BT-Drucksache 15/5025

Wachstum in Deutschland und Europa stärken - Neue Strategien für Lissabon-Ziele entwickeln

Vom 8. März 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/5025
15. Wahlperiode 08. 03. 2005

Antrag
der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl,
Alexander Dobrindt, Veronika Bellmann, Dr. Rolf Bietmann, Wolfgang Börnsen
(Bönstrup), Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), Erich G. Fritz, Dr. Michael Fuchs,
Hans-Joachim Fuchtel, Dr. Reinhard Göhner, Ernst Hinsken, Robert Hochbaum,
Volker Kauder, Michael Kretschmer, Dr. Martina Krogmann, Dr. Hermann Kues,
Wolfgang Meckelburg, Friedrich Merz, Laurenz Meyer (Hamm), Dr. Georg Nüßlein,
Dr. Joachim Pfeiffer, Hans-Peter Repnik, Dr. Heinz Riesenhuber, Franz Romer,
Kurt J. Rossmanith, Hartmut Schauerte, Johannes Singhammer, Matthäus Strebl
und der Fraktion der CDU/CSU

Wachstum in Deutschland und Europa stärken – Neue Strategie für Lissabon-
Ziele entwickeln

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Das Ziel der im Jahr 2000 verabschiedeten Lissabon-Strategie, Europa bis 2010
zum wettbewerbsfähigsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu ma-
chen, ist nicht mehr zu realisieren. Diese Einschätzung wird sowohl von Vertre-
tern der aus dem Amt geschiedenen als auch der neuen Kommission geteilt und
von den meisten Berichten bestätigt, die im Vorfeld des Europäischen Rates am
22./23. März 2005 zur Halbzeitüberprüfung des Lissabon-Prozesses veröffent-
licht worden sind. Die überladene Agenda, miteinander konfligierende Prioritä-
ten und unüberschaubare Strukturen der Lissabon-Strategie sowie vor allem
fehlender politischer Wille in den Mitgliedstaaten sind nach Auffassung der Ex-
pertenkommission um den ehemaligen niederländischen Ministerpräsidenten
Wim Kok für diese ernüchternde Bilanz verantwortlich.
Die neue Kommission unter Präsident José Manuel Barroso hat am 2. Februar
2005 mit einem neuen Entwurf der Lissabon-Strategie der Auffassung Nach-
druck verliehen, dass ungeachtet des Zeitrahmens an dem übergeordneten Lis-
sabon-Ziel festzuhalten ist. Sie plädiert dafür, die Ziele Wachstum und Arbeits-
plätze in das Zentrum einer neuorientierten Lissabon-Strategie zu stellen. Die
Europäische Kommission hat damit richtige Konsequenzen aus dem Scheitern
der bisher verfolgten Strategie gezogen. Es liegt nun am Europäischen Rat,
seinerseits Konsequenzen zu ziehen und dem Lissabon-Prozess neuen Schwung
zu verleihen.
In den vergangen fünf Jahren ist in Europa kein Aufholprozess gegenüber ande-
ren Wirtschaftsräumen wie den USA zu verzeichnen gewesen, sondern die EU
hat im internationalen Vergleich nicht Schritt halten können. Diese Tatsache
lässt sich sowohl an den wenigen quantitativen Zielen als auch an den unzähli-
gen Vorgaben ablesen, die bisher mit der Lissabon-Strategie verknüpft worden

