BT-Drucksache 15/5767

Dezentralisierung und lokale Selbstverwaltung in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit

Vom 14. Juni 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/5767
15. Wahlperiode 14. 06. 2005

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Conny Mayer (Freiburg), Dr. Christian Ruck, Arnold Vaatz,
Dr. Ralf Brauksiepe, Hartwig Fischer (Göttingen), Klaus-Jürgen Hedrich, Siegfried
Helias, Volker Kauder, Rudolf Kraus, Sibylle Pfeiffer, Christa Reichard (Dresden),
Peter Weiß (Emmendingen), Rainer Eppelmann, Norbert Geis, Peter Götz,
Dr. Egon Jüttner, Jürgen Klimke und der Fraktion der CDU/CSU

Dezentralisierung und lokale Selbstverwaltung in der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit

Dezentralisierung und lokale Selbstverwaltung sind Schwerpunktbereiche, in
denen sich die bilaterale deutsche Entwicklungszusammenarbeit weltweit enga-
giert. Die spezifisch deutschen, föderalen und kommunalen Erfahrungen sind
bei der Konzeption und Durchführung von Projekten im Bereich Dezentralisie-
rung und lokaler Selbstverwaltung hilfreich. In Verbindung mit guter Regie-
rungsführung (good governance), verstanden als verantwortlichen, entwick-
lungsorientierten und transparenten Umgang mit den Entwicklungsressourcen
des Landes, zielen Dezentralisierung und lokale Selbstverwaltung darauf,
Demokratisierungsprozesse zu unterstützen.
Dezentralisierung steht im Verständnis der deutschen Entwicklungszusammen-
arbeit für die Übertragung von Aufgaben, Zuständigkeiten, Ressourcen und
politischen Entscheidungsbefugnissen an subnationale Ebenen und regelt somit
die Machtverteilung innerhalb eines Staates. Lokale Selbstverwaltung steht für
die Schaffung kommunaler Einheiten mit eigenen Kompetenzen und Ressour-
cen sowie demokratisch legitimierten Vertretungsorganen. Im Rahmen ihres
inhaltlich-thematischen Schwerpunktes „Demokratie, Zivilgesellschaft und
öffentliche Verwaltung“ beschäftigt sich die deutsche staatliche Entwicklungs-
zusammenarbeit mit Dezentralisierung und lokaler Selbstverwaltung in Ent-
wicklungsländern vor allem hinsichtlich deren politischer, administrativer und
steuerlicher Aspekte.
Ziel von Dezentralisierung ist, Kompetenzen auf untere staatliche Ebenen zu
übertragen. Staatliche Dienstleistungen, der Einsatz öffentlicher Ressourcen,
die Kontrolle von Regierung und Verwaltung sowie die Partizipation der Be-
völkerung sollen dadurch verbessert werden. Ein weiteres Ziel von Dezentrali-
sierung und lokaler Selbstverwaltung ist, einen Beitrag zur Sicherung der kultu-
rellen, sozialen und ökonomischen Vielfalt zu leisten, ohne jedoch separatisti-
schen Tendenzen Vorschub zu leisten.
Positive Auswirkungen von Dezentralisierung und lokaler Selbstverwaltung
werden nicht zwangsläufig erreicht. Es gibt Risiken, wie die Stärkung der
Dominanz lokaler Eliten, die Verlagerung von Korruption auf regionale und
lokale Ebenen oder die Belastung des staatlichen Zusammenhalts. Betrachtet
man den Prozess der Förderung der Dezentralisierung und der Stärkung lokaler
Selbstverwaltung ausdifferenziert nach Ziel- und Geberländern, so werden auf

