BT-Drucksache 15/5072

Vorrang ambulanter vor stationärer Hilfen für Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen

Vom 8. März 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/5072
15. Wahlperiode 08. 03. 2005

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Hubert Hüppe, Andreas Storm, Annette Widmann-Mauz,
Dr. Wolf Bauer, Antje Blumenthal, Monika Brüning, Verena Butalikakis, Dr. Hans
Georg Faust, Ingrid Fischbach, Michael Hennrich, Volker Kauder, Gerlinde Kaupa,
Barbara Lanzinger, Karl-Josef Laumann, Laurenz Meyer (Hamm), Maria Michalk,
Hildegard Müller, Hannelore Roedel, Horst Seehofer, Matthias Sehling, Jens
Spahn, Max Straubinger, Peter Weiß (Emmendingen), Gerald Weiß (Groß-Gerau),
Wolfgang Zöller und der Fraktion der CDU/CSU

Vorrang ambulanter vor stationärer Hilfen für Menschen mit Behinderungen
und psychischen Erkrankungen

Der Vorrang ambulanter vor stationärer Hilfen ist seit jeher gesetzlich verankert
(§§ 37 und 37a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V), § 1 SGB IX sowie
§ 13 SGB XII bzw. bis Ende 2004 in § 3a Bundessozialhilfegesetz (BSHG)).
Diese Vorschriften sollen es Menschen mit Behinderungen und psychischen
Erkrankungen ermöglichen, in ihrer Gemeinde selbstbestimmt am Leben in der
Gesellschaft teilzuhaben. Bei allen Bemühungen um den Ausbau ambulanter
Strukturen ist Sozialhilfe nach der Besonderheit des Einzelfalles nach § 9
SGB XII zu gewähren, um die Einbeziehung der Wünsche des betroffenen
Menschen zu sichern.
Ambulante Angebote können beispielsweise ambulant betreutes Wohnen, Le-
ben mit persönlicher Assistenz nach dem Arbeitgebermodell oder die ambu-
lante psychiatrische Fachpflege nach § 37 Abs. 1 und 2 SGB V in Verbindung
mit den §§ 2a und 132a SGB V umfassen. Das ambulant betreute Wohnen er-
möglicht es den Betroffenen, in der eigenen Wohnung oder in selbst gewählten
Wohngemeinschaften in ihrer Gemeinde zu wohnen, und erlaubt ein höheres
Maß an Selbstbestimmung im täglichen Leben als dies in Großeinrichtungen
und gemeindenahen Wohnheimen realisierbar ist. Die persönliche Assistenz
nach dem Arbeitgebermodell bedeutet ein „normales“ Leben in der eigenen
Wohnung mit der notwendigen personellen Hilfe. Die behinderte Person selber
fungiert hier als Arbeitgeber für angestellte Assistenzkräfte. Zahlreiche Bei-
spiele beweisen, dass auch Menschen mit hohem Behinderungsgrad außerhalb
einer stationären Einrichtung leben und durch ambulante Dienste oder im Rah-
men des Arbeitgebermodells adäquat versorgt werden können. Die ambulante
psychiatrische Fachpflege ist darauf ausgerichtet, kostenintensive stationäre
Aufenthalte zu vermeiden, und es den Betroffenen zu ermöglichen, in ihrem
gewohnten Umfeld zu verbleiben.
Ein weiteres soziales Argument spricht für ambulante Hilfen: Sie können leich-
ter als stationäre Einrichtungen bürgerschaftliches Engagement wecken und
beteiligen, und so unmittelbar die Integration der Betroffenen erleichtern. So
können Synergien mit Angeboten geschaffen werden, in denen bürgerschaft-
liches Engagement integriert wird, wie es beispielsweise in Kontakt- und Bera-
tungsstellen für Menschen mit Behinderungen passiert.

