BT-Drucksache 15/4927

Teilhabe von Menschen mit Behinderung am öffentlichen Leben konsequent sichern

Vom 22. Februar 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/4927
15. Wahlperiode 22. 02. 2005

Antrag
der Abgeordneten Antje Blumenthal, Hubert Hüppe, Andreas Storm, Annette
Widmann-Mauz, Dr. Wolf Bauer, Monika Brüning, Verena Butalikakis, Maria
Eichhorn, Dr. Hans Georg Faust, Ingrid Fischbach, Markus Grübel, Michael
Hennrich, Ernst Hinsken, Volker Kauder, Gerlinde Kaupa, Gunther Krichbaum,
Barbara Lanzinger, Werner Lensing, Maria Michalk, Hildegard Müller, Michaela
Noll, Rita Pawelski, Dr. Norbert Röttgen, Kurt J. Rossmanith, Horst Seehofer,
Matthias Sehling, Jens Spahn, Max Straubinger, Gerald Weiß (Groß-Gerau),
Wolfgang Zöller und der Fraktion der CDU/CSU

Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am öffentlichen Leben konsequent
sichern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Der Deutsche Bundestag ist bestrebt, die Benachteiligung von Menschen mit
Behinderung zu verhindern und zu beseitigen sowie die gleichberechtigte Teil-
habe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten
und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen. Schon seit
mehreren Jahrzehnten arbeiten Politik und Interessenvertretungen behinderter
Menschen daran, die Möglichkeiten zu einer soweit wie möglich eigenständi-
gen Lebensführung und zum unabhängigen Bewegen im öffentlichen Raum zu
verbessern. Blinde Menschen können zum Beispiel Orientierungs- und Mobili-
tätstraining in Anspruch nehmen.
Durch die Herstellung von Barrierefreiheit soll erreicht werden, dass die Wege
beispielsweise zum Arbeitsplatz, zur Schule oder zur Universität eigenständig
und ohne fremde Hilfe bewältigt werden können. Dazu gehören auch alle Wege
und Techniken, die zur eigenständigen Lebensführung notwendig sind, wie
etwa Parkerleichterungen, die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder die
Möglichkeit, sich in unbekannten Umgebungen zu orientieren oder Assistenz in
Anspruch zu nehmen. Die geschaffenen Möglichkeiten verfolgen das Ziel, auch
ohne eine Begleitperson so weit als möglich am öffentlichen Leben teilhaben
zu können.
Die Schwerbehindertenausweisverordnung sieht vor, dass schwer behinderte
Menschen, die das Recht auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Perso-
nenverkehr in Anspruch nehmen können, über einen Schwerbehindertenaus-
weis verfügen, bei dem auf der Vorderseite unter den gegebenen Umständen
das Merkzeichen „B“ und der Satz „Die Notwendigkeit ständiger Begleitung ist
nachgewiesen“ aufgedruckt sind.