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der Seite der Zielländer häufig die Konzentration von Kompetenzen und Res-
sourcen im Zentralstaat, also eine mangelnde Übertragung von Ressourcen
oder deren Missbrauch, sowie das Fehlen des politischen Willens, einer kohä-
renten Strategie und personeller Kapazitäten festgestellt. Geberländern werden
häufig mangelnde Strategien, oberflächliche Projektplanung, fehlende Abstim-
mung mit anderen Gebern sowie mangelnde Nachhaltigkeit und zu geringe
Einbeziehung der Zivilgesellschaft vorgehalten.
Ein ambivalentes Beispiel der letzten Jahre ist Indonesien – mit rund 240 Mil-
lionen Einwohnern das viertbevölkerungsreichste Land der Welt. Die deutsche
staatliche Entwicklungszusammenarbeit unterstützt Indonesien durch Beratung
beim Dezentralisierungsprozess – vor allem bei der Reform von Institutionen –
sowie mit Maßnahmen zur Stärkung der lokalen Selbstverwaltung. Bereits ein
Jahr nach dem politischen Umbruch von 1998 begann die Debatte zur Dezen-
tralisierung. Sie brachte zwei Gesetze zur Administration der Provinzregierun-
gen und zum Finanzausgleich hervor, die im Jahr 2001 in Kraft traten. Seitdem
wurden gesetzgeberische Mängel deutlich, die zu Rechts- und Kompetenzstrei-
tigkeiten zwischen und innerhalb der nationalen, regionalen und kommunalen
Ebenen führten. So waren die neuen Gesetze weder aufeinander noch auf be-
reits bestehende Gesetze abgestimmt und Ausführungsbestimmungen fehlten.
Diese Rechtsunsicherheit verlangsamte einerseits den Dezentralisierungspro-
zess, verhinderte andererseits dringend benötigte ausländische Investitionen
in den Regionen. Kritiker weisen zudem auf eine „Dezentralisierung“ von
Korruption hin. Erschwerend kommt hinzu, dass es bisher keinen gerechten
Finanzausgleich gibt. Einige Kommunen setzen das Konzept von Dezentralisie-
rung und lokaler Selbstverwaltung jedoch gut um und sehen sich immer mehr
in der Verantwortung gegenüber ihren Bürgern. Der Stärkung von Institutionen
wie den Regional- und Kommunalparlamenten kommt dabei eine Schlüssel-
rolle zu.
Afrika ist der größte Empfänger von bilateralen Projektmitteln im Schwerpunkt
„Demokratie, Zivilgesellschaft und öffentliche Verwaltung“. Senegal ist dabei
ein bedeutendes Beispiel für Maßnahmen zur Förderung der lokalen Selbstver-
waltung. Deutschland engagiert sich hier vor allem in Fatick und Kaolack, zwei
der ärmsten Gebiete des Senegals. Bereits kurz nach der Unabhängigkeit 1960
hat die senegalesische Regierung angedacht, Dezentralisierungsmaßnahmen
einzuführen. Wesentliche Fortschritte konnten erst 1996 erzielt werden: So
wurden gesetzliche Grundlagen zur Dezentralisierung der zentralstaatlichen
Verwaltung verabschiedet, einige Kompetenzen vom Zentralstaat an die loka-
len Einheiten (Region, Kommune, Landgemeinde) übertragen und ein Ministe-
rium für Raumplanung und Dezentralisierung geschaffen. Probleme ergeben
sich im Prozess der Stärkung lokaler Selbstverwaltung und damit auch der För-
derung der Dezentralisierung im Senegal vor allem im administrativen und
finanziellen Bereich.

Wir fragen die Bundesregierung:
I. Konzept und Koordinierung von Dezentralisierungsmaßnahmen
1. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass Dezentralisierung und lokale

Selbstverwaltung entwicklungspolitische Kernkompetenzen der Bundes-
republik Deutschland sind?

2. Welchen Einfluss hat die Bundesregierung auf die Umsetzung ihrer Dezen-
tralisierungsziele, vor allem in Fällen kollidierender Interessen von Teilen
der Zentralverwaltung mit Teilen der subnationalen Autoritäten?
Wie wird die Übertragung von Zuständigkeiten und der dafür benötigten
Mittel an subnationale Einheiten seitens der Bundesregierung unterstützt?

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3. Wie wird Transparenz und gute Haushaltsführung in den Projektländern im
Bereich der Dezentralisierung und lokalen Selbstverwaltung im Rahmen
der deutschen Entwicklungszusammenarbeit (EZ) sichergestellt?

4. Wie geht die Bundesregierung mit den von Professor Dr. Jörn Altmann
(Entwicklung und Zusammenarbeit, Nr. 10, Oktober 2000, S. 275 bis 277:
Dezentralisierung, Demokratie und Verwaltung. Zu hohe Erwartungen an
einen langfristigen Prozess.) identifizierten Schwachstellen bei der Um-
setzung von Dezentralisierungsmaßnahmen um, wie beispielsweise dem
Mangel an strategischer Planung auf Partnerseite, der fiskalischen Dezen-
tralisierung, dem Fehlen von Partizipationsmöglichkeiten und einem
„sense of ownership“ auf der regionalen und lokalen Ebene?

