BT-Drucksache 15/4657

Folgerungen aus der Tsunami-Flutkatastrophe vom 26. Dezember 2004 - Deutsche Entwicklungspolitik stärken und verstetigen

Vom 18. Januar 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/4657
15. Wahlperiode 18. 01. 2005

Antrag
der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Arnold Vaatz, Hermann Gröhe, Christa
Reichard (Dresden), Dr. Ralf Brauksiepe, Klaus Brähmig, Ingrid Fischbach,
Hartwig Fischer (Göttingen), Klaus-Jürgen Hedrich, Siegfried Helias, Volker Kauder,
Rudolf Kraus, Barbara Lanzinger, Werner Lensing, Dr. Conny Mayer (Freiburg),
Maria Michalk, Hildegard Müller, Melanie Oßwald, Sibylle Pfeiffer, Anita Schäfer
(Saalstadt), PeterWeiß (Emmendingen), Rainer Eppelmann, Norbert Geis, Dr. Egon
Jüttner, Jürgen Klimke und der Fraktion der CDU/CSU

Folgerungen aus der Tsunami-Flutkatastrophe vom 26. Dezember 2004 –
Deutsche Entwicklungspolitik stärken und verstetigen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die verheerende Flut vom 26. Dezember 2004 gehört zu den schlimmsten
Naturkatastrophen der jüngeren Geschichte. Insgesamt sind 12 Länder in Süd-,
Südostasien und Afrika betroffen. Dabei sind schätzungsweise mehr als 150 000
Menschen ums Leben gekommen – davon alleine über 106 000 in Indonesien
und rund 30 000 in Sri Lanka. Mehrere Millionen Menschen wurden obdachlos
und viele Hunderttausend werden in den nächsten sechs Monaten auf interna-
tionale Nothilfe angewiesen sein. Alleine in der indonesischen Provinz Aceh
sind über 1 150 Schulen, 5 800 km Straße und 490 Brücken zerstört. Zehntau-
sende von Flüchtlingen haben sich in die Provinzhauptstadt geflüchtet in der
Hoffnung, dort mit dem Nötigsten versorgt zu werden. Während Indien und
Thailand angekündigt haben, die Nothilfe und den Wiederaufbau weitgehend in
eigener Regie durchzuführen, stehen vor allem Indonesien und Sri Lanka vor
Herausforderungen, die sie aus eigener Kraft nicht bewältigen können. Laut ers-
ter Einschätzung der Vereinten Nationen wird der Wiederaufbau bis zu 10 Jahre
dauern. Prioritäten beimWiederaufbau haben nun vor allem die Gesundheitsver-
sorgung, die Wasserversorgung, Wohnunterkünfte, materielle und soziale Infra-
struktur und natürlich der Schutz und die Betreuung der vielen betroffenen
Kinder, insbesondere der Waisen und Halbwaisen.
Neben dem unermesslichen Leid der Menschen und den großen materiellen
Schäden wird deutlich, dass auch die Umwelt in der Krisenregion stark in Mit-
leidenschaft gezogen wurde. Korallenriffe, Mangrovenwälder und Fischbe-
stände sind vielerorts ernsthaft bedroht. Zudem hat das Salzwasser die natürliche
Vegetation und landwirtschaftliche Flächen bis zu drei Kilometern landeinwärts
zerstört. Die Langzeitauswirkungen auf die Qualität des Grundwassers sind
noch nicht absehbar.
Außerdem wurde auch die Existenzgrundlage vieler kleiner und mittelstän-
discher Unternehmen zerstört, insbesondere in der Fischerei, der Landwirt-
schaft, demHandwerk, dem Einzelhandel, der Tourismuswirtschaft und in nach-

