BT-Drucksache 15/4925

Entwurf eines Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union

Vom 22. Februar 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/4925
15. Wahlperiode 22. 02. 2005

Gesetzentwurf
der Abgeordneten Michael Roth (Heringen), Günter Gloser, Dr. Angelica
Schwall-Düren, Dr. Lale Akgün, Kurt Bodewig, Martin Dörmann, Rainer Fornahl,
Lothar Ibrügger, Lars Klingbeil, Dietmar Nietan, Axel Schäfer (Bochum), Wilhelm
Schmidt (Salzgitter), Ottmar Schreiner, Dr. Martin Schwanholz, Hans-Jürgen Uhl,
Jörg Vogelsänger, Franz Müntefering und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Rainder Steenblock, Volker Beck (Köln), Ulrike Höfken,
Marianne Tritz, Katrin Göring-Eckhardt, Krista Sager und der Fraktion BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN

Entwurf eines Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des
Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union

A. Problem und Ziel
Der Vertrag über eine Verfassung für Europa vertieft die europäische Integration
und sichert die Zukunft der Europäischen Union. Erst die EU-Verfassung macht
die erweiterte Europäische Union durch gestärkte Institutionen und verbesserte
Entscheidungsverfahren wirklich handlungsfähig. Sie festigt den Grundrechts-
schutz durch die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtscharta. Sie stärkt die
Rechte des Europäischen Parlaments und gibt den nationalen Parlamenten über
die innerstaatlichen Regelungen hinaus erstmalig direkte Mitwirkungsmöglich-
keiten. Für die Wahrnehmung dieser aus der europäischen Verfassung erwach-
senden Rechte der nationalen Parlamente bei der Subsidiaritätskontrolle sowie
bei institutionellen Entscheidungen müssen die innerstaatlichen Voraussetzun-
gen geschaffen werden.

B. Lösung
Erlass eines Gesetzes, das die Modalitäten der Ausübung dieser Rechte durch
den Deutschen Bundestag und durch den im Rahmen des Vertrags über eine
Verfassung für Europa als Kammer eines nationalen Parlaments anzusehenden
Bundesrat zum Gegenstand hat.

C. Alternativen
Keine

D. Kosten
Keine

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/4925

Entwurf eines Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des
Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union

Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das
folgende Gesetz beschlossen:

Artikel 1
Gesetz über die Ausübung der Rechte des
Bundestages und des Bundesrates aus dem
Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine

Verfassung für Europa
§ 1

Unionsdokumente
Bundestag und Bundesrat regeln in ihren Geschäftsord-

nungen, wie die ihnen nach Artikel 1 und 2 des Protokolls
zum Vertrag über eine Verfassung für Europa über die Rolle
der nationalen Parlamente in der Europäischen Union (Fund-
stelle des Zustimmungsgesetzes zum Vertrag über eine Ver-
fassung für Europa) zugeleiteten Dokumente zu behandeln
sind.

§ 2
Subsidiaritätsrüge

(1) Bundestag und Bundesrat regeln in ihren Geschäfts-
ordnungen, wie eine Entscheidung über die Abgabe einer be-
gründeten Stellungnahme gemäß Artikel 6 des Protokolls
zum Vertrag über eine Verfassung für Europa über die An-
wendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhält-
nismäßigkeit herbeizuführen ist.

(2) Ist eine begründete Stellungnahme beschlossen wor-
den, so übermittelt der Präsident des Bundestages bezie-
hungsweise des Bundesrates diese an die Präsidenten des
Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission
und setzt darüber die Bundesregierung in Kenntnis.

(3) Die Bundesregierung übermittelt dem Bundestag und
dem Bundesrat zu Entwürfen von Gesetzgebungsakten der
Europäischen Union, die nach Artikel 2 des Protokolls zum
Vertrag über eine Verfassung für Europa über die Rolle der
nationalen Parlamente in der Europäischen Union dem
BundestagunddemBundesrat zugeleitetwerden, jeweils eine
ausführliche Unterrichtung frühestmöglich nach Beginn der
6-Wochen-Frist nach Artikel 6 Abs. 1 des Protokolls zum
Vertrag über eineVerfassung für Europa über dieAnwendung
der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßig-
keit. Diese Unterrichtung umfasst alle erforderlichen Infor-
mationen zur Bewertung des Entwurfs hinsichtlich seiner
Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Subsidiarität nach Ar-
tikel I-11 Abs. 3 des Vertrags über eine Verfassung für Euro-
pa. Einzelheiten der Unterrichtungen bleiben der Vereinba-
rung zwischen Bundregierung und Bundestag nach Artikel 6
des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschen Bundestag in Angelegenheiten der Europäi-
schen Union beziehungsweise der Vereinbarung zwischen
Bundesregierung und den Ländern nach Artikel 9 des Ge-
setzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in
Angelegenheiten der Europäischen Union vorbehalten.