Drucksache 15/5025 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

sind. Das Verfehlen des Beschäftigungsziels, allenfalls bescheidene Wachs-
tumsraten der Wirtschaft und die Verlangsamung des Produktivitätswachstums
sind klare Indizien einer zu geringen Teilhabe Europas an der positiven globa-
len Konjunkturentwicklung.
So lag beispielsweise im Jahr 2003 im Europa der 25 das Pro-Kopf-BIP (BIP:
Bruttoinlandsprodukt) bei 91,2 Prozent (EU-15 = 100), während die USA einen
Wert von 140,3 Prozent aufwiesen. Die zu geringenWachstumsraten in den EU-
Mitgliedstaaten und folglich in der EU als Ganzes sind – nicht nur verglichenmit
den aufstrebendenWirtschaftsräumenChina und Indien – der eigentlich alarmie-
rende Faktor. Deutschland müsste mit einem Anteil von ca. 26 Prozent am BIP
der EU-25 zu einerwesentlich besserenBilanz beitragen. Stattdessen hat es einen
Hauptanteil an der schlechten Entwicklung zu verantworten.
Ferner hat die Integration des europäischen Binnenmarktes an Geschwindigkeit
verloren und die Marktöffnung z. B. der netzgebundenen Industrien ist ins
Stocken geraten. Nach Auffassung aller Berichte ist es nach fünf Jahren nicht
gelungen, die Vorteile des wissensbasierten Europas zur Steigerung der Wett-
bewerbsfähigkeit zu nutzen. Bildung, Forschung und Entwicklung haben im-
mer noch einen zu geringen Stellenwert. Die vorhandene Infrastruktur wird den
gewachsenen Anforderungen des Binnenmarktes und des globalen Handels
nicht mehr gerecht.
Das Zurückfallen im direkten Vergleich zu Asien und den USA deutet darauf-
hin, dass die Defizite Europas struktureller Natur sind. Die Herausforderungen
der Erweiterung und der demographische Wandel spiegeln sich nur ansatzweise
in den bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung wider.
Die Gründe hinter dieser ernüchternden Bestandsaufnahme sind nicht primär
auf europäischer Ebene, sondern vor allem in den Mitgliedstaaten selbst zu
suchen. Deutschland nimmt hierbei eine unrühmliche Rolle ein, da es als größte
Volkswirtschaft der Gemeinschaft nicht als Wachstumsmotor und Impulsgeber
agiert. Im Gegenteil belegen die Zahlen, dass Deutschland das Wachstum in der
Euro-Zone ausbremst. Im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit wurde in den
vergangenen Jahren wichtige Zeit vertan.
Die strukturellen Vorteile Deutschlands können die hohen Arbeitskosten immer
weniger kompensieren. Die Belastung für Unternehmen durch Steuern und
administrative Hemmnisse ist im internationalen Vergleich zu hoch. Die deut-
schen Sozialsysteme müssen der demographischen Entwicklung angepasst wer-
den. Die Ausgaben für Bildung und Forschung bleiben hinter den vereinbarten
Zielen zurück und haben eine zu geringe Ausstrahlung auf die Wirtschaft. For-
schung als Aspekt der Rohstoffsicherung und Energiediversifizierung wurde
insbesondere im außenpolitischen Kontext nicht hinreichend berücksichtigt.
Die Vollendung des Binnenmarktes ist in den Bereichen Energie, Verkehr und
Kapital von der Bundesregierung nur unzureichend verfolgt und umgesetzt
worden. Energiepolitik wird nicht als Standort- und Wirtschaftspolitik verstan-
den, was zu einer industriefeindlichen Belastung des Faktors Energie durch
eine Kombination aus Steuern und Abgaben geführt hat.
Die Bedeutung Deutschlands als Transitland hat durch die EU-Erweiterung
stark zugenommen. Bisher wurden die damit verbundenen neuen Anforderun-
gen an die Verkehrsinfrastruktur ebenso wie die sich neu ergebenden Chancen
sträflich vernachlässigt. Die bürokratischen Anforderungen an unternehmeri-
sche Tätigkeit sind immer noch nicht auf das notwendige Minimum beschränkt.
Die Beseitigung von Verwaltungshemmnissen ist nicht Selbstzweck, sondern
bedeutet konkrete Kosteneinsparungen.
Der Deutsche Bundestag ist der Auffassung, dass an dem übergeordneten
Lissabon-Ziel einer gesteigerten Wettbewerbsfähigkeit unbedingt festgehalten

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/5025

werden sollte. Die Strategie zur Erreichung dieses Ziels sollte aber überarbeitet
und schlanker gestaltet werden. Die beiden zentralen Ziele der neugefassten
Lissabon-Strategie müssen Wachstum und Arbeitsplätze sein. Diese Ziele dür-
fen nicht erneut durch eine Vielzahl von Nebenzielen verwässert werden. Die
europäischen Gesetzesvorhaben der vergangenen fünf Jahre waren nicht von
einer Ausrichtung an hinreichendem Wirtschaftswachstum, sondern von dem
Trugschluss geprägt, dass sich Wettbewerbsfähigkeit automatisch einstellt.
Erst eine wachstumsfördernde und Arbeitsplätze schaffende Wirtschaftspolitik
liefert die Grundlagen für eine zukunftsfähige und damit nachhaltige Sozial-
und Umweltpolitik. Hierzu gehört auch die Nachhaltigkeit der öffentlichen
Finanzen. Ein Aufweichen des Wachstums- und Stabilitätspaktes aufgrund
einer inhaltlichen Verknüpfung mit der Lissabon-Strategie ist deshalb entschie-
den abzulehnen.
Der Wettbewerb der globalen Wirtschaftsräume stellt sich zunehmend als Inno-
vationswettbewerb dar. Es ist deshalb dringend geboten, Innovation und Wissen
als die Kernelemente für mehr Arbeitsplätze und Wachstum in Europa einzu-
stufen. An dieser Vorgabe haben sich alle Politiken der europäischen Union zu
orientieren. Unflexible Regulierungen und administrative Belastungen, die
nicht den europäischen Standort stärken, sondern außereuropäischen Wett-
bewerbern einen Innovationsvorsprung und Wettbewerbsvorteil verschaffen,
wie es zum Beispiel im Falle der Neuordnung des Chemikalienrechtes durch
REACH vorgesehen ist, sind zu vermeiden beziehungsweise abzuschaffen.
Der im Beschluss von Barcelona vereinbarte Anstieg der Ausgaben für For-
schung und Entwicklung auf 3 Prozent des BIP muss unverzüglich umgesetzt
werden.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. sich auf dem Europäischen Rat am 22./23. März 2005 für eine Überarbei-

tung der Lissabon-Strategie auf der Basis der Vorschläge der Europäischen
Kommission vom 2. Februar 2005 einzusetzen;

