BT-Drucksache 15/3202

Ostdeutschland als Speerspitze des Wandels - Leitlinien eines Gesamtkonzepts für die neuen Länder

Vom 26. Mai 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/3202
15. Wahlperiode 26. 05. 2004

Antrag
der Abgeordneten Joachim Günther (Plauen), Eberhard Otto (Godern), Dr. Karlheinz
Guttmacher, Klaus Haupt, Cornelia Pieper, Jürgen Türk, Horst Friedrich (Bayreuth),
Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Rainer Funke, Dr. Christel Happach-Kasan,
Jürgen Koppelin, Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht, Dr. Hermann Otto Solms,
Dr. Volker Wissing, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Ostdeutschland als Speerspitze des Wandels – Leitlinien eines Gesamtkonzepts
für die neuen Länder

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
In der Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland
brauchen wir einen neuen, differenzierenden Blick auf die regionalen Besonder-
heiten in Ostdeutschland. Aus dieserWarte betrachtet zeigt sich, dass in den letz-
ten dreizehn Jahren beachtliche Erfolge erzielt wurden und in verschiedenen Be-
reichen die neuen Bundesländer sogar Vorreiter geworden sind. Mit der Ent-
wicklung der Halbleitertechnik in Dresden, der Polymer-Chemie im Dreieck
Bitterfeld-Halle-Leuna, der Biotechnologie in Sachsen-Anhalt, Sachsen und
Thüringen, um nur einige Beispiele zu nennen, haben es diese Regionen ge-
schafft, sich an die Spitze der Entwicklung in Gesamtdeutschland zu stellen. Vor
diesem Hintergrund kommt es nun darauf an, unter Berücksichtigung spezifi-
scher Standortfaktoren dieWettbewerbsvorteile Ostdeutschlands herauszuarbei-
ten und auszubauen.
14 Jahre nach der deutschen Einheit haben andererseits die jüngsten Statistiken
und Fortschrittsberichte gezeigt, dass die wirtschaftliche Entwicklung in den
neuen Ländern insgesamt trotz intensiver finanzieller Förderung auf einem Tief-
punkt angelangt ist. Der durch die Fördermittel erhoffte wirtschaftliche Auf-
schwung in den neuen Ländern blieb in vielen Regionen aus. Die Schere zwi-
schen Ost und West hat sich wieder weiter geöffnet. Nach wie vor beträgt die
Produktivitätslücke zwischen Ost und West im Durchschnitt ca. 30 Prozent.
Auch die Gründungsintensität hat seit 1998 deutlich abgenommen, wobei die In-
solvenzquote mit 20,5 Prozent im Osten mehr als doppelt so hoch ist wie im
Westenmit 9 Prozent. Die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland hat im Jahr 2003
mit 18,5 Prozent einen Höchststand erreicht, der doppelt so hoch ist wie in den
alten Bundesländern. Im Ergebnis dieser Entwicklung wandern nach wie vor
insbesondere junge und leistungsstarke Menschen aus dem Osten ab. Seit 1991
hat sich die Bevölkerungszahl in den neuen Ländern bereits um 1 Million Men-
schen verringert.
Angesichts dieser Zahlen herrscht im vierzehnten Jahr nach derWirtschafts- und
Währungsunion in Ost und West Frustration und Unzufriedenheit. Die Auswir-
kungen der Politik der „ruhigen Hand des Kanzlers“ haben die neuen Länder in

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besonderem Maße bitter zu spüren bekommen. Es ist höchste Zeit, endlich ein
Gesamtkonzept einer wirtschaftspolitischen Strategie zu entwickeln.
Standortvorteile und Stärken Ostdeutschlands sind u. a.:
l Zentrale Lage im erweiterten Europa.
l Gut qualifizierte, fleißige Menschen mit Transformationserfahrung und

hoher Arbeitsmotivation, die bereits Experimentierfreude und Improvisa-
tionsfähigkeit nachgewiesen haben.

l Regional hohe Dichte einer erstklassigen Forschungs- und Forschungsinfra-
struktur mit teilweise bereits bestens funktionierenden Clustern (z. B. IT in
Dresden, Chemie und Biotechnologie in Sachsen-Anhalt).

