BT-Drucksache 15/3115

Verschuldungssituation der gesetzlichen Krankenkassen

Vom 6. Mai 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/3115
15. Wahlperiode 06. 05. 2004

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Horst Seehofer, Andreas Storm, Annette Widmann-Mauz,
Dr. Hans Georg Faust, Dr. Wolf Bauer, Monika Brüning, Verena Butalikakis,
Michael Hennrich, Hubert Hüppe, Volker Kauder, Gerlinde Kaupa, Barbara
Lanzinger, Dr. Michael Luther, Maria Michalk, Hildegard Müller, Matthias Sehling,
Jens Spahn, Matthäus Strebl, Gerald Weiß (Groß-Gerau), Wolfgang Zöller
und der Fraktion der CDU/CSU

Verschuldungssituation der gesetzlichen Krankenkassen

Statt gesetzlich vorgeschriebener Rücklagen und Betriebsmittel verzeichnen
zahlreiche Krankenkassen eine erhebliche Verschuldung, die das Potential für
Beitragssatzsenkungen schmälert. Über die Höhe der Verschuldung existieren
bisher keine eindeutigen Angaben. So berichtet „DER SPIEGEL“ vom 5. April
2004 über Schulden in Höhe von 5,59 Mrd. Euro, die zusammen mit fehlenden
Rücklagen und Betriebsmitteln in Höhe von 9 Mrd. Euro eine Finanzierungs-
lücke von fast 15 Mrd. Euro ergeben.
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ zitierte am 29. März 2004 die Einschät-
zung des Vorstandsvorsitzenden des BKK-Bundesverbandes, die Betriebskran-
kenkassen hätten insgesamt 2 Mrd. Euro Schulden aufgehäuft. Dies entspreche
dem Marktanteil der Betriebskrankenkassen in der gesetzlichen Krankenversi-
cherung (GKV), so dass sich für die gesamte GKV Schulden von 10 Mrd. Euro
errechneten.
Der „Dienst für Gesellschaftspolitik“ gibt in seiner Ausgabe vom 18. März 2004
den kumulierten Saldo der GKV-Jahresrechnungsergebnisse seit 1991 mit ins-
gesamt minus 14,2 Mrd. Euro an. Unter Berücksichtigung einer Ende 1989 vor-
handenen positiven Vermögenssituation in Höhe von 5 bis 7 Mrd. Euro errech-
net sich daraus eine Verschuldung der gesetzlichen Krankenkassen zwischen 7,2
und 9,2 Mrd. Euro zum Jahresende 2003.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Auf welche Höhe beliefen sich zum Stichtag 1. Januar 2004 Betriebsmittel,

Rücklagen, Geldmittel zur Anschaffung und Erneuerung von Verwaltungs-
vermögen, Kassenverstärkungskredite, Darlehen zum Haushaltsausgleich
und sonstige Kredite der gesetzlichen Krankenkassen, aufgeschlüsselt nach
Kassenarten?

2. Wie haben sich die in Frage 1 genannten Größen, aufgeschlüsselt nach Kas-
senarten, seit 1991 jeweils zum Stichtag 1. Januar entwickelt?

3. Wie hoch beziffert die Bundesregierung die Abweichung der Soll-Werte von
den Ist-Werten der gesetzlich vorgeschriebenen Betriebsmittel und Rückla-
gen der Krankenkassen zum Stichtag 1. Januar 2004?

Drucksache 15/3115 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

4. Wie viele Krankenkassen, aufgeschlüsselt nach Kassenarten, haben zum
Stichtag 1. Januar 2004 ein negatives Betriebsmittel- und Rücklagevermö-
gen ausgewiesen, wie viele ein positives?
Wie haben sich diese Zahlen seit 1991 entwickelt?

5. Wie viele Krankenkassen, aufgeschlüsselt nach Kassenarten, haben zum
Stichtag 1. Januar 2004 Kassenverstärkungskredite ausgewiesen?
Wie hat sich diese Zahl seit 1991 entwickelt?

6. Wie viele Krankenkassen, aufgeschlüsselt nach Kassenarten, haben zum
Stichtag 1. Januar 2004 Darlehen zum Haushaltsausgleich aufgewiesen?
Wie hat sich diese Zahl seit 1991 entwickelt?

7. Kann die Bundesregierung ausschließen, dass einzelne Krankenkassen auch
nach dem 31. Dezember 2003 noch Darlehen zum Haushaltsausgleich auf-
genommen haben?
Auf welche Erkenntnisse stützt die Bundesregierung ihre Aussage?