Drucksache 15/4927 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Der Satz „Die Notwendigkeit ständiger Begleitung ist nachgewiesen“ steht so-
wohl im Widerspruch zu den Zielen des Gesetzes zur Gleichstellung behinder-
ter Menschen als auch zu den oben angeführten Bestrebungen, die eigen-
ständige Lebensführung von Menschen mit Behinderung so weit wie möglich
zu fördern, deutet er doch die Notwendigkeit im Gegensatz zum Recht an,
Begleitpersonen – insbesondere im öffentlichen Nahverkehr – mitzuführen.
Schwerer wiegt, dass die derzeit geltende Formulierung Erfahrungsberichten
Betroffener zufolge zu Missverständnissen derart führt, dass Betroffenen ohne
Begleitperson die Beförderung in öffentlichen Verkehrsmitteln oder der Zutritt
zu Veranstaltungen zum Teil verwehrt wird. Diese Missverständnisse resultie-
ren aus den Befürchtungen des Fahrpersonals oder anderer Verantwortlicher,
für mögliche Unfälle im Falle einer fehlenden Begleitperson haftbar gemacht
zu werden.
Durch die derzeit geltende Formulierung entsteht somit fälschlicherweise der
Eindruck, dass in jedem Fall eine Begleitung erforderlich ist. Dies widerspricht
jedoch der gängigen Rechtsauffassung, dass bei nachweislichem Bedarf ständi-
ger Begleitung eine Begleitperson zwar regelmäßig, aber nicht immer erforder-
lich ist.
Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Schwerbehindertenrechts, der die Teil-
habe von Menschen mit Behinderung am öffentlichen Leben sichern soll, be-
steht in der Gewährung von Parkerleichterungen gemäß § 46 Abs. 1 Nr. 11
StVO.
Diese Parkerleichterungen können nach der bisherigen Rechtslage, die im
zweiten Teil des Sozialgesetzbuchs IX (SGB IX) festgeschrieben ist, Schwer-
behinderten mit außergewöhnlicher Gehbehinderung (Merkzeichen „aG“ im
Schwerbehindertenausweis) sowie Blinden (Merkzeichen „Bl“) im Sinne der
Schwerbehindertenausweisverordnung gewährt werden. Das gilt zum Beispiel
für Querschnittsgelähmte oder Doppeloberschenkelamputierte. In der Vergan-
genheit wurde wiederholt gefordert, die Parkerleichterungen allen Schwerbe-
hinderten mit dem Merkzeichen „G“ zu gewähren. Dies hätte jedoch eine Stei-
gerung der Anzahl der Berechtigten in so großem Umfang zur Folge, dass da-
mit die bestehende Regelung, die gerade den Behinderten zugute kommen soll,
deren Gehvermögen auf das Schwerste eingeschränkt ist, praktisch wertlos
würde.
Es sollen aber Schwerbehinderte, bei denen die gesundheitlichen Voraussetzun-
gen für die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ nicht vorliegen, unter be-
stimmten festgelegten Kriterien ebenfalls Parkerleichterungen gemäß § 46
Abs. 1 Nr. 11 StVO in Anspruch nehmen dürfen. Insbesondere die Gruppe der
Ohnarmer als Contergangeschädigte, die nur auf ihre Füße als Greif- und Geh-
werkzeuge angewiesen sind, sollen in den Katalog für den Anspruch auf Par-
kerleichterung aufgenommen werden können.
Auf Länderebene hat das Bayerische Staatministerium für Arbeit und Sozial-
ordnung, Familie, Frauen und Gesundheit bereits im Jahr 2000 Kriterien fest-
gelegt, die einen Personenkreis erfassen, der zwar nicht die Voraussetzungen
für das Merkzeichen „aG“ nach dem Schwerbehindertenrecht erfüllt, auf Grund
der Schwere der Behinderung diesem Personenkreis bezüglich der Notwendig-
keit von Parkerleichterungen jedoch gleichzusetzen ist. Auch Hessen und
Niedersachsen sehen seit 2000 beziehungsweise 2001 über den Vollzug der
Straßenverkehrsordnung (StVO) ähnliche Ausnahmegenehmigungen für be-
sondere Gruppen schwer behinderter Menschen zur Inanspruchnahme von
Parkerleichterungen vor.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/4927

Hierbei handelt es sich um Abweichungen von bundesrechtlichen Regelungen,
wodurch die Ausnahmegenehmigungen in Bayern und Niedersachsen nur im
Bundesland selbst gültig sind. In Hessen erweitern Sondervereinbarungen mit
angrenzenden Bundesländern die Gültigkeit.
Eine bundeseinheitliche Regelung über die Änderung des Schwerbehinderten-
rechts in Verbindung mit dem Straßenverkehrsrecht durch festgelegte Kriterien,
die Parkerleichterungen für bestimmte Gruppen von Behinderten vergleichbar
der Anwendung des Merkzeichens „aG“ schaffen, ist deshalb dringend erfor-
derlich. Um den Kreis der Berechtigten für die Nutzung von Sonderparkflächen
nicht über deren Kapazität zu erweitern, sollte für die oben angesprochenen
Personen nur die Gewährung von Parkerleichterungen gemäß § 46 Abs. 1
Nr. 11 StVO angestrebt werden. Die Nutzung von Sonderparkflächen und die
dafür notwendige Ausstellung eines Parksonderausweises sollte auch weiterhin
Personen vorbehalten bleiben, in deren Schwerbehindertenausweis das Merk-
zeichen „aG“ oder „Bl“ eingetragen ist.

II. Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf,
1. in § 3 Abs. 2 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung den Satz „Die

Notwendigkeit ständiger Begleitung ist nachgewiesen“ durch eine Formulie-
rung zu ersetzen, die das mit dem Merkzeichen „B“ einhergehende Recht
auf eine Begleitperson im Gegensatz zur Pflicht bzw. Notwendigkeit ver-
deutlicht;

2. für die nachfolgenden Personenkreise sind über den Personenkreis der Men-
schen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung hinaus unter den dargestell-
ten Voraussetzungen Parkerleichterungen gemäß § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO,
analog zum Merkmal aG, jedoch ohne Ausstellung eines Parksonderauswei-
ses, der zum Parken auf den Parkplätzen mit dem Rollstuhlfahrersymbol be-
rechtigt, zu gewähren:
a) Schwerbehinderten Personen, denen ein Grad der Behinderung von

wenigstens 80 allein in Folge von Funktionsstörungen der unteren Glied-
maßen und/oder der Lendenwirbelsäule und die Merkzeichen „G“ (er-
heblich gehbehindert) und „B“ (Notwendigkeit ständiger Begleitung) be-
scheinigt wurde;
oder
Personen, denen ein Grad der Behinderung von wenigstens 70 allein in-
folge von Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Len-
denwirbelsäule und gleichzeitig ein Grad der Behinderung von wenigs-
tens 50 infolge von Funktionsstörungen des Herzens, der Lunge oder des
Nervensystems und das Merkzeichen „G“ bescheinigt wurde;

b) Personen mit Verlust eines Armes im Oberarm oder einer vergleichbaren
Schädigung der oberen Gliedmaßen und einem Grad der Behinderung
von wenigstens 70, darin eingeschlossen sind insbesondere Ohnarmer,
denen das Merkzeichen „G“ bescheinigt wurde, wie Contergangeschä-
digte und Unfallopfer. (Diese Personengruppe sollte insbesondere des-
halb berücksichtigt werden, weil diese Menschen Autotüren oft nur mit
den Beinen und damit vergleichsweise ungezielt – was daneben stehende
Autos und deren Beschädigungen angeht – öffnen können. Gleichzeitig
ist Menschen mit den beschriebenen Beeinträchtigungen das Tragen vor
allem schwererer Einkaufgüter über längere Strecken nur sehr einge-
schränkt möglich. Damit scheiden übliche öffentliche Parkplätze in der
Regel aus.);

Drucksache 15/4927 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
c) Stomaträgern mit doppeltem Stoma (künstlicher Darmausgang und
künstliche Harnableitung) und einem hierfür festgestellten Grad der Be-
hinderung von wenigstens 70;

d) Morbus-Crohn-Kranken und Colitis-Ulcerosa-Kranke mit einem hierfür
festgestellten Grad der Behinderung von wenigstens 60.

Berlin, den 22. Februar 2005
Antje Blumenthal
Hubert Hüppe
Andreas Storm
Annette Widmann-Mauz
Dr. Wolf Bauer
Monika Brüning
Verena Butalikakis
Maria Eichhorn
Dr. Hans Georg Faust
Ingrid Fischbach
Markus Grübel
Michael Hennrich
Ernst Hinsken
Volker Kauder
Gerlinde Kaupa
Gunther Krichbaum
Barbara Lanzinger
Werner Lensing
Maria Michalk
Hildegard Müller
Michaela Noll
Rita Pawelski
Dr. Norbert Röttgen
Kurt J. Rossmanith
Horst Seehofer
Matthias Sehling
Jens Spahn
Max Straubinger
Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Wolfgang Zöller
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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