BT-Drucksache 16/10229

Ermittlungen gegen frühere jüdische Partisanen in Litauen

Vom 12. September 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10229
16. Wahlperiode 12. 09. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Petra Pau, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Ermittlungen gegen frühere jüdische Partisanen in Litauen

Die litauische Justiz ermittelt derzeit gegen mehrere Personen, die sich wäh-
rend der nazideutschen Besatzung Litauens den Partisanen angeschlossen hat-
ten. Nach Medienberichten und weiteren Informationen der Fragesteller sind
bislang ausschließlich jüdische Angehörige der Partisanenbewegung betroffen.
Schriftliche Informationen, was mit den Ermittlungen bezweckt wird, haben
die vier Betroffenen bislang nicht erhalten. Medienberichten zufolge sollen sie
– zumindest vorerst – nicht als Beschuldigte, sondern als Zeugen vernommen
werden, um Vorwürfen über angebliche Kriegsverbrechen nachzugehen, die
von antifaschistischen Partisanen begangen worden sein sollen. Die Betroffe-
nen sowie mehrere jüdische Organisationen sehen in dem Vorgehen der Justiz
den antisemitisch motivierten Versuch, den jüdischen Widerstand gegen die
Nazis und ihre litauischen Kollaborateure zu diffamieren.

Grundlage für die Verfahren sind offenbar Vorwürfe, die unter anderem von der
rechtsextremen antisemitischen Tageszeitung „Lietuvos Aidas“ und einem
Parlamentsmitglied der „Vaterlandspartei“ erhoben worden sind. Diese bezie-
hen sich auf die Memoiren von Rachel Margolis und auf ein Buch von Yitzhak
Arad, die beide über ihre Zeit bei den Partisanen schreiben. Einsätze, die von
den Partisanen auch gegen litauische Kollaborationseinheiten bzw. Dorfmilizen
geführt worden sind, werden von litauischen Rechtsextremisten als Verbrechen
gewertet. Von den Vernehmungen verspricht sich die Staatsanwaltschaft offen-
bar, weitere „tatbeteiligte“ Personen zu ermitteln.

Die Verfahren haben erhebliche Beunruhigung in der jüdischen Gemeinde
Litauens und bei internationalen jüdischen Gemeinden hervorgerufen. Einrich-
tungen wie Yad Vashem und das Simon Wiesenthal Center (SWC) stellen das
Vorgehen der litauischen Justiz in den Kontext eines grassierenden Antisemitis-
mus und Antikommunismus, der in dem Land herrsche. In der Nacht auf den
10. August 2008 wurde das Jüdische Gemeindezentrum in Vilnius mit Haken-
kreuzen beschmiert; die Täter sprühten außerdem „Juden raus“ (in deutscher
Sprache) auf die Hauswand. Diesen Ausbruch antisemitischer Gewalt interpre-
tiert Yad Vashem als „direktes Ergebnis“ des in Litauen zunehmenden „histori-
schen Revisionismus“ (Jerusalem Post vom 11. August 2008).
Eine der Betroffenen, die in Kanada lebende Sara Ginaite, bringt in einem Arti-
kel in „Jewish Currents“ (Vorabveröffentlichung der Septemberausgabe) in Er-
innerung, dass sämtliche Forderungen, Naziverbrecher vor Gericht zu bringen,
stets als „zu spät“ zurückgewiesen worden seien. „Es ist befremdlich, dass es
aber nicht zu spät geworden ist, das litauische Justizsystem zu benutzen, um
diejenigen in Misskredit zu bringen, die gegen die Nazis gekämpft haben“,
schreibt Ginaite.

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Zu den weiteren Personen, welche die litauische Staatsanwaltschaft vernehmen
will, gehören der frühere Direktor von Yad Vashem, Dr. Yitzhak Arad, und
Rachel Margolis. Beide leben in Israel, haben die Kooperation mit den litaui-
schen Behörden in dieser Frage aber abgelehnt; Arad wird auf BBC (17. Juli
2008) mit den Worten zitiert, er wolle „nicht Teil dieses Spiels sein“, das darauf
ziele, Geschichte zu verfälschen. Die in Vilnius lebende Fania Brantsovsky
wurde hingegen bereits vernommen.

Anlässlich eines Treffens mit dem Direktor des SWC für internationale Be-
ziehungen hat Litauens Präsident – einer Presseerklärung des SWC Paris vom
7. August 2008 zufolge – ausgesagt, die Fälle seien nun geschlossen. Dem
stehen allerdings anderslautende Aussagen der litauischen Regierung entgegen,
welche die Unabhängigkeit der Justiz betonen.

