BT-Drucksache 15/3009

Sexuelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderung

Vom 27. April 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/3009
15. Wahlperiode 27. 04. 2004

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Antje Blumenthal, Hubert Hüppe, Andreas Storm, Annette
Widmann-Mauz, Dr. Wolf Bauer, Monika Brüning, Verena Butalikakis, Dr. Hans
Georg Faust, Ingrid Fischbach, Michael Hennrich, Gerlinde Kaupa, Barbara
Lanzinger, Maria Michalk, Hildegard Müller, Michaela Noll, Matthias Sehling,
Jens Spahn, Matthäus Strebl, Gerald Weiß (Groß-Gerau), Wolfgang Zöller
und der Fraktion der CDU/CSU

Sexuelle Gewalt gegen Menschen mit Behinderung

Sexuelle Gewalttaten gegen Menschen mit Behinderung werden bislang weit-
gehend tabuisiert – sowohl in der Forschung als auch in der öffentlichen Diskus-
sion. Dieser Situation entsprechend existieren zur Problematik kaum quantitativ
oder qualitativ und vor allem in Bezug auf die Situation in der Bundesrepublik
Deutschland aussagefähige Studien. Die vorhandenen Untersuchungen zeich-
nen zwar ein divergierendes, obgleich stets alarmierendes Bild: Menschen mit
Behinderung werden deutlich häufiger Opfer sexueller Gewalt als Menschen
ohne Behinderung; besonders betroffen sind geistig behinderte Menschen. Un-
tersuchungen gehen davon aus, dass bis zu 50 Prozent der behinderten Frauen
ein- oder mehrmals Opfer sexueller Übergriffe geworden sind. Darüber hinaus
zeigen Studien – wie beispielsweise das vom Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderte Modellprojekt „Umgang
mit sexueller Selbstbestimmung und sexueller Gewalt inWohneinrichtungen für
junge Menschen mit geistiger Behinderung“ –, dass sich ein großer Anteil
sexueller Übergriffe auf Menschen mit Behinderung in öffentlichen Institu-
tionen (Wohnheimen, Werkstätten, Sondereinrichtungen) ereignet.
Untersuchungen über sexuelle Gewalt gegen behinderte Menschen außerhalb
von Einrichtungen fehlen in Deutschland jedoch bisher gänzlich. Selbst Anga-
ben über Dunkelziffern sind nicht vorhanden – jedoch sprechen mehrere Grün-
de für eine im Vergleich zu Gewalttaten gegen nicht behinderte Menschen
höhere Dunkelziffer. Ein Indikator dafür ist, dass Menschen mit Behinderung
aus Gründen eines potenziell höheren Grades an sozialer Isolation, des Lebens
in Institutionen, besonderer sozialer Abhängigkeits- bzw. Beziehungssitua-
tionen, des vermeintlich geringeren Selbstbewusstseins, der Erziehung zur An-
passung, eines Informationsdefizits, einer vermeintlich geringeren Glaubwür-
digkeit sowie aus Gründen der eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit
einem besonderen Risiko ausgesetzt sind, Opfer sexueller Gewalt zu werden.
Ebenfalls existieren kaum Untersuchungen über die Folgen sexueller Gewalt an
Menschen mit Behinderung, obgleich die Vermutung nahe liegt, dass die Fol-
gen sexueller Gewalt bei Menschen mit – insbesondere geistiger – Behinderung
aufgrund des eingeschränkten Bewältigungspotenzials gravierender sind.

Drucksache 15/3009 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie schätzt die Bundesregierung das Problem sexueller Gewalt gegen

Menschen mit Behinderung hinsichtlich seiner Bedeutung und des poli-
tischen Handlungsbedarfs insgesamt ein?

2. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über sexuelle Übergriffe ge-
gen behinderte Menschen, insbesondere über das Ausmaß dieser Übergrif-
fe außerhalb von Wohn- und Pflegeeinrichtungen?

3. Aus welchen Studien und Untersuchungen bezieht die Bundesregierung
ihre Erkenntnisse?

4. Hält die Bundesregierung diese Erkenntnisse für aussagekräftig genug, um
daraus Handlungsempfehlungen für den Umgang mit dem Problem sexuel-
ler Gewalt gegen Menschen mit Behinderung zu erarbeiten?