l Infrastruktur, die teilweise bereits auf sehr gutem Stand ist.
l Hohe Produktivität bei gegebenen Voraussetzungen (z. B. technische Aus-

stattung auf höchstem Niveau, intakter Infrastruktur etc.).
l Attraktive Fördermöglichkeiten.
Damit diese Standortvorteile zum Tragen kommen und zu Wachstum in Wirt-
schaft und Landwirtschaft und damit zur Schaffung von Arbeitsplätzen führen,
muss die Politik die dafür erforderlichen Rahmenbedingungen weiterentwi-
ckeln. Dies sind insbesondere:
l Senkung der Steuer- und Abgabenbelastung in ganz Deutschland.
l Neuordnung der Förderpolitik: Weg vom „Gießkannenprinzip“ hin zur ge-

zielten Vergabe der Mittel. Konzentration auf Investitions- und Innovations-
maßnahmen sowie auf Forschung und Entwicklung unter Berücksichtigung
der regionalen Besonderheiten.

l Flexible Regelungen im Arbeits- und Tarifrecht.
l Auf- und Ausbau der Infrastruktur.
l Modellregionen für Bürokratieabbau.
l Befristete steuerliche Sonderregelungen, insbesondere für die grenznahen

Regionen zu den EU-Beitrittsländern.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung zu folgendenMaßnahmen
auf:
1. Erstellung eines Gesamtkonzepts für den Aufbau Ost. Eine ganzheitliche

Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik reicht von Bildungs- und Hochschul-
politik über Forschungsförderung, Infrastruktur, Finanz- und Steuerpolitik
bis hin zur Arbeitsmarktpolitik. Allein die Aussicht auf eine bessere Zukunft
durch Wirtschaftswachstum bietet die Chance dafür, dass sich die in den
Köpfen weiter geöffnete Schere zwischen Ost und West allmählich wieder
schließt. Die Förderung soll auf gewerbliche Investitionen und insbesondere
auf wirtschaftsnahe Forschung und Entwicklung konzentriert werden.

2. Die Schaffung von Modellregionen – auch auf Antrag der Bundesländer
selbst – muss durch die befristete Aussetzung bundesrechtlicher Regelungen
im Bau-, Tarif- und Arbeitsrecht über Länderöffnungsklauseln ermöglicht
werden.

3. Im Rahmen des Auf- und Ausbaus der Infrastruktur müssen die Verkehrspro-
jekte Deutsche Einheit Priorität behalten. Im Rahmen der EU-Osterweite-
rung wird die Bundesregierung aufgefordert, sich dafür einzusetzen, dass die
Fördermittel aus den Strukturfonds vordringlich zum Ausbau der grenzüber-
schreitenden oder der transeuropäischen Verkehrsnetze in Ostdeutschland

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und Ostbayern eingesetzt werden, um in den Grenzregionen den immens an-
gestiegenen Verkehrsbelastungen zu begegnen.

4. Die gemeinsame Finanzierung der Forschung von Bund und Ländern ist,
auch im Interesse der neuen Bundesländer, fortzuführen. Nur so lassen sich
die Qualität des Forschungssystems und eine länderspezifische Profilbildung
auf höchstem Niveau erreichen. Der Fortbestand der Institute der Leibniz-
Gemeinschaft mit ihren zu 50 Prozent in den neuen Bundesländern befindli-
chen Instituten darf nicht in Frage gestellt werden. Mit der alleinigen Förde-
rung dieser hervorragenden Forschungseinrichtungen wären die betreffenden
Länder überfordert.

5. Die Wertschöpfungsanteile sowie Beschäftigungseffekte und Leistungen für
Forschung und Entwicklung müssen im Rahmen der Investitionsförderung in
Ostdeutschland stärker als bisher berücksichtigt werden. Die Forschungs-
und Entwicklungsausgaben in ostdeutschen Unternehmen sind unterpropor-
tional gewachsen und liegen deutlich unter denen der westdeutschen Unter-
nehmen. Die Forschung und Entwicklung ist durch enge Zusammenarbeit
von Hochschulen, außeruniversitären Forschungseinrichtungen und der
Wirtschaft zu konzentrieren, um neues Wissen zu generieren und in innova-
tive Technologien, Produkte, Verfahren und Werkstoffe einfließen zu lassen.