5. Wie stellt die Bundesregierung bei ihren Projekten im Bereich Dezentrali-
sierung und lokaler Selbstverwaltung die Einbeziehung der Zivilbevölke-
rung sicher und fördert dieselbe?

6. Welche Ansätze hat die Bundesregierung im Umgang mit „Dezentralisie-
rungsverlierern“ entwickelt, und welche Lehren zieht sie aus deren Umset-
zung in den vergangenen Jahren?

7. Welche Rolle sollen die Themen Dezentralisierung und lokale Selbstver-
waltung künftig in der deutschen staatlichen EZ einnehmen?

8. In welchen Ländern sind Maßnahmen zur Förderung der Dezentralisierung
und zur Stärkung der lokalen Selbstverwaltung aus Sicht der Bundesregie-
rung besonders notwendig?

9. Anhand welcher Kriterien grenzt die Bundesregierung die deutsche staat-
liche EZ im Bereich der Dezentralisierung und lokalen Selbstverwaltung
zu der Entwicklungsarbeit nichtstaatlicher Träger – vor allem von Stiftun-
gen – ab?
Gibt es dennoch Überschneidungen mit der EZ von nichtstaatlichen Trä-
gern?

10. Plant die Bundesregierung Dezentralisierungsprozesse zukünftig stärker
bilateral über die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit
(GTZ), die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und andere Akteure oder
multilateral über die EZ der Europäischen Union, der Vereinten Nationen
zu fördern?

11. Welchen Einfluss übt die Bundesregierung im Bereich der Dezentralisie-
rung auf die Weltbank aus?
Inwiefern stimmt die Bundesregierung Maßnahmen der deutschen staat-
lichen EZ im Bereich der Dezentralisierung und lokalen Selbstverwaltung
mit Maßnahmen der Weltbank ab?

II. Nachhaltigkeit
12. Anhand welcher Faktoren analysiert und kontrolliert die Bundesregierung

Projekte zur Förderung von Dezentralisierung und zur Stärkung lokaler
Selbstverwaltung zum einen vor Projektbeginn und zum anderen während
der Umsetzung und Durchführung?

13. Wie stellt die Bundesregierung eine kohärente Zusammenarbeit im Bereich
der Dezentralisierung und lokalen Selbstverwaltung einerseits zwischen
den deutschen staatlichen, andererseits aber auch zwischen den staatlichen
und nichtstaatlichen Trägern der EZ vor Projektbeginn und während der
anschließenden Umsetzung und Durchführung sicher?
Wie stellt die Bundesregierung dies hinsichtlich der internationalen Geber
sicher?

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14. Wie stellt die Bundesregierung sicher, dass mit Dezentralisierung und loka-
ler Selbstverwaltung auch kurzfristige, vor allem aber langfristige Erfolge
erzielt werden?
Welche Indikatoren zur Evaluierung zieht die Bundesregierung diesbezüg-
lich heran?

III. Dezentralisierung weltweit
15. Wie viele Länder haben die Bundesregierung in den letzten sieben Jahren

direkt angefragt, ihren Dezentralisierungsprozess mitzugestalten?
16. Welche der Kooperationsländer, in denen Dezentralisierung und lokale

Selbstverwaltung ein Schwerpunkt deutscher EZ sind, haben in den letzten
sieben Jahren die größten Fortschritte zu verzeichnen, welche haben stag-
niert bzw. Rückschritte gemacht, und welche Lehren zieht die Bundes-
regierung daraus?
Wie werden die Projektstrategien erstellt, und wie häufig werden sie über-
prüft?

17. Werden von der deutschen staatlichen EZ zur Durchführung von Projekten
im Bereich Dezentralisierung und lokaler Selbstverwaltung Eigenmittel
vorausgesetzt?

18. Wie groß ist der Anteil der bilateralen deutschen EZ, der für Dezentralisie-
rungs- und lokale Selbstverwaltungsprojekte in Afrika ausgegeben wird?
Welche Schwerpunkte setzt die Bundesregierung hierbei?

19. Hat die Armutsbekämpfung im Rahmen von Dezentralisierungsprogram-
men nach Verabschiedung der Millenium Development Goals (MDG) nach
Ansicht der Bundesregierung eine Aufwertung erfahren?
Wenn ja: in welchen Kooperationsländern bzw. Programmen und inwie-
fern?

