BT-Drucksache 16/10213

Sichere Beförderung von Schülern und Kindergartenkindern

Vom 8. September 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10213
16. Wahlperiode 08. 09. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Peter Hettlich, Ulrike Höfken,
Cornelia Behm, Bettina Herlitzius, Bärbel Höhn und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Sichere Beförderung von Schülern und Kindergartenkindern

Einer aktuellen Studie des ADAC und der Polizei in Baden-Württemberg,
Bayern, Hessen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz zufolge sind zahlreiche
Schulbusse in Deutschland mit erheblichen Mängeln unterwegs. Allein im Rah-
men einer Kontrolle wurden drei Busse als nicht betriebssicher sofort aus dem
Verkehr gezogen. Bei 18 Fahrten in fünf Bundesländern haben die Tester außer-
dem festgestellt, dass die Kapazitäten der Busse falsch berechnet sind. Die kon-
trollierenden Beamten hatten den Eindruck völlig überfüllter Busse, obwohl die
(freiwillige) Stehplatzquote von 70 Prozent gar nicht überschritten wurde. In
der Quotenberechnung werden bislang die voluminösen Schultaschen nicht mit
erfasst, die mit im Bus transportiert werden. Deshalb ist in der Regel bereits bei
70 bis 80 Prozent der vereinbarten Stehplatzquote die zumutbare Obergrenze
erreicht. Obwohl es verboten ist, müssten deshalb viele Kinder auf den Stufen
im Türbereich stehen. Riskant sind laut Studie auch die Drängeleien um einen
Platz im Bus. Dabei hatten sich in der Vergangenheit mehrfach Unfälle ereig-
net. Im sächsischen Schöneck fiel ein Mädchen im Gedränge vor dem Bus hin
und wurde überfahren. Im bayerischen Abensberg wurde ein Achtjähriger in
der Tür eingeklemmt, mitgeschleift und getötet.

Angesichts der zunehmenden Konzentration der Schulen und Kindergärten in
ländlichen Räumen auf weniger Standorte werden die Fahrzeiten für die Kinder
und Jugendlichen in den Flächenländern immer länger und die Problematik
verschärft sich. In Rheinland-Pfalz zum Beispiel werden in Kommunen wie
Bitburg-Prüm oder Trier-Saarburg die Kinder ausschließlich mit den Linien des
öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) zu den Grund- und weiterführenden
Schulen befördert, dabei sind 40 Minuten für einen Fahrweg oft normal. Bereits
nach der zweiten Haltestelle des Busses gibt es häufig keine Sitzplätze mehr,
Sicherungssysteme wie Sicherheitsgurte sind selbst im außerörtlichen Busver-
kehr mit hohen Geschwindigkeiten nicht vorhanden. Sogar Kindergartenkinder
werden dort ohne Aufsichtspersonen in den Linienbussen befördert. Schul-
busse, die wenigstens einige wenige zusätzliche Sicherheitsanforderungen er-
füllen, gibt es in vielen Bundesländern und Kommunen gar nicht mehr.

Der Entwurf des neuen Schulgesetzes in Rheinland-Pfalz sieht keinerlei Ver-
besserungen vor, obwohl die Beschwerden von Seiten der Elternvertreter und
der Landesschülervertretung seit Jahren nicht abreißen. In den Gebietskörper-
schaften bemühen sich die Eltern um private Lösungen, teils unterstützt von
den Verwaltungen oder der Caritas. Senioren sollen angeworben werden, um
die Kinder zu begleiten. Damit können punktuell die gröbsten Missstände ge-
lindert, aber das Fehlen klarer Vorschriften nicht ersetzt werden.

Drucksache 16/10213 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Bis heute hat der Bund keine ausreichenden Rahmenbedingungen zur Siche-
rung der Kindergartenkinder- und Schülertransporte erlassen. Anschnallpflich-
ten gibt es für den Transport von Kindern im privaten Pkw, nicht jedoch in den
(Schul-)Bussen. Ebenso wenig sind besondere Sicherheitsanforderungen wie
zusätzliche Spiegel, rückwärtige Kameras oder eine Stehplatzquote verbindlich
vorgesehen.

Das Problem der Sicherheit der Kinderbeförderung wird auf die Busfahrer/
-innen, Unternehmen und Eltern oder gar die Kinder und Jugendlichen selbst
abgeschoben. Ebenso reichen die Kommunen die Verantwortung aus finanziel-
len Gründen an die Länder oder an die Bundesregierung weiter. Seit Jahren
passiert nichts.