6. Wegen der schlechten Zahlungsmoral und der damit verbundenen Zins- und
Liquiditätsbelastung der kleineren Unternehmen – insbesondere in den neuen
Bundesländern– soll dieUmsatzsteuer sowohl auf derLeistungseingangs-wie
auf der Leistungsausgangsseite für ganz Deutschland von der Soll- auf die Ist-
Besteuerung umgestellt werden. Die Umsatzsteuer muss erst dann abgeführt
werden, wenn der Zahlungseingang für die Lieferungs- oder Leistungsrech-
nung festgestellt wird. Bereits zum 1. Januar 2005 soll die generelle Ist-Be-
steuerung für Unternehmen mit einem Umsatz von weniger als 2,5 Mio. Euro
gelten.

7. Schaffung von Regelungen entsprechend des bis 1994 in Kraft gewesenen
Zonenrandförderungsgesetzes im Rahmen der EU-Osterweiterung für die
grenznahen Regionen, insbesondere soweit es um betriebliche Investitionen
geht sowie Förderung grenzüberschreitender Kooperationen.
In diesem Zusammenhang begrüßt der Deutsche Bundestag den Plan der
Europäischen Kommission, nach 2007 für die Regionen, die aus der Ziel-1-
Förderung der Strukturfonds herausfallen werden, Übergangslösungen zu
finden. So können insbesondere die ostdeutschen Unternehmen ihre Wettbe-
werbsfähigkeit stärken und die ostdeutschen Industriestandorte im Wettbe-
werb um Unternehmensansiedlungen innerhalb der erweiterten europäischen
Union bestehen.

8. Kleinen und mittelgroßen Unternehmen soll Risikokapital aus einem revol-
vierenden Fonds (ähnlich wie ERP-Programm „Marshallplanhilfe“) zur Ver-
fügung gestellt werden, der von der Kreditanstalt für Wiederaufbau aufgelegt
und unter Beteiligung der Hausbanken von den jeweiligen Aufbau- und För-
derbanken verwaltet wird.

9. Die Potenziale der Grünen Gentechnik durch eine innovationsfreundliche
Novellierung des Gentechnikgesetzes auszuschöpfen und damit die Vor-
reiterposition der neuen Bundesländer bei der Entwicklung wettbewerbsfä-
higer Biotechnologiestandorte zu fördern. Dazu muss insbesondere eine für
alle Betroffenen akzeptable Haftungsregelung entwickelt und vorgelegt wer-
den. Die Koexistenz von Pflanzensorten, die mit den verschiedenen Metho-
den gezüchtet wurden, ist entsprechend den unterschiedlichen Eigenschaften
der verschiedenen Kulturpflanzen zu regeln.

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10. Die Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Land-, Forst- und Ernäh-
rungswirtschaft zu erzielen, indem die nationalen Sonderwege bei der Um-
setzung von EU-Richtlinien im Bereich des Umwelt-, Natur-, Verbraucher-
und Tierschutzes gestoppt und korrigiert werden. Dazu sollen die Länder
größere Entscheidungsbefugnisse erhalten. Dadurch werden die Wettbe-
werbsbedingungen der Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft in den länd-
lichen Räumen gestärkt und die dort vorhandenen Arbeitsplätze gesichert.

11. Verbesserungen der Rahmenbedingungen für den Tourismus, damit die Zu-
kunftsbranche Tourismus ihren Beitrag zur Stabilisierung bestehender und
zur Schaffung neuer Arbeitsplätze leisten kann.

Ostdeutschland hat alle Chancen, sich zur „Speerspitze des Wandels“ für die
ganze Republik zu profilieren. Es hat den großen Vorteil, besondere Erfahrun-
gen bei der unkonventionellen Bewältigung von Wandlungsprozessen zu besit-
zen. Es gilt, diese Erfahrungen und Erkenntnisse auf alle Gebiete umzusetzen.

Berlin, den 28. Mai 2004
Joachim Günther (Plauen)
Eberhard Otto (Godern)
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Cornelia Pieper
Jürgen Türk
Horst Friedrich (Bayreuth)
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Rainer Funke
Dr. Christel Happach-Kasan
Jürgen Koppelin
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Volker Wissing
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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