2. sich dafür einzusetzen, dass die EU an dem Ziel, den Anteil von Forschung
und Entwicklung am BIP der Europäischen Union auf 3 Prozent bis 2010 zu
steigern, festhält;

3. sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene Wachstum und
Arbeitsplätze in das Zentrum der Lissabon-Strategie zu stellen;

4. jedem Vorhaben, das sich gegen die Wettbewerbsfähigkeit und somit gegen
das Wachstum in Europa richtet, zum frühstmöglichen Zeitpunkt entgegen-
zutreten; europäische Gesetzes- und Richtlinienentwürfe sind dahin gehend
zu überprüfen, ob sie Elemente von Überreglementierung und Erstarrung
beinhalten;

5. in denKernbereichenWirtschaft und Soziales ihrer nationalenVerantwortung
nachzukommen und ihre Aufgabe nicht in der reinen Umsetzung oder gar
wachstumshemmenden Übererfüllung europäischer Richtlinien zu suchen;

6. auf deutscher Ebene eine auf das Lissabon-Ziel ausgerichtete nationale Stra-
tegie vorzulegen, die der beschäftigungswirksamen Wachstumsförderung
eindeutige Priorität einräumt und über bisherige Reformvorhaben hinaus-
geht;
im Rahmen dieser nationalen Strategie sollten die folgenden Maßnahmen
zur Schaffung von mehr Wachstum und Arbeitsplätzen umgesetzt werden:
– Entlastung des Produktionsfaktors Arbeit von Kostennachteilen durch

Senkung der Lohnzusatzkosten, insbesondere durch Reform der Sozial-
systeme;

Drucksache 15/5025 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
– Reform des Steuersystems mit dem Ziel der Vereinfachung und der Sen-
kung von Steuersätzen bei gleichzeitiger Abschaffung von Ausnahmen,
damit die Unternehmen wieder die Möglichkeit haben zu investieren und
die Menschen die Belastung wieder verstehen und akzeptieren; im
Rahmen der Steuerreform ist die Gewerbesteuer in die Einkommen- und
Körperschaftsteuer zu integrieren;

– Schaffung eines verlässlichen Finanzrahmens für Forschung und Hoch-
schulen unter Einhaltung bestehender Kompetenzen;

– Schaffung von Anreizen in Bildungs- und Forschungsmärkten;
– Förderung der Wissensgesellschaft in Wachstumsmärkten wie z. B. Ver-

kehrs- und Logistiksysteme, Medizintechnik sowie Luft- und Raumfahrt-
technik;

– Vermeidung von Überreglementierung wichtiger Wachstumsbranchen
(Biotechnologie, Chemie und Pharmazie);

– preiswerte Nutzbarmachung von Energie unter Berücksichtigung aller
effizienten Energieträger und Herstellung der Netzwerkvoraussetzungen
für einen grenzübergreifenden Wettbewerb im Energiebereich;

– Verbesserung der Effizienz und Preisstruktur des Personen- und Güter-
verkehrs durch mehr Wettbewerb im Schienenverkehr;

– Beseitigung von Infrastrukturengpässen, insbesondere im Hinblick auf
Industrie und Mittelstand;

– Abbau von Überregulierung und Bürokratie;
– Umgestaltung des Bundeshaushaltes zur Erreichung der Lissabon-Zielvor-

gabe, 3 Prozent des BIP für Forschung und Entwicklung aufzuwenden.

Berlin, den 8. März 2005
Kurt-Dieter Grill
Karl-Josef Laumann
Dagmar Wöhrl
Alexander Dobrindt
Veronika Bellmann
Dr. Rolf Bietmann
Wolfgang Börnsen (Bönstrup)
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Reinhard Göhner
Ernst Hinsken
Robert Hochbaum
Volker Kauder

Michael Kretschmer
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Wolfgang Meckelburg
Friedrich Merz
Laurenz Meyer (Hamm)
Dr. Georg Nüßlein
Dr. Joachim Pfeiffer
Hans-Peter Repnik
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Kurt J. Rossmanith
Hartmut Schauerte
Johannes Singhammer
Matthäus Strebl
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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