien der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks)?

b) Wie viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Maßnahmen der Otto-
Benecke-Stiftung e. V. erhielten in den Jahren 2000 bis 2007 Hilfe zum
Lebensunterhalt (vgl. Nr. 1.3.1 der Richtlinien zum Garantiefonds-
Hochschulbereich)?

c) Welche unterschiedlichen Stipendien gewährt die Otto-Benecke-
Stiftung e. V. im Rahmen dieser durch Bundesministerien geförderten
Programme, und wie begründet die Bundesregierung deren Höhe?

Berlin, den 17. September 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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