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Insofern fördern ambulante Hilfen durch ihre Tätigkeit im Kontext einzelner
Hilfeempfänger die Integrationsfähigkeit von Wohngemeinden und beugen
sozialer Isolierung und Ausgrenzung vor.
Ein konsequenter Vorrang ambulanter vor stationärer Hilfen hat das Potenzial,
die Gesamtkosten zu stabilisieren und den durch zukünftig wachsende Fallzah-
len zu erwartenden Kostenanstieg zu dämpfen. Die überörtlichen Träger der
Sozialhilfe haben beispielsweise festgestellt, dass durch den Einsatz ambulant
betreuter Wohnformen die durchschnittlichen Ausgaben pro Hilfeempfänger
gesenkt werden konnten. Für eine konsequente Förderung der ambulanten
Hilfen müssen diese jedoch ausreichend finanziell ausgestattet und strukturell
ausgestaltet werden, damit ein bedarfsdeckendes Angebot für Menschen mit
Behinderung realisierbar ist.
Obwohl die durchschnittlichen Kosten von ambulanten Hilfen nach Erfahrung
der Leistungserbringer deutlich unter denen der stationären Hilfen liegen, steht
dem Ziel der vorrangigen Gewährung von ambulanten Hilfen in der Praxis eine
Vielzahl von Hürden gegenüber. Insbesondere die bürokratischen Anforderun-
gen an die ambulanten Leistungserbringer binden wertvolle Ressourcen, die für
die Arbeit vor Ort fehlen. Diese bürokratischen Anforderungen zielen weniger
auf eine Ergebnisqualität ab als vielmehr auf die Kontrolle der Struktur- und
Prozessqualität (z. B. durch vorgeschaltete Genehmigungsverfahren und fort-
laufende Dokumentationspflichten).
Erschwerend kommt hinzu, dass die finanziellen Vergütungen bei gleichzeitig
hohen Anforderungen an die fachliche Qualifikation der Mitarbeiter so knapp
bemessen sind, dass eine wirtschaftliche Führung von ambulanten Diensten
schwierig bis unmöglich gemacht wird. Zudem sind die Leistungserbringer
vielfach gezwungen, über Monate mit ihren Dienstleistungen in Vorleistung zu
treten, da die Bearbeitung der Genehmigungen sich über Wochen und Monate
hinzieht.
Als eine effektive Maßnahme für die Erbringung von ambulanten Diensten hat
sich die Vernetzung der verschiedenen Mitwirkenden in Form von Hilfeplan-
konferenzen erwiesen. Die regelmäßigen Treffen von allen Mitwirkenden, wie
Vertretern der Krankenkasse, des ambulanten Dienstes und des Betreuers,
haben sich bewährt, um dem Ziel einer ganzheitlichen und abgestimmten
Leistungserbringung gerecht zu werden. Diese Vernetzung wird jedoch in
Deutschland nicht flächendeckend praktiziert, sondern nur in vereinzelten
Bundesländern.
Im Jahr 2003 sind nach Angaben des Statistischen Bundesamtes die Ausgaben
der Sozialhilfe in den Bereichen der Hilfe in besonderen Lebenslagen und der
Eingliederungshilfe für behinderte Menschen zu einem überwiegenden Teil an
Berechtigte in Einrichtungen gezahlt worden. Insbesondere vor dem Hinter-
grund der zukünftig steigenden Fallzahlen von Menschen, die Hilfe in besonde-
ren Lebenslagen beziehen werden, ist es dringend geboten, die ambulanten
Strukturen auszubauen, um zum einen eine Senkung der Gesamtkosten oder zu-
mindest eine Verringerung des Kostenanstiegs zu erreichen und zum anderen
behinderten und psychisch kranken Menschen bedarfs- und bedürfnisgerechte
ambulante Unterstützung anbieten zu können.
Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung darüber vor, ob und wie die

in § 6 SGB IX erfassten Rehabilitationsträger den Vorrang ambulanter Hilfen
vor stationärer Hilfen umsetzen (bitte Angaben für die einzelnen Träger)?
Wenn die Umsetzung unzureichend ist, welche Maßnahmen plant die Bun-
desregierung zur Förderung der ambulanten Hilfen?

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2. Welche Konzepte hat die Bundesregierung, um mit dem prognostizierten
Fallzahlanstieg in der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen sowie
der damit verbundenen Kostensteigerung umzugehen?

3. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die zahlenmäßige Ent-
wicklung der stationär und ambulant untergebrachten Menschen mit Be-
hinderung und psychischer Erkrankung in den letzten zehn Jahren (bitte
aufgeschlüsselt nach Jahren sowie differenziert nach Geschlecht)?

4. Wenn die Anzahl der in stationären Einrichtungen untergebrachten Men-
schen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in den letzten
zehn Jahren gestiegen ist, worauf führt die Bundesregierung diese Tatsache
zurück?

5. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Ausgaben für die
Eingliederungshilfe für behinderte Menschen und die Hilfe zur Pflege nach
dem BSHG bzw. seit 1. Januar 2005 dem SGB XII sowie die nach Ge-
schlecht differenzierte Anzahl der Menschen, denen diese Hilfen gewährt
wurden (bitte aufgeschlüsselt für die vergangenen zehn Jahre und differen-
ziert nach ambulanten und stationären Maßnahmen)?

6. Trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass die Leistungsträger
den Leistungsanbietern für ambulante Hilfen vielfach keine leistungs-
gerechte Vergütung zahlen, so dass die Erbringung eines bedarfsgerechten
Angebots daran scheitert?
Wenn ja, welche Maßnahmen plant die Bundesregierung zur Beseitigung
dieses Missstandes?

7. Trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass durch hohe bürokrati-
sche Auflagen für die Bewilligung und den Nachweis von Leistungen, für
Qualifikationsvorgaben und deren Nachweise, für Dokumentationen und
lange Wartezeiten auf Bewilligung (häufig länger als sechs Monate) der
Zugang für Anspruchsberechtigte zu den ambulanten Diensten und die
Leistungserbringung unverhältnismäßig erschwert werden und zusätzlich
erhöhte Kosten verursacht werden?
Wenn ja, welche Gegenmaßnahmen plant die Bundesregierung?

8. Ist der Bundesregierung bekannt, ob die vom Gemeinsamen Bundesaus-
schuss beschlossene Änderung der „Richtlinie über die Verordnung von
häuslicher Krankenpflege“ sicherstellt, dass die Leistungen der ambulanten
psychiatrischen Krankenpflege in allen Bundesländern seitens der Kranken-
kassen getragen werden?

9. Ist nach wie vor in dieser Richtlinie vorgesehen, dass für jede Pflegefach-
kraft bei jeder Krankenkasse bzw. jedem Krankenkassenverbund ein Zulas-
sungsantrag gestellt und genehmigt werden muss, und wenn ja, teilt die
Bundesregierung die Auffassung, dass durch diese bürokratischen Hürden
die ambulante psychiatrische Pflege in Frage gestellt wird?
Wenn ja, gedenkt die Bundesregierung, dagegen vorzugehen?

10. Wird das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung
(BMGS) der geänderten Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses in
der vorgelegten Form zustimmen?
Wenn nein, welche Regelungen beanstandet das BMGS, und welche Ände-
rungen sind vorgesehen?

11. Trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass bisher wegen unzu-
reichender Vergütung und mangelnder Wegevergütung die ambulante psy-
chiatrische Pflege fast ausschließlich in Ballungsräumen angeboten wird?

Drucksache 15/5072 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, um die ambulante psy-
chiatrische Pflege auch in strukturschwachen Regionen zu ermöglichen?

12. Ist der Bundesregierung bekannt, dass Auswertungen zwischen Leistungs-
erbringern und Krankenkassen auf regionaler Ebene die Wirksamkeit am-
bulanter psychiatrischer Pflege, wie z. B. Vermeidung teurer stationärer
Krankenhausbehandlungen, belegen?
Liegen der Bundesregierung diesbezüglich Erkenntnisse über die bundes-
weite Dimension vor?

13. Plant die Bundesregierung diese Erkenntnisse zukünftig zu nutzen?
Wenn ja, welche konkreten Maßnahmen sind in den nächsten Jahren vorge-
sehen?

14. Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse darüber vor, ob die Kosten stati-
onärerKrankenhausbehandlungensteigen,weil sozialpsychiatrischeDienste
wegen mangelnder Finanzierung der Prävention und Krisenintervention
nicht hinreichend nachkommen können?
Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung zur Förderung und Verein-
heitlichung der sozialpsychiatrischen Dienste?

15. Ist der Bundesregierung bekannt, in welchem Umfang die Kontakt- und
Beratungsstellen für Menschen mit Behinderungen und psychischen Er-
krankungen als niederschwellige Hilfen zur Vermeidung von stationären
Hilfen ihr Angebot aufgeben müssen, weil die Refinanzierung nicht gesi-
chert ist?

16. Trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass die ambulante Sozio-
therapie nach § 37a SGB V wegen hoher Anforderungen an die Struktur-
qualität, an Dokumentation und an bürokratische Abläufe bei unzureichen-
der Vergütung zur Vermeidung von teuren Krankenhausaufenthalten kaum
realisiert wird?