Die politischen wie humanitären Folgen dieser Vorkommnisse sind ebenfalls
besorgniserregend: Die Sorge vor juristischer Verfolgung wie vor medialer
Diffamierung gleichermaßen hat Rachel Margolis dazu bewogen, erstmals seit
Jahrzehnten darauf zu verzichten, den Sommer in Vilnius zu verbringen und
sich dort unter anderem am Sommerprogramm des Yiddish Instituts zu betei-
ligen. In den – wenigen – Artikeln in der außereuropäischen Presse wird zu-
nehmend die Frage gestellt, ob Vilnius es verdiene, 2009 „Kulturhauptstadt
Europas“ zu sein.

Bislang haben unter anderem die irische und die US-Botschaft auf die Ereig-
nisse reagiert. Die US-Botschaft stellte Fania Brantsovksy eine Ehrenurkunde
aus, die irische Botschaft gab ihr zu Ehren am 3. Juni 2008 einen Empfang –
nur wenige Tage, nachdem litauische Polizeibeamte an ihrer Wohnungstür
gestanden hatten.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Inwiefern ist der geschilderte Sachverhalt der Bundesregierung bekannt?

2. Steht die Bundesregierung in Kontakt mit der litauischen Regierung, um
über die Ermittlungen gegen vormalige jüdische Antinazipartisanen unter-
richtet zu werden, oder will sie an die litauische Regierung mit der Bitte um
entsprechende Unterrichtung herantreten, und wenn nein, warum nicht?

3. Hat die Bundeskanzlerin anlässlich ihres Staatsbesuches in Litauen diese
Thematik angesprochen?

Wenn ja, was hat sie dabei erfahren und welche Stellung hat sie dazu einge-
nommen, wenn nein, warum nicht?

4. Welchen aktuellen Stand haben die Ermittlungen gegen die früheren Partisa-
nen?

5. Ist der Bundesregierung bekannt, auf welche Quellen sich die litauischen
Behörden bei ihren Ermittlungen stützen?

a) Ist der Bundesregierung bekannt, ob sich die litauischen Behörden auf
NS-Quellen in öffentlichen oder privaten Archiven stützen, und wenn ja,
welche?

b) Haben sich litauische Behörden in der genannten Angelegenheit an deut-
sche Stellen gewandt mit der Bitte um Einsicht in oder Überlassen von
NS-Unterlagen, und wenn ja, welche und wie ist mit den Anfragen ver-
fahren worden?

c) Ist der Bundesregierung bekannt, ob in Deutschland lebende Angehörige
der früheren Partisanenbewegung von litauischen Behörden als Zeugen

oder „Tatverdächtige“ gesucht werden, und sind diesbezüglich Rechts-

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hilfeersuchen gestellt worden, und wenn ja, wie sind diese beschieden
worden?

6. Welche in Vilnius ansässigen Auslandsvertretungen welcher Staaten haben
nach Kenntnis der Bundesregierung mit Ehrenurkunden, Ehrenempfängen
oder anderen geeigneten Maßnahmen verdeutlicht, dass sie den antifaschis-
tischen Widerstandskampf der Partisanen für gerechtfertigt halten?

7. Beabsichtigt die Bundesregierung, ihre Auslandsvertretungen in Litauen
anzuweisen

a) Fania Brantsovsky eine Urkunde in Anerkennung für ihre Verdienste
um den antifaschistischen Kampf auszustellen,

b) Fania Brantsovsky zu Ehren einen Empfang zu geben,

c) Lesungen mit den Werken von Sara Ginaite, Rachel Margolis, Yitzhak
Arad duchzuführen,

d) In anderer Weise demonstrativ herauszustellen, dass die Bundesrepublik
Deutschland den antifaschistischen Kampf sowohl von jüdischen als
auch nichtjüdischen Partisanen gegen die Wehrmacht und ihre Kollabo-
rateure für gerechtfertigt hält?

Wenn ja, welche Maßnahmen sind geplant, wenn nein, warum nicht?

8. Beabsichtigt die Bundesregierung, die Erstellung und Publikation von
Memoiren vormaliger Partisanen zu unterstützen oder hat sie dies bereits
getan?

Wenn ja, inwiefern, wenn nein, warum nicht?

9. Hat die Bundesregierung das Vorgehen der litauischen Justiz gegen jüdische
Partisanen im Rahmen der EU, der OSZE oder Nato thematisiert, und wenn
ja, bei welcher Gelegenheit, und mit welchem Ergebnis?

10. Sieht die Bundesregierung Veranlassung, im Rahmen der Europäischen
Kommission die Entscheidung, den Titel „Kulturhauptstadt Europas“ an
Vilnius zu verleihen, zu überdenken?

Berlin, den 4. September 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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