IV. Indonesien
20. Welche Programme unterstützt die Bundesregierung in Indonesien, um

Dezentralisierung und lokale Selbstverwaltung voranzubringen, und
welche Mittel stellte sie in den letzten Jahren dafür zur Verfügung?
Welche Mittel wird sie 2005 und 2006 für Dezentralisierung und lokale
Selbstverwaltung in Indonesien zur Verfügung stellen?

21. Wie stellt die Bundesregierung die Abstimmung ihrer Programme zu
Dezentralisierung und lokaler Selbstverwaltung in Indonesien mit anderen
internationalen Gebern sicher?
Welche internationalen Geber sind in Indonesien im Bereich Dezentralisie-
rung und lokaler Selbstverwaltung aktiv?

22. Wie beurteilt die Bundesregierung die Revision der im Rahmen der Dezen-
tralisierung erlassenen Gesetze?
Was unternimmt die Bundesregierung, um die Rechtsunsicherheit in Indo-
nesien im Hinblick auf die Dezentralisierungsgesetze zu beheben?

23. Welche Maßnahmen sind aus Sicht der Bundesregierung nötig, um den
regionalen und kommunalen Parlamenten größere Kompetenzen einzu-
räumen und sicherzustellen, dass sie tatsächlich die Interessen der Bürger
vertreten?

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/5767

24. Wie beurteilt die Bundesregierung die starke Auslastung und geringe
Finanzausstattung der zweiten Ebene (Städte und Landkreise)?

25. Inwieweit bezieht die Bundesregierung bei Projekten der Dezentralisierung
und lokalen Selbstverwaltung in Indonesien die Zivilgesellschaft mit ein?

26. Welchen Einfluss und welches Engagement haben in Indonesien tätige
deutsche Firmen auf Projekte zur Förderung der Dezentralisierung und zur
Stärkung der lokalen Selbstverwaltung der Bundesregierung, und was tut
die Bundesregierung, um deren Engagement zu fördern?

V. Senegal
27. Inwieweit nutzt die Bundesregierung die bilaterale EZ im Bereich der

Dezentralisierung und lokalen Selbstverwaltung im Senegal?
28. Was hat die Bundesregierung in den letzten fünf Jahren hinsichtlich der

politischen Ebene der Dezentralisierung im Senegal erreicht?
Wie wird sichergestellt, dass der Prozess im Senegal zu konkreten Ver-
änderungen führt?

29. Wie unterstützt die Bundesregierung dabei konkret die Landgemeinden im
Rahmen der bilateralen Dezentralisierung?
Welche Faktoren hindern die Landgemeinden an der Wahrnehmung der
ihnen zugedachten Aufgaben, und was kann die Bundesregierung dazu bei-
tragen, um dies zu verändern?

30. Wie unterstützt die Bundesregierung den Senegal bei der Ausformung der
administrativen und fiskalischen Dezentralisierungsmaßnahmen?
Welche Entwicklung ist hierbei über die letzten sieben Jahre zu ver-
zeichnen?

31. Wie beurteilt die Bundesregierung die Finanzmittelausstattung von senega-
lesischen Regionen und Kommunen in Prozessen der Dezentralisierung
und lokalen Selbstverwaltung?
Welchen Einfluss hat die Bundesregierung auf die Finanzmittelausstattung
der subnationalen Ebene im Senegal, und wie nimmt sie diese wahr?
Welche alternativen Wege der Finanzmittelausstattung der senegalesischen
Kommunen und Regionen gibt es aus Sicht der Bundesregierung?

32. Was unternimmt die Bundesregierung zur Förderung der Einbeziehung der
Zivilgesellschaft im Senegal?
Was trägt die deutsche EZ zur Förderung der Informations- und Rechen-
schaftspflicht dezentralisierter Einheiten gegenüber der Zivilgesellschaft
bei?

Berlin, den 14. Juni 2005
Dr. Conny Mayer (Freiburg)
Dr. Christian Ruck
Arnold Vaatz
Dr. Ralf Brauksiepe
Hartwig Fischer (Göttingen)
Klaus-Jürgen Hedrich
Siegfried Helias
Volker Kauder
Rudolf Kraus

Sibylle Pfeiffer
Christa Reichard (Dresden)
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Rainer Eppelmann
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Dr. Egon Jüttner
Jürgen Klimke
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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