Doch gerade die Busunternehmen können dieser Verantwortung nicht gerecht
werden. Sie stehen unter zunehmenden Wettbewerbsdruck und können nicht in
der Lage sein, einzelbetrieblich freiwillige Leistungen wie Sitzplätze für jedes
Kind oder Gurte anzubieten und durch finanzielle Einbußen die Konkurrenz-
fähigkeit zu verlieren, solange die Mitwettbewerber die Busse vollstopfen
dürfen. Ohne klare gesetzliche Regeln ist keine Verbesserung zu erwarten. Bus-
fahrer/-innen müssen heute neben ihrer Fahrtätigkeit, für die sie ausgebildet
und bezahlt werden, auch noch die Aufgabe schultern, die große Anzahl von
Kindern und Jugendlichen in ihrem Bus zur nötigen Disziplin zu bringen. Oft
fliegen Gegenstände durch die Fahrzeuge, Kinder streiten und schlagen sich,
fallen durcheinander und der Lärm stellt eine große Belastung für alle Beteilig-
ten dar. Die Fahrer müssen auch noch darauf achten, dass die richtigen Abholer
die kleinen Kinder an den Haltestellen empfangen und die Kleinen nicht an den
falschen Haltestellen den Bus verlassen. Auch das Gedränge an den Halte-
punkten führt oft zu gefährlichen Situationen, auch hier gibt es keine verbind-
lichen Vorschriften wie z. B. Absperrvorrichtungen zur Vermeidung solcher
Gefahrenmomente.

Die Busfahrer/-innen haben entsprechend kaum die Möglichkeit, sich vernünf-
tig auf den Straßenverkehr zu konzentrieren. Oft fahren sie an den Straßenrand,
um die Kinder zur Ruhe zu bringen – in einigen Bundesländern wie Rheinland-
Pfalz immer unter dem Druck der Einhaltung der offiziellen Fahrpläne des
ÖPNV. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass aus einer solch fahrlässig ungeregel-
ten Sicherheitslage weitere größere Unfälle entstehen.

Berichten zufolge weichen immer mehr Schülerinnen und Schüler auf Pkw aus
und werden von ihren Eltern zur Schule gebracht. Dadurch entsteht auch eine
Zunahme von Verkehrsbelastung auf den Straßen und vor den Schulen. Die
Kosten und der erhebliche Zeitaufwand belasten die Eltern. Ländliche Räume
werden wegen der desolaten Mobilitäts- und Transportsituation von Kindern
und Jugendlichen immer unattraktiver für junge Familien. Studien belegen zu-
dem, dass die belastende Bussituation die Schulleistung verschlechtert. Viele
schwächere Kinder, besonders Mädchen, werden in Bussen jahrelang gemobbt
und drangsaliert.

Wenn Kommunen nicht über die nötigen finanziellen Mittel für eine sichere
und stressfreie Schülerbeförderung als „freiwillige Leistung“ verfügen, darf
dies nicht zu Lasten der Sicherheit und des Wohls von Hunderttausenden von
Kindern gehen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Über welche eigenen Erkenntnisse bezüglich der Art und Weise und der
Sicherheit der Schüler-/Kindergartenkinderbeförderung in Deutschland ver-
fügt die Bundesregierung?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/10213

2. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse über die Sicherheitsrisiken durch
überfüllte Schulbusse (erheblicher Mangel an Sitzplätzen, Stehen in den
Gängen und im Türbereich, gefährliches Gedränge beim Ein- und Aus-
steigen, Verletzungsgefahren, mangelnde Erreichbarkeit der Festhaltemög-
lichkeiten, fehlende zusätzliche Spiegel, mangelhaft technischer Zustand,
Fehlen von Rückhaltesystemen u. a.)?

Wenn ja, welche?

3. Wie viele Kinder und Jugendliche benutzen regelmäßig Schulbusse,
Kindergartenbusse oder ÖPNV, und welche Fahrzeiten verbringen diese
Kinder durchschnittlich und maximal in den Fahrzeugen?

Wie groß ist die durchschnittliche Entfernung, die Kinder im Schulbus zu-
rücklegen (einfache Fahrt)?

Welche Differenzen gibt es nach Bundesländern?

Welche Entfernung und welche Fahrzeit hält die Bundesregierung für zu-
mutbar?

