BT-Drucksache 16/10113

Auswirkungen der neuen Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug - Nachfrage zum Stand 30. Juni 2008

Vom 13. August 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10113
16. Wahlperiode 13. 08. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Ulrich Maurer, Petra Pau
und der Fraktion DIE LINKE.

Auswirkungen der neuen Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug –
Nachfrage zum Stand 30. Juni 2008

Bei ihrer Antwort vom 22. Juli 2008 auf die Kleine Anfrage der Fraktion
DIE LINKE. zu den Auswirkungen der neuen Sprachanforderungen beim Ehe-
gattennachzug (Bundestagsdrucksache 16/9939) lagen der Bundesregierung
noch nicht alle Angaben zum 2. Quartal 2008 für alle 185 Visastellen vor, so
dass Fragen offen blieben. Zudem ergeben sich Nachfragen aus den Antworten
der Bundesregierung.

Bereits aufgrund der Antwort vom 22. Juli 2008 zu den 15 stärksten Herkunfts-
ländern lässt sich allerdings feststellen, dass der erhebliche Rückgang des Ehe-
gattennachzugs infolge der gesetzlichen Neuregelung – entgegen der Zusage
etwa von Staatsministerin Dr. Maria Böhmer, niemand würde gehindert, zum
Ehegatten zu ziehen, und die geforderten Sprachkenntnisse ließen sich in drei
Monaten erwerben (Plenarprotokoll 16/144, S. 15188) – kein Übergangs-
problem ist, sondern eine dauerhafte Einschränkung des Rechts auf Familien-
zusammenleben darstellt. Acht bis zehn Monate nach Inkrafttreten der Neu-
regelung betrug der Rückgang der erteilten Visa immer noch 23 Prozent
(Vergleich der 2. Quartale der Jahre 2007 und 2008, bezogen auf die
15 Hauptherkunftsländer).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Visa zum Ehegattennachzug wurden im 2. Quartal des Jahres 2008
erteilt (bitte die Vergleichswerte für das 2. Quartal 2007 und das 1. Quartal
2008 und den jeweiligen prozentualen Rückgang oder Anstieg benennen)?

2. Welches waren die 20 Länder mit dem prozentual stärksten Rückgang der
erteilten Visa zum Ehegattennachzug, wenn die addierten Werte des 1. und
2. Quartals 2008 mit den addierten Werten des 1. und 2. Quartals 2007 ver-
glichen werden, und wie hoch war in diesen Ländern jeweils der Rückgang
in Prozent und in absoluten Zahlen?

a) Bei welchen dieser 20 Länder geht die Bundesregierung davon aus, dass
Zwangsverheiratungen beim Ehegattennachzug ein relevantes oder be-

achtenswertes Problem darstellen?

b) Wie bewertet es die Bundesregierung, wenn eine Regelung, die maß-
geblich mit dem (angeblichen) Ziel der Bekämpfung von Zwangsver-
heiratungen begründet wurde, sich besonders nachteilig für Eheleute
auch in solchen Ländern auswirkt, in denen es keine oder kaum Zwangs-
verheiratungen gibt?

Drucksache 16/10113 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

c) Falls die Bundesregierung auf die Frage zu 2b antwortet, dass der
Spracherwerb im Ausland (angeblich) ja auch dem Ziel einer besseren
Integration in Deutschland dienen soll, wie ist dies in Bezug auf Länder,
in denen es keine Zwangsverheiratungen in relevanter Größenordnung
gibt, zu begründen angesichts des Umstandes, dass die deutsche Sprache
in Deutschland und in den hierfür eigens vorgesehenen Integrations-
kursen viel leichter erlernt werden kann als im Ausland unter zumeist viel
schlechteren Bedingungen und getrennt vom Ehepartner?

3. Geht die Bundesregierung davon aus, dass der Rückgang der erteilten Visa
zum Familiennachzug infolge der Neuregelung zu Sprachanforderungen ein
vorübergehendes oder ein dauerhaftes Phänomen ist, und welches sind nach
Auffassung der Bundesregierung die genauen Gründe für den anhaltenden
Rückgang?

4. a) Hält die Bundesregierung Vermutungen von zuständigen Mitarbeitern der
deutschen Visastellen für begründet, wonach 30 bis 40 Prozent aller Visa-
anträge zum Ehegattennachzug in der Türkei eine Zwangsverheiratung
zum Hintergrund hätten (bitte begründen; vgl. Äußerung des Abgeordne-
ten Reinhard Grindel, Plenarprotokoll 16/161 vom 9. Mai 2008, S. 16992),
und über welche eigenen Vermutungen oder Erkenntnisse zu dieser Frage
verfügt sie?