§ 3
Subsidiaritätsklage

(1) Bundestag und Bundesrat regeln in ihren Geschäfts-
ordnungen, wie ein Beschluss von Bundestag oder Bundes-
rat über die Erhebung einer Klage nach Artikel 8 des Proto-
kolls zum Vertrag über eine Verfassung für Europa über die
Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit
herbeizuführen ist.

(2) Die Bundesregierung übermittelt die Klage im Namen
des Organs, das über ihre Erhebung nach Absatz 1 beschlos-
sen hat, an den Gerichtshof der Europäischen Union.

(3) Bei Klagen nach Absatz 1 übernimmt das Organ, das
die Erhebung beschlossen hat, die Prozessführung vor dem
Europäischen Gerichtshof.

(4) Die Bundesregierung kann mit ihrem Einverständnis
an der Prozessführung beteiligt werden.

§ 4
Brückenklausel

(1) Zu einer Initiative des Europäischen Rates zum Über-
gang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit für
die Beschlussfassung im Rat nach Artikel IV-444 Abs. 1 des
Vertrags über eineVerfassung für Europa oder zumÜbergang
von einem besonderen Gesetzgebungsverfahren zu dem or-
dentlichen Gesetzgebungsverfahren gemäß Artikel IV-444
Abs. 2 des Vertrags über eine Verfassung für Europa müssen
innerhalb von sechs Monaten nach der Übermittlung dieser
Initiative Bundestag und Bundesrat eine Beschlussfassung
herbeiführen.Die Initiativewird abgelehnt,wennesderDeut-
sche Bundestag mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen
und der Bundesratmit derMehrheit seiner Stimmen beschlie-
ßen.DieBeschlussfassung hierzu regelnBundestag undBun-
desrat in ihren Geschäftsordnungen.

(2) Die Präsidenten des Bundestages und des Bundesrates
übermitteln gemeinsam einen nach Absatz 1 zustande ge-
kommenen Beschluss an die Präsidenten des Europäischen
Parlaments und des Europäischen Rates und setzen darüber
die Bundesregierung in Kenntnis.

(3) Die Bundesregierung unterrichtet Bundestag und Bun-
desrat, ob zu einer Initiative nach Absatz 1 eine Zustimmung
des Europäischen Parlaments erfolgt ist und ob zu ihr ein Be-
schluss des Europäischen Rates zustande gekommen ist.

Artikel 2
Änderungen anderer Gesetze

(1) Das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesre-
gierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union in der Fassung der Bekanntmachung
vom 12. März 1993 (BGBl. I S. 311) wird wie folgt geändert:

Drucksache 15/4925 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

1. § 4 wird wie folgt geändert:
a) Satz 1 wird wie folgt gefasst:

„Die Bundesregierung übersendet dem Deutschen
Bundestag insbesondere die Vorschläge, Initiativen
oder Anträge für Rechtsakte der Europäischen Union
und unterrichtet den Deutschen Bundestag zugleich
über den wesentlichen Inhalt und die Zielsetzung,
über das beim Erlass des geplanten Rechtsaktes inner-
halb der Europäischen Union anzuwendende Verfah-
ren und den voraussichtlichen Zeitpunkt der Befas-
sung des Rates oder des Europäischen Rates,
insbesondere den voraussichtlichen Zeitpunkt der Be-
schlussfassung im Rat oder im Europäischen Rat.“

b) Nach Satz 1 werden folgende Sätze eingefügt:
„Der Deutsche Bundestag kann auf die Übersendung
von oder Unterrichtung zu einzelnen oder Gruppen
von Vorschlägen, Initiativen oder Anträgen für
Rechtsakte verzichten. Der Verzicht kann nicht gegen
den Widerspruch einer Fraktion oder fünf Prozent der
Mitglieder des Bundestages erklärt werden.“