4. Wie ist die Entwicklung der Entfernungen zu den Schulen in den letzten fünf
Jahren?

Ist durch die anstehende Konzentration von Schulstandorten in einigen
Bundesländern eine Verlängerung der Fahrzeiten absehbar?

Sollen nach Auffassung der Bundesregierung Regelungen für maximale An-
fahrtswege/Fahrzeiten festgelegt werden, wie zum Beispiel in Ostbelgien,
wo die Entfernung zur Schule fünf km betragen darf?

Wenn nein, warum nicht?

5. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, mit welcher Frequenz und
mit welchen Ergebnissen die Schüler-/Kindergartenkinderbeförderung in
den letzten drei Jahren kontrolliert wurde?

Wenn ja, welche?

6. Wie beurteilt die Bundesregierung die Ergebnisse der ADAC-Studie, der zu-
folge erhebliche Sicherheitsmängel bei Schulbussen in Bayern, Hessen,
Niedersachsen und Rheinland-Pfalz bestehen?

7. Hält die Bundesregierung angesichts der neuen ADAC-Studie und immer
vorkommender Probleme und Unfälle die Sicherheitsbestimmungen für aus-
reichend?

Wenn ja, warum?

Wenn nein, warum nutzt die Bundesregierung nicht die Bundeskompetenzen
zur Verbesserung der Sicherheitsanforderungen?

8. Wie begründet die Bundesregierung die Diskrepanz der Sicherheitsvor-
schriften zwischen Pkw-Mitfahrten von Kindern im Vergleich zu Schulbus-
fahrten, Kindergartenkinderbeförderung und Beförderungen zu Förderschu-
len?

Wie beurteilt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Tatsache,
dass jeder private Pkw-Fahrer Kinder nicht nur anschnallen, sondern ge-
gebenenfalls je nach Alter und Gewicht in Kindersitzen transportieren und
bei Verstoß hohe Bußgelder zahlen muss, währenddessen der tägliche lange
Transport für Schülerinnen und Schülern im Bus ohne jegliche Sicherungs-
systeme stattfindet?

Drucksache 16/10213 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

9. Hält die Bundesregierung eine Anschnallpflicht für Kinder und Jugend-
liche in Bussen für sinnvoll?

Wenn ja, bis zu welchem Alter und bei welchen Fahrgeschwindigkeiten?

Wenn nein, warum nicht?

10. Wie steht die Bundesregierung zur Forderung nach Einführung von Kinder-
sitzen und Gurtsystemen in bestimmten Beförderungsfahrzeugen?

11. Wie sollte eine Ausschreibung für den Kindergarten-/Schülerverkehr ge-
staltet sein, um die Verkehrssicherheit zu gewährleisten und Unfällen vor-
zubeugen?

12. Wie beurteilt die Bundesregierung die Praxis z. B. in Rheinland-Pfalz,
wo bereits Kindergartenkinder ohne Aufsichtspersonen den ÖPNV be-
nutzen müssen?

13. Beabsichtigt die Bundesregierung, im Rahmen der Strukturförder-, Ver-
kehrs- und ländliche Raum-Politik diese Problematik stärker aufzugreifen,
und wenn ja, mit welchen Programmen?

14. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus Studien, nach denen
der Stress und die Belastung der Kinder beim Transport in die Schulen so
groß sind, dass die Leistungen im Unterricht beeinträchtigt werden?

15. Wie beurteilt die Bundesregierung die Situation der Busfahrer/-innen, die
alleine mit oft mehr als 50 Kindern und Jugendlichen, zum Teil Kinder-
gartenkinder, die durch den Bus toben, ihrer Aufgabe als Fahrer auf oft
schwierigen bergigen Strecken und schlechten Wetterverhältnissen nach-
kommen müssen?

Ist eine solche Belastung verantwortbar im Sinne der Verkehrssicherheit
und der Verantwortung für das Wohlbefinden und der Sicherheit der Kinder
(im Sinne des Arbeitnehmerschutzes)?

Wenn ja, warum?

Wenn nein, warum nicht?

16. Ist es nach Auffassung der Bundesregierung für die Busunternehmen mög-
lich, die Probleme der Schüler-/Kindergartenkinderbeförderung einzel-
betrieblich zu lösen, und wie beurteilt die Bundesregierung die Wett-
bewerbssituation in diesem Bereich?