8. Ist der Bundesregierung bekannt, dass das Passivvermögen von Kranken-
kassen nicht nur aus Darlehen von Kreditinstituten besteht, sondern auch Li-
quiditätsvorteile enthalten kann (z. B. verspätete Zahlung von Rechnungen
bzw. Vergütungsansprüchen der Leistungserbringer, verspätete Weiterlei-
tung der Gesamtsozialversicherungsbeiträge, vorübergehende „Darlehen“
aus dem Risikostrukturausgleich durch das Auseinanderfallen von Bemes-
sungs- und Zahlungszeitpunkt im Abschlagsverfahren, zeitlicher Abstand
zwischen erster Beitragszahlung und erstem Rechnungseingang bei neuen
Mitgliedern, Fehlbuchungen zulasten der sozialen Pflegeversicherung)?

9. Ist der Bundesregierung bekannt, dass Krankenkassen sich Liquiditätsvor-
teile verschaffen, indem sie mit Leistungserbringern eine verspätete Zah-
lung gegen einen Aufschlag auf den Zahlungsbetrag (Zahlungsziel mit
Agio) vereinbaren?
Hält die Bundesregierung eine solche Vorgehensweise für rechtlich zulässig?

10. Wird der Teil des Passivvermögens der Krankenkassen, der nicht auf von
Kreditinstituten gewährten Kassenverstärkungskrediten und Darlehen zum
Haushaltsausgleich beruht, bei der aufsichtsrechtlichen Prüfung und Bewer-
tung der finanziellen Situation der Krankenkassen berücksichtigt?
Wenn nein, warum nicht, und wie könnte eine Berücksichtigung nach Auf-
fassung der Bundesregierung sichergestellt werden?

11. Hält die Bundesregierung eine vollständige Erfassung der Entwicklung des
Passivvermögens der Krankenkassen auch über die von Kreditinstituten ge-
währten Kassenverstärkungskredite und Darlehen zum Haushaltsausgleich
bei der Darstellung der GKV-Finanzergebnisse (z. B. KV 45) für geboten,
und wenn ja, wie will die Bundesregierung dies bewirken?
Wenn nein, warum nicht?

12. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Höhe der trotz Fäl-
ligkeit noch nicht erfüllten Zahlungsverpflichtungen der Krankenkassen
gegenüber den Leistungserbringern?
Wie haben sich diese Zahlungsverpflichtungen in den vergangenen fünf
Jahren und aufgeschlüsselt nach Kassenarten entwickelt?

13. Kann die Bundesregierung Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereini-
gung bestätigen, dass alleine die Betriebskrankenkassen Zahlungsverpflich-
tungen für die ambulante ärztliche Vergütung in Höhe von 119 Mio. Euro
noch nicht erfüllt haben?

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/3115

14. Auf welche Weise haben die Bundesregierung und die zuständigen Auf-
sichtsbehörden die Krankenkassen veranlasst, ihren Zahlungsverpflichtun-
gen rechtzeitig und ohne Verzug nachzukommen?

15. Wie werden noch nicht erfüllte Zahlungsverpflichtungen der Krankenkas-
sen bei der Berechnung der GKV-Finanzergebnisse berücksichtigt?
Sind diese noch nicht erfüllten Zahlungsverpflichtungen in den Antworten
auf die Fragen 1 bis 3 bereits enthalten?

16. War die Aufnahme von Darlehen zum Haushaltsausgleich nach dem Fünf-
ten Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) zulässig?

17. Wenn nein, was haben die Bundesregierung oder die ihr unterstellten Auf-
sichtsbehörden unternommen, um eine solche unzulässige Kreditaufnahme
zu unterbinden?

18. Seit wann besitzen die zuständigen Aufsichtsbehörden der gesetzlichen
Krankenkassen die Informationen über nicht zulässige Kreditaufnahmen,
und wann wurde die Bundesregierung darüber informiert?

19. Welche Maßnahmen wurden daraufhin durch wen und wann veranlasst?
20. Wie konnte es nach Auffassung der Bundesregierung zu dieser Anhäufung

von langfristigen Krediten kommen?
21. Trägt die Bundesregierung durch ihre gesundheitspolitischen Vorgaben eine

Mitverantwortung an dieser finanziellen Entwicklung der gesetzlichen
Krankenkassen, und wenn nein, warum nicht?