2. § 6 wird wie folgt gefasst:
㤠6

Bundesregierung-Bundestag-Vereinbarung
Einzelheiten der Unterrichtung und Beteiligung des

Deutschen Bundestages nach diesem Gesetz sowie nach
dem Gesetz über die Ausübung der Rechte des Bundesta-
ges und des Bundesrates aus dem Vertrag vom 29. Okto-
ber 2004 über eine Verfassung für Europa vom… [einset-
zen: Datum und Fundstelle des Gesetzes nach Artikel 1]
bleiben einer Vereinbarung zwischen Bundesregierung
und Bundestag vorbehalten.“
(2) In § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von

Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen
Union vom 12. März 1993 (BGBl. I S. 313, 1780) werden
nach demWort „Gesetz“ dieWörter „sowie nach demGesetz
über die Ausübung der Rechte des Bundestages und des
Bundesrates aus dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über
eine Verfassung für Europa vom … [einsetzen: Datum und
Fundstelle des Gesetzes nach Artikel 1]“ eingefügt.

Artikel 3
Inkrafttreten

Dieses Gesetz tritt an dem Tag in Kraft, an dem der Ver-
trag über eine Verfassung für Europa nach seinem Artikel
IV-447 Abs. 2 für die Bundesrepublik in Kraft tritt. Dieser
Tag ist im Bundesgesetzblatt bekannt zu geben.

Berlin, den 22. Februar 2005
Franz Müntefering und Fraktion
Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und Fraktion

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/4925

Begründung

A. Allgemeiner Teil
1.

Mit dem am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichneten Ver-
trag über eine Verfassung für Europa erreicht der europäi-
sche Integrationsprozess eine qualitativ neue Stufe. Mit dem
Vertrag von Nizza wurden nur sehr bedingt die institutionel-
len Voraussetzungen für das Gelingen der Erweiterung der
Europäischen Union über 15 Mitgliedstaaten hinaus ge-
schaffen. Mit dem Vertrag über eine Verfassung für Europa
(VVE) wird dies nachgeholt. Entscheidenden Anteil daran
hatte der auf Beschluss des Europäischen Rates von Laaken
eingesetzte Europäische Konvent, der in seiner Mehrzahl
durch Parlamentarierinnen und Parlamentarier, sowohl aus
dem Europäischen Parlament wie aus den nationalen Parla-
menten, besetzt war. Der Verfassungsentwurf des Europäi-
schen Konvents war die entscheidende Grundlage, auf der
die nachfolgende Regierungskonferenz eine Einigung erzie-
len konnte. Dabei blieb der Entwurf des Konvents in seiner
Substanz ungeschmälert.

2.
Der Vertrag über eine Verfassung für Europa bringt nicht nur
erhebliche Fortschritte für die Handlungsfähigkeit der Euro-
päischen Union, für den Grundrechtsschutz sowie für ihre
Transparenz, Bürgernähe und Verständlichkeit. Sie führt
auch zu einer erheblichen Stärkung der demokratischen
Legitimität und parlamentarischen Kontrolle europäischer
Politik. Einerseits wird das Europäische Parlament deutlich
aufgewertet. Zukünftig ist das Mitentscheidungsverfahren,
bei dem es gleichwertig mit dem Rat als Gesetzgeber fun-
giert, das Regelgesetzgebungsverfahren. So weit noch be-
sondere Gesetzgebungsverfahren bestehen bleiben, sind ihre
Anwendungsbereiche im Vergleich zum Vertrag von Nizza
reduziert und die Mitwirkungsmöglichkeit des Europäischen
Parlaments vielfach ausgeweitet worden. Auch der größere
Einfluss des Europäischen Parlaments bei anderen Entschei-
dungen, etwa bei der Investitur einer neuen Kommission,
stärkt die demokratische Legitimierung der Europäischen
Union.