b) Da häufig zur Begründung der Notwendigkeit eines Spracherwerbs noch
vor der Einreise (auch von der Bundesregierung) unterstellt wird,
zwangsverheiratete türkische Ehefrauen würden an einem Integrations-
kursbesuch in Deutschland gehindert, da aber gleichzeitig die tatsächliche
Teilnahmequote bei zur Integrationskursteilnahme Verpflichteten bei
türkischen Staatsangehörigen mit 94 Prozent besonders hoch ist (vgl.
Bundestagsdrucksache 16/9137, Anlage 3), bedeutet dies, dass bei ande-
ren als türkischen Staatsangehörigen verstärkt von Zwangsverheiratungen
auszugehen ist, und lässt sich aus der Quote der Nichtteilnahme in Höhe
von 6 Prozent ein Rückschluss auf den möglichen Anteil Zwangsverhei-
rateter unter türkischen Staatsangehörigen ziehen, oder ist die Annahme
unzutreffend, Zwangsverheiratete hätten in Deutschland keinen Zugang
zu Integrationskursen?

c) Wie ist die Aussage des Präsidenten des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge (BAMF), Dr. Albert Schmid, als Sachverständiger bei der
Anhörung zum Richtlinienumsetzungsgesetz vom 23. Mai 2007, „bei
Menschen aus der Türkei, bei denen Verpflichtungen [zur Integrations-
kursteilnahme] ausgesprochen werden, führt das zur konkreten Teil-
nahme in einem geringerem Umgang als aus anderen Bevölkerungs-
kreisen“ (Protokoll 16/42, S. 39), vereinbar mit den genau gegenteiligen
empirischen Werten (vgl. Bundestagsdrucksache 16/9137, Anlage 3), und
auf welche Zahlen oder Erfahrungswerte stützte sich der Präsident des
BAMF bei seiner offenbar völlig falschen Einschätzung?

5. Ist es zutreffend, dass ca. 650 Wörter für die Sprachprüfung „Start Deutsch 1“
erlernt werden müssen, von denen die Hälfte passiv verstanden und die andere
Hälfte aktiv verwandt werden soll, und wenn ja, wie sind hiermit Erklärungen
zur Rechtfertigung der neuen gesetzlichen Hürden etwa von Staatsministerin
Dr. Maria Böhmer vereinbar, die auf der Pressekonferenz zum Zweiten Inte-
grationsgipfel davon sprach, „dass es um einen ersten Spracherwerb von 200
bis 300 Worten geht“?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/10113

6. Wie hoch sind die Bestehensquoten für die Prüfung „Start Deutsch 1“ an
Goethe-Instituten in der Türkei bei Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die
zuvor nicht den Sprachkurs mit 160 Unterrichtseinheiten zu je 45 Minuten be-
sucht haben (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage auf
Bundestagsdrucksache 16/9939 zu Frage 14d)?

7. a) Wie hoch sind die Bestehensquoten für die Prüfung „Start Deutsch 1“ an
Goethe-Instituten weltweit im Durchschnitt (bitte differenzieren nach
vorheriger Sprachkursteilnahme oder nur Prüfungsteilnahme)?

b) Welches waren die 20 Länder, in denen die Bestehensquoten am besten
bzw. am niedrigsten waren, und wie waren dort jeweils die entsprechen-
den Quoten (bitte differenzieren nach vorheriger Sprachkursteilnahme
oder nur Prüfungsteilnahme)?

8. a) Wie ist es nach Ansicht der Bundesregierung für vollzeit erwerbstätige
Menschen mit geringen zeitlichen Ressourcen im Ausland möglich, inner-
halb von drei oder auch sechs Monaten einen Sprachkurs mit 160 Unter-
richtseinheiten zu je 45 Minuten zu besuchen?

b) Welche unterschiedlichen Sprachkurse zum Erwerb des Niveaus „Start
Deutsch 1“ bietet das Goethe-Institut im Ausland an (Intensivkurse,
Abendkurse, einmal/mehrmals wöchentlich?), und wie lange ist dann
jeweils der Zeitraum, der für den Spracherwerb benötigt wird?

9. a) Welche Reaktionen gab es von der türkischen Seite, als das Bundes-
ministerium des Innern ihr bei den Expertengesprächen Mitte Juni 2008
erläuterte, dass an der Regelung zum vorherigen Erwerb von Sprach-
kenntnissen beim Ehegattennachzug festgehalten werden soll, nachdem
der Bundesminister des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, im Rahmen sei-
ner Türkeireise eine Prüfung des türkischen Vorschlags, deutsche Sprach-
kenntnisse erst in Deutschland erlernen zu müssen, zugesagt hatte?

b) Wie bewertet es die Bundesregierung in diesem Zusammenhang, dass die
britische Regierung Pläne eines Spracherwerbs vor der Einreise beim
Ehegattennachzug offenbar abgelehnt hat und Zuwanderer erst nach ihrer
Einreise zur Teilnahme am Sprachunterricht innerhalb von sechs Mona-
ten verpflichten will?

Berlin, den 13. August 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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