22. Mit welchen Auswirkungen der Verschuldungssituation der Krankenkassen
auf die angestrebte Beitragssatzsenkung durch das GKV-Modernisierungs-
gesetz rechnet die Bundesregierung, und wie begründet sie ihre Auffas-
sung?

23. Mit welcher finanziellen Entwicklung der GKV rechnet die Bundesregie-
rung in diesem und den beiden kommenden Jahren?
Welche Annahmen über gesamtwirtschaftliche Rahmendaten (Entwicklung
von Bruttoinlandsprodukt, Zahl der Erwerbstätigen und der Arbeitslosen,
Arbeitnehmerentgelte, beitragspflichtige Einnahmen), Einnahmen und
Ausgaben der GKV sowie über die Entwicklung des durchschnittlichen
Beitragssatzes legt die Bundesregierung dabei zugrunde?
Welche Änderungen haben sich in diesen Annahmen in den vergangenen
neun Monaten ergeben, und welche Auswirkungen hatte dies auf die Vo-
rausschätzungen?

24. Durch welche Maßnahmen wird die Bundesregierung sicherstellen, dass
trotz dieser unzulässigen Kreditaufnahmen die angestrebten Beitragssatz-
senkungen erreicht werden können?

25. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass durch eine verstärkte persön-
liche Haftung von Krankenkassenvorständen sowie von Vorständen der
Krankenkassenverbände solche finanziellen Fehlentwicklungen unterbun-
den werden können, und wie begründet sie ihre Auffassung?

26. In welchen Abständen fragt die Bundesregierung Daten über die Finanzlage
der Krankenkassen von den Aufsichtsbehörden in Bund und Ländern ab?
Um welche Daten handelt es sich dabei im Einzelnen?
Wurden in der Vergangenheit Veränderungen an dieser Abfragepraxis vor-
genommen?
Wenn ja, wann, welche und aus welchem Anlass?

Drucksache 15/3115 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

27. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die bestehenden amtlichen
Statistiken und die den Aufsichtsbehörden vorliegenden Daten eine zeitna-
he und vollständige Beurteilung der jeweils aktuellen finanziellen Lage der
Krankenkassen sowie eine zuverlässige Vorhersage über die diesbezügliche
kurz- und mittelfristige Entwicklung erlauben?
Sieht die Bundesregierung hier Verbesserungsmöglichkeiten und -notwen-
digkeiten?

28. Hält die Bundesregierung die bestehenden aufsichtsrechtlichenMöglichkei-
ten für ausreichend, um eine solide Haushaltsführung der Krankenkassen zu
gewährleisten, insbesondere um die Aufnahme unzulässiger Darlehen
schon imVorhinein zu unterbinden, und um eine verlässliche aufsichtsrecht-
liche Beurteilung und Prüfung der Geschäfts-, Rechnungs-, Betriebs- und
Haushaltsführung der Krankenkassen zu gewährleisten?
Wenn nein, wie will die Bundesregierung die Möglichkeiten der Aufsichts-
behörden in Bund und Ländern stärken?

29. In welchem zeitlichen Abstand erfolgen Prüfungen der Geschäfts-, Rech-
nungs- und Betriebsführung der Krankenkassen durch die zuständigen Auf-
sichtsbehörden?
Sind bei den Prüfungsabständen Unterschiede zwischen den Kassenarten,
nach der Größe der Krankenkasse, nach der zuständigen Aufsichtsbehörde
oder nach anderen Kriterien festzustellen, und wie sind diese Unterschiede
zu begründen?

30. Kann die Bundesregierung die Aussage des Vorstandsvorsitzenden des
BKK-Bundesverbandes, Wolfgang Schmeinck, in der „Frankfurter Allge-
meinen Zeitung“ vom 29. März 2004 bestätigen, dass die Betriebskranken-
kassen insgesamt über negative Finanzreserven in Höhe von 2 Mrd. Euro
verfügen?
Wenn nein, wie erklärt sich die Bundesregierung die Abweichung zu ihren
eigenen Angaben?

31. Kann die Bundesregierung die Aussage des Vorstandsvorsitzenden des
BKK-Bundesverbandes, Wolfgang Schmeinck, in der „Frankfurter Allge-
meinen Zeitung“ vom 29. März 2004 bestätigen, dass die negativen Finanz-
reserven der Betriebskrankenkassen in Höhe von 2Mrd. Euro ungefähr dem
Marktanteil der Betriebskrankenkassen in der GKV entsprechen und dass
sich daraus eine Gesamtverschuldung der GKV in Höhe von 10 Mrd. Euro
errechnet?
Wenn nein, wie erklärt sich die Bundesregierung diese Aussage des Vor-
standsvorsitzenden des BKK-Bundesverbandes und die Abweichung zu
ihren eigenen Angaben?

32. Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Vorstandsvorsitzenden des
BKK-Bundesverbandes, Wolfgang Schmeinck, dass die Verschuldung der
gesetzlichen Krankenkassen in Höhe von 10 Mrd. Euro mit Ursache dafür
ist, dass viele Krankenkassen den Aufforderungen nach einer Senkung der
Beitragssätze nur zögerlich folgen, und wie begründet sie ihre Auffassung?

33. Kann die Bundesregierung Berechnungen im „SPIEGEL“ vom 5. April
2004 bestätigen, nach denen die gesetzlichen Krankenkassen aufgrund be-
stehender Schulden sowie fehlender Betriebsmittel und Rücklagen eine Fi-
nanzierungslücke von fast 15 Mrd. Euro aufweisen?
Wenn ja, welche Auswirkungen hat dies auf das Potential für Beitragssatz-
senkungen in den Jahren bis einschließlich 2006?
Wenn nein, wie erklärt sich die Bundesregierung diese Aussagen und die
Abweichung zu ihren eigenen Angaben?

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/3115

34. Kann die Bundesregierung die Aussage im „Dienst für Gesellschaftspolitik“
vom 18. März 2004 bestätigen, dass die gesetzlichen Krankenkassen Ende
1989 noch über positive Finanzreserven zwischen 5 und 7 Mrd. Euro ver-
fügt haben und dass der kumulierte Saldo der Rechnungsergebnisse seit
1991 minus 14,2 Mrd. Euro beträgt?
Wenn nein, wie erklärt sich die Bundesregierung diese Aussagen und die
Abweichung zu ihren eigenen Angaben?
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus diesen Zahlen
für die derzeitige Höhe der Verschuldung der Krankenkassen und für das
Potential für Beitragssatzsenkungen in den Jahren bis einschließlich 2006?

35. Kann die Bundesregierung folgende Darstellung über die Höhe der negati-
ven Finanzrücklagen zum 31. Dezember 2004 bei einzelnen Krankenkassen
bestätigen, die der „Dienst für Gesellschaftspolitik“ vom 15. April 2004
wiedergibt:
AOK Mecklenburg-Vorpommern 279,75 Mio. Euro
AOK Hamburg 124,84 Mio. Euro
AOK Rheinland 286,95 Mio. Euro
AOK Hessen 139,99 Mio. Euro
AOK Schleswig-Holstein 31,18 Mio. Euro
Barmer Ersatzkasse 889 Mio. Euro
Hamburg Münchener Krankenkasse 37 Mio. Euro
Deutsche Angestellten-Krankenkasse 637 Mio. Euro
Gmünder Ersatzkasse 100 Mio. Euro
Kaufmännische Krankenkasse 83 Mio. Euro
Wenn nein, wie erklärt sich die Bundesregierung diese Aussagen und die
Abweichung zu ihren eigenen Angaben?
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus diesen Zahlen
für die derzeitige Höhe der Verschuldung der Krankenkassen und für das
Potential für Beitragssatzsenkungen in den Jahren bis einschließlich 2006?

36. Wie verteilt sich das Defizit von 12,5 Mrd. Euro, das die gesetzliche Ren-
ten-, Kranken- und Pflegeversicherung nach Aussagen der Bundesministe-
rin für Gesundheit und Soziale Sicherung, Ulla Schmidt, in einem Brief an
die Präsidenten der Sozialverbände VdK und SoVD vom 31. März 2004 im
Jahr 2003 zusammen zu verzeichnen hatten, auf diese drei Zweige der So-
zialversicherung?
In welcher Höhe ist dieses Defizit in die Berechnung des gesamtstaatlichen
Defizits nach den Kriterien des europäischen Stabilitäts- und Wachstums-
paktes eingeflossen?

Berlin, den 6. Mai 2004
Horst Seehofer
Andreas Storm
Annette Widmann-Mauz
Dr. Hans Georg Faust
Dr. Wolf Bauer
Monika Brüning
Verena Butalikakis
Michael Hennrich
Hubert Hüppe
Volker Kauder
Gerlinde Kaupa

Barbara Lanzinger
Dr. Michael Luther
Maria Michalk
Hildegard Müller
Matthias Sehling
Jens Spahn
Matthäus Strebl
Gerald Weiß (Groß-Gerau)
Wolfgang Zöller
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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