3.
Darüber hinaus führt der Vertrag über eine Verfassung für
Europa aber auch zu einer Stärkung der Rechte der nationa-
len Parlamente. Die Rechte von Bundestag und Bundesrat
nach Artikel 23 GG werden dadurch implizit gestärkt, dass
die mit demMaastrichter Vertrag eingeführte wenig transpa-
rente Struktur der drei Säulen aufgehoben und die Vielzahl
unterschiedlicher Rechtsakte durch die Einführung einer
Normenhierarchie reduziert wird. Die Information über das
Handeln der Bundesregierung im Rat, deren Kontrolle durch
den Deutschen Bundestag und seine Mitwirkung in EU-An-
gelegenheiten wird so erheblich erleichtert. Damit wird das
gesetzgeberische Tätigwerden der Exekutive im Entschei-
dungsgefüge der Europäischen Union noch besser demokra-
tisch abgestützt.

4.
Zusätzlich werden den nationalen Parlamenten der Mitglied-
staaten erstmals direkte Mitwirkungsmöglichkeiten inner-
halb der Europäischen Union eröffnet. Sie erhalten spezielle
Informations-, Rüge-, Klage- und Widerspruchsrechte. Nie-
dergelegt sind diese Rechte im Vertrag über eine Verfassung
für Europa selbst und in deren ersten beiden Protokollen,
dem Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in
der Europäischen Union und dem Protokoll über die
Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Ver-
hältnismäßigkeit. Diese Rechte stehen je nach Wortlaut den
nationalen Parlamenten oder ihren Kammern zu. Obwohl der
Bundesrat nach dem Grundgesetz keine Kammer ist, son-
dern ein an der Gesetzgebung auf Bundesebene mitwirken-
des Organ, ist im Zusammenhang mit Angelegenheiten der
Europäischen Union seine Behandlung wie die Kammer
eines nationalen Parlaments zulässig. Daher soll durch den
Gesetzentwurf bestimmt werden, dass jene Rechte, die den
nationalen Parlamenten eröffnet werden, gemeinsam durch
Bundestag und Bundesrat ausgeübt werden, und dass solche
Rechte, die den Kammern der nationalen Parlamenten zuge-
wiesen werden, eigenständig durch Bundestag und Bundes-
rat ausgeübt werden.

5.
Die Informations-, Rüge-, Klage- und Widerspruchsrechte
beziehen sich auf die Handlungsfelder für das Tätigwerden
der Europäischen Union und betreffen damit Rechtsgebiete,
für die es innerstaatlich eine sehr unterschiedliche Kompe-
tenzverteilung gibt. Eine vernünftige und handhabbare Auf-
teilung auf Bundestag und Bundesrat ist nicht zu leisten. Es
ist weder möglich, diese Handlungsfelder klar der Gesetzge-
bungskompetenz des Bundes oder der Länder zuzuordnen,
noch kann man nach der Zustimmungspflicht des Bundes-
rates für vergleichbare innerstaatliche Gesetzgebung auftei-
len. Daher verzichtet der vorliegende Gesetzentwurf auf den
Versuch, eine solche Differenzierung zu leisten, um die den
nationalen Parlamenten oder ihren Kammern zustehenden
Rechte aus dem EU-Verfassungsvertrag entsprechend dieser
Differenzierung je nach konkret angesprochenemGebiet aus-
schließlich oder im Schwerpunkt an Bundestag oder Bundes-
rat zu verteilen. Theoretisch denkbarwäre hier etwa, bei einer
ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Deutschen
Bundestages bei nicht vorhandener Zustimmungspflicht des
Bundesrates alle Rechte demDeutschen Bundestag zuzuord-
nen, oder in einemFalle einer reinenLänderzuständigkeit die-
se Rechte nur dem Bundesrat zuzuweisen. Praktisch ist eine
solche Aufteilung zwar vielleicht nicht völlig unmöglich,
wäre aber doch äußerst komplex, undurchschaubar und streit-
anfällig. Der Handhabbarkeit und der Klarheit der Regelung
wird hier im Interesse der gesamtstaatlichen Verantwortung
von Bundestag und Bundesrat der Vorzug gegeben. Bundes-
tag und Bundesrat agieren für jeden möglichen europäischen
Gesetzgebungsentwurf bei der Subsidiaritätsprüfung eigen-
ständig, während sie das Widerspruchsrecht im Rahmen der
Passerelle gemeinsam ausübenmüssen. Schonwegen der aus
der Organtreue erwachsenden innerstaatlichen Verpflichtung
zur vertrauensvollen Zusammenarbeit werden dabei Bundes-

Drucksache 15/4925 – 6 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

tag und Bundesrat wechselseitig auf imVerfahren angezeigte
besondere Betroffenheit Rücksicht nehmen und dies bei der
Ausübung der Rechte in ihre Entscheidungen einfließen las-
sen.