5. Wie schätzt die Bundesregierung die Wahrscheinlichkeit für geistig behin-
derte Menschen im Vergleich zu nicht behinderten Menschen ein, Opfer
sexueller Gewalt zu werden?
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus diesem Vergleich?

6. Welche Gründe macht die Bundesregierung für die relativ höhere Anzahl
von sexuellen Übergriffen auf Menschen mit Behinderung verantwortlich?
Wie versucht die Bundesregierung eine Reduzierung sexueller Gewalt
gegen behinderte Menschen zu erreichen?

7. Hat die Bundesregierung außer dem Modellprojekt „Umgang mit sexueller
Selbstbestimmung und sexueller Gewalt in Wohneinrichtungen für junge
Menschen mit geistiger Behinderung“ noch weitere Projekte oder Studien
in Auftrag gegeben oder gefördert, die sich mit diesem Thema befassen
und insbesondere die Situation älterer und außerhalb von Einrichtungen
lebender Menschen mit Behinderung untersuchen?
Wenn ja, zu welchen Ergebnissen kommen diese Untersuchungen, wenn
nein, plant die Bundesregierung derartige Untersuchungen?

8. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung aus dem Modellprojekt
„Umgang mit sexueller Selbstbestimmung und sexueller Gewalt in Wohn-
einrichtungen für junge Menschen mit geistiger Behinderung“ gewonnen
und wie bewertet die Bundesregierung diese Erkenntnisse?

9. Wie beurteilt die Bundesregierung den Umgang mit sexueller Gewalt ge-
gen behinderte Menschen in Bezug darauf, dass mit der Neuformulierung
des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IX) die Förderung der Selbst-
bestimmung behinderter Menschen einen zentralen Auftrag für Behinder-
teneinrichtungen darstellt?

10. Sind der Bundesregierung Fälle bekannt, in denen Therapeuten oder Thera-
peutinnen Opfer von sexuellen Gewalttaten, die geistig behindert sind, ab-
lehnen?

11. Wie beurteilt die Bundesregierung die quantitative Verfügbarkeit und
die derzeitige qualitative Situation niedrigschwelliger Betreuungs- und
Beratungsangebote für Menschen mit Behinderung, die Opfer sexueller
Übergriffe geworden sind?

12. Wie schätzt die Bundesregierung den Qualifikationsstand von Mitarbeitern
in Beratungs- und Betreuungseinrichtungen für Opfer sexueller Gewalt im
Hinblick auf den sachgerechten Umgang mit behinderten Menschen, die
Opfer sexueller Übergriffe geworden sind, ein?

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/3009

13. Sind der Bundesregierung spezielle Weiterbildungs- und Qualifizierungs-
angebote bzw. -maßnahmen für Mitarbeiter von Beratungs- und Betreu-
ungseinrichtungen bekannt, die die Sachkenntnis der Mitarbeiter im Hin-
blick auf den Umgang mit insbesondere geistig behinderten Menschen, die
Opfer sexueller Gewalt geworden sind, erhöhen?
Wenn ja, wie beurteilt die Bundesregierung die Wirksamkeit dieser Maß-
nahmen und Angebote?
Wenn nein, plant die Bundesregierung, die Einrichtung bzw. die Verfügbar-
keit solcher Maßnahmen und Angebote zu fördern bzw. zu forcieren?

14. Hält die Bundesregierung die Erarbeitung eines Leitfadens, der entspre-
chende Stellen im Umgang mit sexueller Gewalt gegen Menschen mit
Behinderung schult, für ein geeignetes Mittel, methodischer gegen solche
Gewalt und ihre Folgen vorzugehen, falls nein, warum nicht, falls ja, plant
die Bundesregierung die Erstellung eines solchen Leitfadens?

15. Welche Konzepte zur Präventionsarbeit mit behinderten Menschen sind der
Bundesregierung bekannt und wie werden diese Konzepte von der Bundes-
regierung beurteilt?

16. Inwieweit trägt nach Ansicht der Bundesregierung das theoretische Wissen
der Menschen mit Behinderung über die Natur und die Folgen sexueller
Übergriffe sowie über Strategien zur Bewältigung dazu bei, Übergriffe als
solche zu erkennen und möglicherweise sogar zu vermeiden?

17. Hält die Bundesregierung die Möglichkeiten, dieses Wissen zu erwerben,
für ausreichend?
Wenn nein, was unternimmt die Bundesregierung, um die Möglichkeiten
des Wissenserwerbs zu verbessern?