17. Wie beurteilt die Bundesregierung das Ausgleichssystem bei der Finanzie-
rung der Schülerbeförderung?

18. Inwiefern können angesichts der sinkenden Schülerzahlen Ausgleichsleis-
tungen nach § 45a des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG) weiterhin
Bestand haben?

Welches alternative Instrument für die Finanzierung der Beförderung zieht
die Bundesregierung in Betracht?

19. Wie sollte nach Auffassung der Bundesregierung die Stehplatzquote be-
messen sein?

Sollte sie verbindlich in den kommunalen Verträgen oder bundesweit ge-
regelt werden?

Müssen die Schultaschen bei der Berechnung der Stehplatzquoten einbezo-
gen werden?

Reicht eine freiwillige Selbstverpflichtung aus, die von vielen Kommunen
nicht einmal verlangt wird, wenn es um die Sicherheit der Kinder und
Jugendlichen geht?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/10213

20. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse, in welchen Bundesländern die bun-
desrechtlichen Vorgaben für Ausgleichszahlungen nach § 45a PBefG durch
Landesrecht ersetzt worden sind?

Was war die Intention für die Änderung der Bestimmungen zu Ausgleichs-
zahlungen und haben sich die Erwartungen der Bundesregierung im Hin-
blick darauf erfüllt?

21. Was kostet – im Durchschnitt – ein Sitzplatz für ein Kind, das mit dem Bus
zur Schule fährt?

Welchen Anteil davon tragen die öffentliche Hand bzw. die Eltern?

Hält die Bundesregierung die von den Eltern zu tragenden Kosten für an-
gemessen, wenn ja warum?

22. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Beförderungssituation
unhaltbar ist hinsichtlich der Sicherheitsfragen, aber Verbesserungen an der
Finanzfrage scheitern?

23. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Sicherheit der Kinder,
aber auch die Sicherheit im Straßenverkehr Vorrang haben muss?

Wenn ja, was plant sie dafür zu tun?

24. Warum werden Sicherungssysteme an den Haupthalteorten und Aufsichts-
pflichten nicht verbindlich vorgeschrieben?

25. Warum werden Sonderausstattungen (rückwärtige Kameras, zusätzliche
Spiegel etc.) für Fahrzeuge, die regelmäßig Schüler-/Kindergartenkinder-
transporte durchführen, nicht verbindlich vorgeschrieben?

26. Teilt die Bundesregierung die Forderung des ADAC, wonach sich die Bun-
desländer an den für die Verbesserung von Sicherheit und Komfort für die
Schüler anfallenden höheren Kosten stärker finanziell beteiligen sollten?

Wenn nein, warum nicht?

27. Wie bewertet die Bundesregierung den Vorschlag, zur Verminderung des
Sicherheitsrisikos an Haltestellen und beim Aus- und Einsteigen, ältere
Schüler als Schulbegleiter einzusetzen?

28. Wie beurteilt die Bundesregierung die Forderung des ADAC nach einer
besseren Ausbildung der Fahrer?

29. Wie verhält sich die Bundesregierung zu dem wachsenden Problem, dass
Eltern und Jugendliche auf private Pkw ausweichen müssen aufgrund der
schlechten Situation der Schülerbeförderung mit öffentlichen Verkehrs-
mitteln hinsichtlich der Belastung der Eltern und im Hinblick auf die
Zunahme vom Pkw-Verkehr auch gerade vor den Schulen?

30. Welchen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung hinsichtlich einer
sicheren Schülerbeförderung?

Welche Voraussetzungen müssen nach Ansicht der Bundesregierung für
einen sicheren und stressfreien Transport von Kindergarten- und Schul-
kindern bzw. Jugendlichen in und an Bussen gegeben sein?

31. Welche Initiativen hat die Bundesregierung eingeleitet, um eine sichere
Schülerbeförderung in den Schulgesetzen der Länder zu verankern?

32. Wie beurteilt die Bundesregierung ein mögliches Sicherheitsrisiko durch
überfüllte Schulbusse (Stehen in den Gängen, Nichterreichbarkeit von
Halteschlaufen, Fehlen von Sitzplätzen, Gedränge beim Ein- und Aus-
steigen, Fehlen von Gurten und Auffangvorrichtungen)?

Drucksache 16/10213 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

33. Wer, und mit welcher Frequenz, kontrolliert die Qualität der Schüler-
beförderung, und welche Ergebnisse wurden in den letzten drei Jahren fest-
gestellt?

Berlin, den 8. September 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.