6.
Das vorgeschlagene Gesetz hat die Ausübung dieser neuen
Rechte zum Gegenstand. Da durch diese Rechte primär eine
direkte Beziehung zwischen Bundestag und Bundesrat und
der EU-Ebene etabliert wird, fallen die bestehenden Gesetze
über die Zusammenarbeit mit der Bundesregierung in Ange-
legenheiten der Europäischen Union als Regelungsort aus.
Daher wird mit Artikel 1 ein neues Gesetz über die Aus-
übung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates aus
dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für
Europa eingeführt. Artikel 2 bestimmt Folgeänderungen in
den Zusammenarbeitsgesetzen, Artikel 3 den Zeitpunkt des
Inkrafttretens.

B. Besonderer Teil
Zu Artikel 1 (Gesetz über die Ausübung der Rech-

te des Bundestages und des Bundes-
rates aus dem Vertrag vom 29. Okto-
ber 2004 über eine Verfassung für
Europa)

Zu § 1
Den nationalen Parlamenten werden durch die Protokolle
des Vertrags über eine Verfassung für Europa neue Informa-
tionsrechte eingeräumt. Diese betreffen nicht nur Entwürfe
für Europäische Gesetzgebungsakte aller vertraglich denk-
baren Initianten und die Standpunkte von Europäischem
Parlament und Rat im Gesetzgebungsverfahren, die sämtlich
den nationalen Parlamenten zuzuleiten sind. Ebenso werden
alle Konsultationsdokumente der Europäischen Kommis-
sion sowie deren jährliches Gesetzgebungsprogramm und
weitere Dokumente zur Ausarbeitung politischer Strategien
übermittelt. Damit werden die nationalen Parlamente besser
in die Lage versetzt, sowohl die gesetzgeberische Arbeit
insbesondere im Rat zu begleiten und mittelbar über ihre
Regierungen an dieser mitzuwirken als auch ihr eigenes
Vorgehen vorausschauend auf die zu erwartenden Arbeiten
auf EU-Ebene ausrichten zu können.
Den aus den Informationsrechten erwachsenden Auftrag
nimmt § 1 des vorgelegten Gesetzes auf, indem er darauf
hinweist, dass Bundestag und Bundesrat durch ihre Ge-
schäftsordnungen die Behandlung der zugeleiteten Doku-
mente zu gewährleisten haben.
Zu § 2
Den nationalen Parlamenten werden diese Dokumente nicht
nur zur mittelbaren Begleitung der Gesetzgebungsarbeit
zugeleitet. Erstmals erhalten sie eine unmittelbare Mit-
wirkungsmöglichkeit. Die Kammern der nationalen Parla-
mente haben das Recht, sowohl zu Beginn des EU-Gesetz-
gebungsprozesses als auch nach dessen Abschluss die
Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu kontrollieren. Die-
ses in Artikel I-11 VVE niedergelegte Prinzip soll sicherstel-
len, dass Entscheidungen in der EU so bürgernah wie mög-