18. Vertritt die Bundesregierung die Auffassung, dass aufgrund der besonders
gravierenden Folgen von sexueller Gewalt gegen Menschen mit Behinde-
rung der Rehabilitation der Opfer eine zentrale Bedeutung zukommt?
Wenn ja, welche spezifischen Rehabilitationsmaßnahmen sind der Bundes-
regierung bekannt und wie schätzt die Bundesregierung die Effektivität
dieser Maßnahmen ein?

19. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass eine Sensibilisierung der Öffent-
lichkeit für und eine Enttabuisierung des Problems der sexuellen Gewalt
gegen Menschen mit Behinderung die Situation dieser Menschen dahin
gehend verbessert, dass sich sowohl die Prävention als auch die Rehabilita-
tion effektiver und effizienter gestalten ließen?
Wenn ja, was unternimmt die Bundesregierung, um die Öffentlichkeit für
dieses Thema zu sensibilisieren und das Thema selbst zu enttabuisieren?

20. Wird in der polizeilichen Kriminalstatistik im Zusammenhang mit sexuel-
len Übergriffen sowie Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter
Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses aufgeführt, inwieweit behin-
derte Menschen Opfer dieser Delikte wurden?
Wenn nein, warum nicht?

21. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, ob und wie die sexuelle
Selbstbestimmung in Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung
umgesetzt wird?

22. Wie schätzt die Bundesregierung die Möglichkeiten für behinderte Men-
schen in Heimen ein, nach einem sexuellen Übergriff – besonders einem
Übergriff, der durch Mitarbeiter der Einrichtung erfolgte – das Erlebte
einem von der Einrichtung unabhängigen Ansprechpartner zu berichten?

Drucksache 15/3009 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

23. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass ausreichend Schutzräume
wie beispielsweise Frauenhäuser für Menschen mit geistiger oder körper-
licher Behinderung vorhanden und zugänglich sind?

24. Wie steht die Bundesregierung zu der Forderung, die Intimpflege bei weib-
lichen Behinderten nur von Frauen ausführen zu lassen?
Wird diese Forderung grundsätzlich immer erfüllt?

25. Welche Leistungen zur angemessenen Sexualerziehung für Menschen mit
Behinderung fördert die Bundesregierung und welche sind ihr darüber hi-
naus bekannt?

26. Hält die Bundesregierung diese Leistungen zur Sexualerziehung und insbe-
sondere deren tatsächliche Umsetzung bzw. Inanspruchnahme für ausrei-
chend? Wenn nein, was unternimmt die Bundesregierung, um hier Verbes-
serungen zu erreichen?

27. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass mit dem im Gewaltschutz-
gesetz vom 11. Dezember 2001 verwendeten Begriff der „Wohnung“ auch
gemeinsame Wohnräume wie Pflegeheime oder Heime für behinderte
Menschen erfasst sind? Beziehen sich die gesetzlichen Regelungen, die für
Ehepartner gedacht sind, auch auf Pfleger, Betreuer und sonstige Personen,
die mit der Betreuung und Versorgung von Menschen mit Behinderungen
befasst sind?

28. Hat die Bundesregierung Kenntnis darüber, wie sich die Zahl angezeigter
sexueller Übergriffe seit der Reform des § 179 Strafgesetzbuch (StGB) ent-
wickelt hat, und wenn ja, wie lauten diese Zahlen?

29. Ist der Bundesregierung bekannt, wer im Falle strafrechtlich verfolgter
sexueller Übergriffe als „widerstandsunfähig“ eingestuft wird?
Und wenn ja, an welchen Kriterien orientiert sich diese Einstufung?

30. Sieht die Bundesregierung die vorgenommenen Änderungen im § 179
StGB als ausreichendes Instrument an, um sexuelle Übergriffe gegenüber
Menschen mit Behinderungen strafrechtlich belangen zu können?

31. Wie begründet die Bundesregierung, dass trotz der vorgenommenen Re-
form sexuelle Übergriffe gegenüber widerstandsunfähigen Personen nur
als Vergehen, nicht aber als Verbrechen eingestuft werden?

32. Stimmt die Bundesregierung mit der Auffassung überein, dass hinsichtlich
des Problems sexueller Gewalt gegen Menschen mit Behinderung poli-
tischer und gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht?

Berlin, den 23. April 2004
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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