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geordneten Dienstleistungsbereichen. Auf Grund der großen Bedeutung des
Tourismus für die Volkswirtschaften einiger betroffener Länder wie Thailand
und Sri Lanka und der großen Anzahl direkt und indirekt betroffener Arbeits-
plätze in vielen Regionen sollte auch der Aufbau der touristischen Infrastruktur
bei der Unterstützung vonWiederaufbaumaßnahmen berücksichtigt werden, um
den Menschen vor Ort in absehbarer Zeit wieder eigene Einkommensmöglich-
keiten zu geben.
Das große Engagement und die schnelle Einsatzbereitschaft der vielen Hilfsor-
ganisationen und auch der Bundeswehr verdient Lob und Anerkennung. Die
große internationale Hilfs- und Spendenbereitschaft wirft ein positives Licht auf
die Globalisierung und macht deutlich, dass die Welt enger zusammenrückt.
Über 4 Mrd. US-Dollar sind bereits aus öffentlichen und privaten Kassen zu-
sammengekommen. Die Bundesregierung stellt öffentliche Mittel in Höhe von
674 Mio. US-Dollar zur Verfügung. Die Summe der privaten Spenden aus
Deutschland übersteigt bereits die 480-Millionen-US-Dollar-Grenze. Die aus-
gesprochen große Solidarität und das große Engagement privater Haushalte und
Unternehmen macht deutlich, welchen Stellenwert die deutsche Bevölkerung
der Nothilfe und der Entwicklungszusammenarbeit im weiteren Sinne einräumt.
Dies macht Mut und muss der Politik ein Ansporn sein, der Entwicklungspolitik
in Zukunft ein größeres Gewicht beizumessen.
Auch wenn weite Teile Südostasiens in den letzten beiden Jahrzehnten von einer
rasanten wirtschaftlichen Expansion geprägt waren, darf nicht vergessen wer-
den, dass sich die Region nach der verheerenden Finanzkrise von 1997 noch im-
mer in einer schwierigen Konsolidierungsphase befindet. Die Finanzkrise, die
von Thailand ausging, und die ihr folgenden Erschütterungen führten zu starker
Verunsicherung in den betroffenen Ländern und zu einer Verarmung von großen
Teilen der Bevölkerung. Insbesondere in den Schwellenländern Indonesien und
Thailand wurden tief greifende soziale, politische und wirtschaftliche Verände-
rungsprozesse ausgelöst. Wichtig für Stabilität der ganzen Region ist die weitere
Entwicklung Indonesiens, dem bevölkerungsreichsten islamischen Land der
Welt. Neben dem Wiederaufbau kommt auch der friedlichen Entwicklung aller
Landesteile, der Beendigung des seit Jahrzehnten anhaltenden Bürgerkriegs in
Aceh, der Eindämmung des islamischen Extremismus, der Konsolidierung der
Demokratie und der Bekämpfung der Korruption in Indonesien eine große Be-
deutung zu.
Im Rahmen der Globalisierung und der damit verbundenen internationalen poli-
tischen und wirtschaftlichen Verflechtung sind die Chancen und Risiken der Re-
gion auch zunehmend in Europa spürbar. Asiatische Krisen sind von überregio-
naler sicherheits- und wirtschaftspolitischer Bedeutung. Großzügige deutsche
Unterstützung für die von der Flut betroffene Region ist daher nicht nur um der
Menschen Willen notwendig, sondern entspricht auch dem eigenen europäi-
schen Interesse. Entsprechend der großen Herausforderungen darf die deutsche
Hilfe nicht kurzfristiger Natur sein. Die deutsche Unterstützung muss langfris-
tig, seriös, solide finanziert, transparent und maßgeschneidert konzipiert wer-
den. Insbesondere kommt es darauf an, durch die Koordinierung mit den betrof-
fenen Ländern, anderen Gebern und mit privaten Hilfsorganisationen die best-
mögliche und effizienteste Verwendung der deutschen Mittel sicherzustellen
und die Wiederaufbauhilfe in ein nachhaltiges entwicklungspolitisches Konzept
einzubetten.
Die internationale Reaktion auf die Flutkatastrophe hat aber auch gezeigt, dass
es notwendig ist, unser entwicklungspolitisches Engagement in den nicht von
der aktuellen Flut betroffenen Entwicklungsregionen der Welt zu intensivieren
(z. B. in Afrika). Bundespräsident Prof. Dr. Horst Köhler hat in diesem Zusam-
menhang die Hoffnung ausgedrückt, dass die Not in Süd- und Südostasien einen
Bedeutungszuwachs der Entwicklungspolitik mit sich bringt. Es ist an der Zeit,

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dass Deutschland einen transparenten Finanzierungsplan zur weiteren Steige-
rung der ODA vorlegt. Ansonsten steht unsere entwicklungspolitische Glaub-
würdigkeit auf dem Spiel.
Die Reaktion der von der Flut betroffenen Staaten Indien und Thailand hat aber
auch gezeigt, dass eine Neukonzeption der deutschen Entwicklungspolitik erfor-
derlich ist. Es muss zum Beispiel überdacht werden, ob die Instrumente Schul-
denerlass und Zuschüsse zur Zusammenarbeit mit selbstbewussten Schwellen-
ländern geeignet sind. Eine auf Nachhaltigkeit orientierte Zusammenarbeit muss
stärker nach dem Subsidiaritätsprinzip undmaßgeschneidert auf die eigene Leis-
tungsfähigkeit der Partner orientiert sein.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
l ihre Unterstützung auf die Länder Sri Lanka und Indonesien zu konzentrie-

ren;
l sich bei den Regierungen von Sri Lanka und Indonesien dafür einzusetzen,

dass der Zugang und die Sicherheit für die Hilfsorganisationen in den Span-
nungsgebieten gewährleistet ist und geschützt wird;

l die Eigeninitiative der Länder Indien und Thailand auf Nachfrage ebenfalls
mit gezielten Ergänzungsmaßnahmen zu unterstützen;

l Unterstützungsmaßnahmen in weiteren von der Flut betroffenen Ländern, ge-
gebenenfalls über geeignete Mittler durchzuführen;

l sicherzustellen, dass die staatlichen und privaten Hilfsmittel schnell, unbüro-
kratisch, koordiniert und effektiv in der Krisenregion eingesetzt werden;