lich getroffen werden. Die Europäische Union wird in den
Bereichen ihrer nicht-ausschließlichen Zuständigkeit nur
tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen
Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler
noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirk-
licht werden können, sondern vielmehr auf Unionsebene
besser zu verwirklichen sind. Eine Missachtung des Subsi-
diaritätsprinzips würde eigenständige Gesetzgebungsmög-
lichkeiten der nationalen Parlamente verletzten. Der Vertrag
über eine Verfassung für Europa erkennt an, dass den Parla-
menten hier eine besondere Wächterfunktion zukommt. Sie
können daher zu Beginn eines europäischen Gesetzgebungs-
verfahrens innerhalb von sechs Wochen nach Übermittlung
des entsprechenden Entwurfs gegenüber dem Präsidenten
des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommis-
sion in einer begründeten Stellungnahme darlegen, ob das
Subsidiaritätsprinzip aus ihrer Sicht eingehalten worden ist
oder nicht. Erheben mindestens ein Drittel der Kammern der
nationalen Parlamente, wobei Einkammerparlamente zwei
Stimmen haben, in begründeten Stellungnahmen Einspruch
gegen den Gesetzgebungsentwurf, so muss der Initiant die-
sen Entwurf überprüfen und kann als Ergebnis an dem Ent-
wurf festhalten, ihn ändern oder ihn zurückziehen. Dieser
Beschluss muss begründet werden.
§ 2 des vorgeschlagenen Gesetzes weist in Absatz 1 darauf
hin, dass es Aufgabe von Bundestag und Bundesrat ist, durch
ihre Geschäftsordnungen festzulegen, wie die Beschluss-
fassung zu einer begründeten Stellungnahme zu erfolgen hat.
Absatz 2 bestimmt, dass der Präsident des Bundestages be-
ziehungsweise des Bundesrates einen solchen Beschluss an
die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und
derKommissionübermittelt unddarüber dieBundesregierung
in Kenntnis setzt. Durch Absatz 3 wird der Bundesregierung
auferlegt, Bundestag und Bundesrat frühestmöglich so aus-
führlich zu unterrichten, dass diese von ihremRügerecht auch
Gebrauch machen können. Bereits jetzt besteht eine Unter-
richtungspflicht der Bundesregierung in Angelegenheiten der
Europäischen Union. Damit die Unterrichtungen auf einer
einheitlichenGrundlage erfolgenkönnen,wird inAbsatz 3 auf
die jeweiligen Vereinbarungen zwischen Bundesregierung
und Bundestag einerseits sowie Bundesregierung und Län-
dern anderseits verwiesen. Die Festlegung von Details ist
nicht angezeigt, da sich erst in der Praxis die genauen Erfor-
dernisse und Abläufe ergeben werden.
Zu § 3
Neben dem Rügerecht zu Beginn eines Gesetzgebungspro-
zesses steht den Kammern der nationalen Parlamente nach
Abschluss des Gesetzgebungsprozesses zudem die Möglich-
keit der gerichtlichen Überprüfung der Einhaltung des Sub-
sidiaritätsprinzips durch den Gerichtshof der Europäischen
Union (EuGH) offen. Auch hier ist der Gedanke, dass die
nationalen Parlamente bzw. ihre Kammern durch erlassene
EU-Gesetzgebung, die gegen das Subsidiaritätsprinzip ver-
stoßen, in eigenen Rechten verletzt werden. Da einerseits
eine begründete Stellungnahme nicht zwangsläufig zu einer
Änderung eines Gesetzgebungsentwurfs führen muss und
andererseits erst im Laufe des Verfahrens Änderungen im
Rat oder im Europäischen Parlament möglich sind, die zu
einer Verletzung des Subsidiaritätsprinzips führen, welche
zu Beginn des Verfahrens nicht absehbar war, ist die Mög-
lichkeit einer nachträglichen Überprüfung durch den EuGH