17. Ist der Bundesregierung bekannt, in welchem Umfang Familien mit behin-
derten Kindern stationäre Hilfen in Anspruch nehmen, weil ihnen mangels
familienentlastender Dienste eine Betreuung nicht möglich ist?

18. Trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass das ambulant betreute
Wohnenwegen restriktiverBewilligungspraxis,mangels angemessenerRah-
menbedingungen und mangels auskömmlicher Vergütung seine Funktion
nicht ausreichend erfüllen kann?

19. Wie beurteilt die Bundesregierung das sog. Arbeitgebermodell, bei dem die
behinderte Person selber in Funktion eines Arbeitgebers die Anstellung und
Bezahlung der Assistenzpersonen regelt, vor dem Hintergrund, dass hierbei
in der Regel erheblich niedrigere Verwaltungskosten anfallen als bei ande-
ren Formen der Versorgung?

20. Hält die BundesregierungVergabeverfahren für ambulante Dienstleistungen
wie das betreuteWohnen für ein angemessenes und rechtmäßigesMittel, um
zu Vereinbarungsabschlüssen zwischen den überörtlichen Trägern der So-
zialhilfe und den Leistungserbringern zu gelangen?

21. Ist der Bundesregierung bekannt, wie viele behinderte und psychisch kranke
Menschen wegen eines nicht ausreichenden Hilfeangebots an ihrem Hei-
matort in stationäre Einrichtungen unter Umständen in weit entlegenen Re-
gionen, oft in einem anderen Bundesland, verbracht werden?
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, dem entgegenzuwirken?

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/5072

22. Sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit, zur Sicherstellung eines
adäquaten Hilfeanspruchs für jeden Behinderten und psychisch Kranken die
Verantwortung für die Organisation ambulanter und stationärer Hilfen auf
territorialer Ebene zu regeln?
Wenn ja, wie könnte eine solche Regelung mit den Kommunen geschaffen
und umgesetzt werden?
Wenn nein, wie können dann integrierte Formen der Hilfe für den Personen-
kreis geschaffen werden?

23. WelcheMaßnahmen unternimmt und plant die Bundesregierung, umWohn-
formen für behinderte und psychisch kranke Menschen außerhalb von Ein-
richtungen flächendeckend zu fördern?
Inwiefern werden bei diesen Überlegungen das Konzept der „Hilfe aus einer
Hand“ sowie die Notwendigkeit der Vernetzung der Leistungserbringer
berücksichtigt?

24. Welche Maßnahmen hält die Bundesregierung für sinnvoll, um das betreute
WohnenauchaußerhalbvonBallungsgebietenundStadtstaatenzuetablieren?

25. Welche unterstützenden und flankierenden Maßnahmen plant die Bundes-
regierung für Menschen mit Behinderungen, die von einer stationären in
eine ambulante Wohnform wechseln möchten?

26. Welche unterstützenden und flankierenden Maßnahmen plant die Bundes-
regierung für Einrichtungsträger, die stationäre Angebote in ambulante
Hilfen umwandeln möchten?

27. Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, um der zunehmenden An-
zahl von älter werdenden Menschen mit Behinderungen ambulant betreutes
Wohnen zu ermöglichen?
Wie beurteilt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Notwen-
digkeit, auf die besonderen Bedürfnisse dieser Personengruppe einzugehen
(z. B. tagesstrukturierende Angebote auch im betreuten Wohnen)?

28. Welche Maßnahmen hält die Bundesregierung für sinnvoll, um eine er-
gebnisorientierte, möglichst bundesweit einheitliche und effiziente Quali-
tätskontrolle der ambulanten Dienstleistungen zu gewährleisten?
Plant die Bundesregierung, das Instrument der Hilfeplankonferenz flächen-
deckend einzuführen?

29. Sieht die Bundesregierung im persönlichen Budget eineMöglichkeit, ambu-
lante Strukturen zu fördern?
Durch welche Maßnahmen soll sichergestellt werden, dass auch Menschen
mit hohem Unterstützungsbedarf bei der Nutzung und der fortlaufenden
Organisation des persönlichen Budgets diese Unterstützung tatsächlich er-
halten?

Berlin, den 8. März 2005
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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