l bei dem angestrebten Aufbau von langfristigen Partnerschaften mit den von
der Flut betroffenen Gebieten durch Bundesländer, Landkreise, Kommunen
und Institutionen dafür Sorge zu tragen, dass die Strukturen und die Erfah-
rung der deutschen Hilfswerke genutzt und die Partnerschaften mit diesen
koordiniert werden;

l die deutsche Wirtschaft, insbesondere den Asien Pazifik – Ausschuss in die
Koordination der Hilfe einzubeziehen;

l neben der Soforthilfe mit Medikamenten, Trinkwasser und Lebensmitteln
auch dem Schutz und der Betreuung der betroffenen Kinder sowie demWie-
deraufbau der Schulen oberste Priorität einzuräumen;

l die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, um einen reibungslosen Übergang
von der humanitären und Nothilfe zum langfristig konzipierten Wiederauf-
bau im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit zu ermöglichen;

l ein langfristiges Konzept unter Einbeziehung privater – öffentlicher Partner-
schaften (PPP) für die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit von der
Flutkatastrophe besonders betroffenen Ländern zu entwickeln. Dabei sollten
folgende Sektoren Priorität haben: Gesundheits-, Wasserversorgung, Wohn-
unterkünfte, Schulen, Energie-, Kommunikations- und Verkehrsinfrastruktur
sowie Umweltschutz;

l ein unbürokratisches Programm zur Vergabe von Mikrokrediten an Fischer
und Kleinunternehmer einzurichten, um diesen schnellstmöglich einen Neu-
anfang zu ermöglichen;

l sich auf internationaler Ebene dafür einzusetzen, dass die Koordination der
Hilfe vor Ort verbessert wird. Es muss sichergestellt werden, dass es bei dem
Einsatz der vielen Hilfsorganisationen zu einer ausgewogenen regionalen
Verteilung der Hilfe kommt. Überlappungen, Doppelstrukturen und eine Be-
vorzugung der Städte müssen unbedingt verhindert werden;

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l die europäische Krisenreaktionsfähigkeit zu stärken und sich dafür einzuset-
zen, dass auch die internationale und europäische Arbeitsteilung aufeinander
abgestimmt und weiter optimiert wird;

l die Kooperation der deutschen Hilfsorganisationen mit der Bundeswehr in
Krisensituationen weiter zu optimieren;

l verstärkt logistische Kapazitäten zur Verteilung der Hilfsgüter zur Verfügung
zu stellen;

l sich am Aufbau eines Tsunami-Frühwarnsystems zu beteiligen und dabei
sicherzustellen, dass alle afrikanischen Anrainerstaaten am indischen Ozean
in dieses System eingebunden werden;

l sich im Verbund mit der internationalen Staatengemeinschaft dafür einzuset-
zen, jede Chance zu nutzen, um zwischen den verfeindeten Bürgerkriegspar-
teien in Sri Lanka und Aceh zu vermitteln und auf eine friedliche Lösung der
Konflikte einzuwirken;

l sicherzustellen, dass ein angemessener Anteil der deutschen Hilfe auch der
Rehabilitierung der Umwelt zugute kommt. Vor allem der Schutz der Mang-
rovenwälder ist von vorrangiger Bedeutung, da Mangrovenwälder einen
natürlichen Schutz vor Flutwellen darstellen und die die Voraussetzung für
gesunde Fischbestände sind;

l sich auf internationaler Ebene dafür einzusetzen, dass derWiederaufbau nicht
zu einer zusätzlichen illegalen Abholzung der südostasiatischen Tropenwäl-
der führt;

l die Hilfszusage der Bundesregierung solide zu finanzieren und die Finanzie-
rung offen zu legen. Um größtmögliche Transparenz zu ermöglichen, muss
die Einrichtung eines Flutopfer-Sondertitels im Bundeshaushalt angestrebt
werden;

l Schuldenerleichterungen so zu konzipieren, dass sich – auch im Hinblick
auf die Finanzmärkte – eine nachhaltige Erleichterung für die von der Flut-
katastrophe betroffenen Staaten ergibt;

l sicherzustellen, dass es sich bei der deutschen Unterstützung um zusätzliche
Mittel handelt. Es muss verhindert werden, dass andere wichtige Maßnah-
men, wie zum Beispiel in der Entwicklungszusammenarbeit in Afrika, zu-
sammengestrichen werden;

l die internationale Zusage, die ODA-Quote bis 2006 auf 0,33 Prozent des
Bruttosozialprodukts anzuheben, einzuhalten;

l die derzeitige Unterstützung zum Anlass zu nehmen, einen konkreten Finan-
zierungsplan zur Erreichung dieses Ziels und darüber hinausgehender Steige-
rung der ODA vorzulegen;

l die Modalitäten der deutschen Zusammenarbeit den modernen Erfordernis-
sen anzupassen und ein Konzept zur maßgeschneiderten Zusammenarbeit
orientiert an der Leistungsfähigkeit der Partner vorzulegen.

Berlin, den 18. Januar 2005
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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