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7 – Drucksache 15/4925

vorgesehen. Auch hier erhalten die Kammern der nationalen
Parlamente und damit in Deutschland der Bundestag und
Bundesrat unmittelbar das Recht, eine Klage zu beschließen.
§ 3 des vorgeschlagenen Gesetzes weist in Absatz 1 darauf
hin, dass es Aufgabe von Bundestag und Bundesrat ist, in
ihrenGeschäftsordnungenRegelungen für dasZustandekom-
men einer Klage festzulegen. Absatz 2 legt der Bundesregie-
rung auf, eine zustande gekommene Klage im Namen des
Organs, das die Klage beschlossen hat, an den Europäischen
Gerichtshof zu übermitteln. Absatz 3 bestimmt, dass die Pro-
zessvertretung vom Organ, das die Klage beschlossen hat,
selbst übernommen wird. Absatz 4 eröffnet die Möglichkeit
der Beteiligung der Bundesregierung an der Prozessführung.
Dies kann beispielsweise dann angezeigt sein, wenn die Bun-
desregierung die Bedenken des klagenden Organs teilt.
Zu § 4
Darüber hinaus erhalten die nationalen Parlamente auch
Mitwirkungsmöglichkeiten bei institutionellen Entscheidun-
gen. Dies betrifft insbesondere die „Brückenklausel“ nach
Artikel 444 VVE. In diesem Artikel ist die Möglichkeit nie-
dergelegt, dass einerseits für Bereiche von Teil III des VVE,
in denen der Rat mit Einstimmigkeit entscheidet, zum Ent-
scheidungsverfahren mit qualifizierter Mehrheit übergegan-
gen wird, und andererseits, in den Bereichen von Teil III des
VVE, wo ein spezielles Gesetzgebungsverfahren gilt, zum
ordentlichen Gesetzgebungsverfahren übergegangen wird.
Die Initiative für einen solchen Übergang kann der Europäi-
sche Rat ergreifen. Nachfolgend werden die nationalen Par-
lamente über diese Initiative informiert. Innerhalb von sechs
Monaten nach Ergreifen der Initiative steht den nationalen
Parlamenten ein Widerspruchsrecht zu. Bereits die Ableh-
nung durch ein nationales Parlament führt dazu, dass der
Europäische Rat keinen Beschluss zur Annahme dieser Ini-
tiative erlassen kann. Ein solcher Beschluss kann nur mit
Einstimmigkeit ergehen und erfordert die Zustimmung des
Europäischen Parlaments. Der Wortlaut des Vertrags über
eine Verfassung für Europa legt eindeutig fest, dass das
Widerspruchsrecht nur den nationalen Parlamenten insge-
samt und nicht einzelnen Kammern zusteht. Daher ist hier
das Zusammenwirken von Bundestag und Bundesrat zur
Aussprache eines solchen Widerspruchs notwendig.
Mit der Ratifizierung des Amsterdamer Vertrags existiert
bereits eine sektorale Passerelle im Bereich Visa, Asyl, Ein-
wanderung und andere Politiken betreffend den freien Perso-
nenverkehr, die auch unlängst erstmals zu Anwendung ge-
kommen ist. Dabei ist der Rat gegenwärtig bei seinem
Beschluss über den Übergang vom Entscheidungsverfahren
der Einstimmigkeit bei Anhörung des Europäischen Parla-
ments zum Mitentscheidungsverfahren autonom. Das Euro-
päische Parlament wird vor dem Beschluss lediglich ange-
hört, eine direkte Beteiligung ist weder dem Europäischen
Parlament noch den nationalen Parlamenten eröffnet. Durch
die seinerzeitige Ratifikation des Amsterdamer Vertrags ha-
ben Bundestag und Bundesrat mit grundgesetzändernder
Mehrheit einer solchen Möglichkeit zugestimmt. Durch das
Widerspruchsrecht aus dem EU-Verfassungsvertrag wird die
Stellung von Bundestag und Bundesrat also im Vergleich zur
jetzigen Situation erheblich gestärkt.
Der § 4 des vorgelegten Gesetzes bestimmt in Absatz 1, dass
Bundestag und Bundesrat eine solche Initiative zu behandeln

und zu ihr eine Beschlussfassung herbeizuführen haben. Ab-
satz 2 legt fest, dass zur Aussprache des Widerspruchs ein
Beschluss mit der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages
und der Mehrheit der Stimmen des Bundesrates zu fassen ist,
wobei Näheres der Regelung durch die Geschäftsordnungen
überlassen ist. Durch die Pflicht zur Behandlung durch Bun-
destag und Bundesrat wird verhindert, dass durch absichts-
volle Nichtbehandlung die Widerspruchsfrist abläuft und so
der Übergang zugelassen wird. Zudem wird durch die Be-
schlussfassung das Abstimmungsverhalten öffentlich und
dokumentiert, womit die Positionen in Bundestag und Bun-
desrat transparent und der Rechenschaft zugänglich sind.
Absatz 3 bestimmt, dass die Präsidenten von Bundestag und
Bundesrat gemeinsam über die Beschlussfassung ihrer Häu-
ser das Europäische Parlament und den Europäischen Rat in-
formieren, da diese auf EU-Ebene über die Initiative zu ent-
scheiden haben. Zudem setzen sie die Bundesregierung über
die Beschlussfassung in Kenntnis. Durch Absatz 4 wird ver-
fügt, dass die Bundesregierung Bundestag und Bundesrat
darüber informiert, ob das Europäische Parlament seine Zu-
stimmung erteilt hat und ob die Initiative im Europäischen
Rat erfolgreich war.

Zu Artikel 2 (Änderungen anderer Gesetze)
Zu Absatz 1 (Änderung des Gesetzes über die Zusam-

menarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenhei-
ten der Europäischen Union)

Zu Nummer 1 (Änderung von § 4)
Zu Buchstabe a (Neufassung von Satz 1)
Es wird eine Anpassung an die geänderte Terminologie des
VVE vorgenommen, da die bisherigen Bezeichnungen
„Verordnungen und Richtlinien“ des EGV wegfallen. An
ihre Stelle tritt der Begriff „Rechtsakte“. Da aus Gründen der
Einheitlichkeit die Unterrichtungen auch mit Blick auf die
Subsidiaritätskontrolle und die Passerelle auf Grundlage des
Zusammenarbeitsgesetzes erfolgen soll, muss auch über den
Zeitpunkt der Befassung bzw. der Beschlussfassung im
Europäischen Rat informiert werden. Trotz des eigenstän-
digen Informationsrechts aus der EU-Verfassung kann die
Bundesregierung nicht aus der Übersendungspflicht entlas-
sen werden, schon alleine weil ihr gegenüber demDeutschen
Bundestag innerstaatlich die Einhaltung wirksam durchset-
zen kann.
Zu Buchstabe b (Einfügung eines neuen Satzes 2 und eines

neuen Satzes 3)
Bereits in der jetzigen Übersendungs- und Unterrichtungs-
praxis ist festzustellen, dass eine Vielzahl von Dokumenten
ohne Relevanz für den Deutschen Bundestag ist. Dies führt
sowohl auf Seiten der Bundesregierung wie auf der des
Deutschen Bundestages zu unnötigem Ressourceneinsatz.
Aufgrund der gegenwärtig bestehende ausnahmslosen Über-
sendungs- und Unterrichtungspflicht gibt es keine Möglich-
keit, dies zu vermeiden. Durch die Einführung einer Ver-
zichtsmöglichkeit des Deutschen Bundestages wird diese
nun eröffnet. Um auszuschließen, dass die Mehrheit im
Deutschen Bundestag die Zuleitung oder Unterrichtung von
oder zu Dokumenten verhindern könnte, die von einer
Minderheit als wichtig angesehenen wird, ist im neuen

Drucksache 15/4925 – 8 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Satz 3 bestimmt, dass der Verzicht nicht gegen den Willen
dieser Minderheit ausgesprochen werden kann.
Zu Nummer 2 (Neufassung von § 6)
Der bisherige § 6 hatte zum Zeitpunkt seines Erlasses das
Ziel, die Vorschriften des EUZBBG bezogen auf einen Arti-
kel des EWG-Vertrags vorzeitig gelten zu lassen. Er ist in-
zwischen obsolet. An seine Stelle tritt die Ermächtigung zum
Abschluss einer Vereinbarung zwischen Bundesregierung
und Bundestag, in der die Einzelheiten der Unterrichtung
und Beteiligung des Deutschen Bundestages festzulegen
sind, auch was die frühzeitige Unterrichtung im Rahmen der
Subsidiaritätsprüfung betrifft. Dadurch kann auf die – unter
Umständen sich mit der Erfahrung der Praxis ändernden –
Erfordernisse flexibel reagiert werden. Die Vereinbarung er-
laubt es zudem, die in § 4 Satz 2 neu eröffnete Möglichkeit
des Verzichts auf Übersendung oder Unterrichtung praktisch
nutzbar zu machen. In der Vereinbarung könnten etwa typi-
sierte Gruppen von Dokumenten genannt werden, zu denen
die Übersendung oder Unterrichtung entbehrlich ist.
Zu Absatz 2 (Änderung des Gesetzes über die Zusam-

menarbeit von Bund und Ländern in An-
gelegenheiten der Europäischen Union)

Zu Nummer 1 (Änderung von § 9)
Hierdurch wird erreicht, dass im Rahmen der Vereinbarung
zwischen Bundesregierung und Ländern auch die Einzel-
heiten der frühzeitigen Unterrichtung im Rahmen der Subsi-
diaritätsprüfung zu regeln sind.
Zu Artikel 3 (Inkrafttreten)
Diese Vorschrift enthält gemäß Artikel 82 Abs. 2 Satz 1 des
Grundgesetzes eine Inkrafttretungsbestimmung.
Dieses Gesetz tritt mit dem Tag des Inkrafttretens der Verfas-
sung für Europa in Kraft. Dieser Tag ist im Bundesgesetz-
blatt bekannt zu geben.

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