BT-Drucksache 15/2654

Unabhängige Folgenabschätzung der neuen EU-Chemikalienpolitik

Vom 9. März 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/2654
15. Wahlperiode 09. 03. 2004

Antrag
der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek, Marie-Luise Dött, Karl-Josef Laumann,
Dagmar Wöhrl, Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach), Veronika Bellmann,
Dr. Rolf Bietmann, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Cajus Caesar,
Alexander Dobrindt, Dr. Maria Flachsbarth, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof),
Dr. Michael Fuchs, Georg Girisch, Dr. Reinhard Göhner, Tanja Gönner,
Josef Göppel, Kurt-Dieter Grill, Holger Haibach, Ernst Hinsken, Robert Hochbaum,
Volker Kauder, Dr. Martina Krogmann, Dr. Hermann Kues, Wolfgang Meckelburg,
Friedrich Merz, Laurenz Meyer (Hamm), Doris Meyer (Tapfheim), Franz Obermeier,
Ulrich Petzold, Dr. Joachim Pfeiffer, Hans-Peter Repnik, Dr. Heinz Riesenhuber,
Franz Romer, Hartmut Schauerte, Johannes Singhammer, Max Straubinger,
Werner Wittlich und der Fraktion der CDU/CSU

Unabhängige Folgenabschätzung der neuen EU-Chemikalienpolitik

Der Bundestag wolle beschließen:
Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Der Europäische Rat hat sich auf seinem Gipfel in Lissabon im Jahre 2000 das
Ziel gesetzt, die Europäische Union bis zum Jahre 2010 „zur wettbewerbs-
fähigsten und dynamischsten, wissensbasierten Wirtschaft der Welt“ zu entwi-
ckeln. Dabei hat er keinen Zweifel daran gelassen, dass Wachstum, Wohlstand
und weitere wirtschaftliche Entwicklung untrennbar mit einem wettbewerbs-
fähigen produzierenden Gewerbe in Europa verbunden sind.
Mit ihrer Mitteilung „Industriepolitik in einem erweiterten Europa“ vom De-
zember 2002 macht sich die EU-Kommission das Lissabon-Ziel zu Eigen. Sie
unterstreicht, dass „Europa eine vitale Industrie braucht, um seinen Wohlstand
zu halten und zu mehren und um seine sozial- und umweltpolitischen sowie
seine internationalen Ziele zu verwirklichen“, und dass „die Sicherung der
Wettbewerbsfähigkeit des Verarbeitenden Gewerbes ein wesentlicher Bestand-
teil der EU-Strategie für eine nachhaltige Entwicklung ist“.
Mit dem Ziel, das Europäische Umweltrecht zu vereinfachen und zu straffen,
hat die Europäische Kommission am 29. Oktober 2003 ihren Verordnungsvor-
schlag zur Neuordnung des europäischen Chemikalienrechts verabschiedet.
Zentrales Element des Entwurfs ist ein neues, einheitliches Chemikalienkont-
rollsystem namens REACH (Registrierung, Bewertung, Zulassung und Be-
schränkung chemischer Stoffe). Zahlreiche Studien zu den Auswirkungen der
neuen Chemikalienpolitik, die von der EU-Kommission, den Mitgliedstaaten
oder der Wirtschaft in Auftrag gegeben wurden, belegen eine massive Beein-
trächtigung der Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der Europäischen Wirt-
schaft. Durch die umfangreichen und bürokratischen Vorschläge der Kommis-
sion ist keine Verschlankung der Umweltgesetzgebung zu erwarten. Zudem ist
durch die Neuregelung eine Zunahme von Tierversuchen in beträchtlichem

Drucksache 15/2654 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Umfang zu erwarten. Der Verordnungsentwurf steht daher nicht nur im Wider-
spruch zu den Zielen von Lissabon und den industriepolitischen Zielen der
EU-Kommission, sondern auch zu den umwelt- und tierschutzpolitischen Ziel-
setzungen der Europäischen Union.
Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hat anhand eines Pilotprojekts
das REACH-System einem Praxistest unterzogen. Die Ergebnisse dieses Plan-
spiels zeigen, dass wesentliche Anforderungen aus dem Verordnungsvorschlag
der Kommission zu REACH unpraktikabel sind und viele Unternehmen ent-
lang der gesamten Wertschöpfungskette überfordern würden. Diese Ergebnisse
zeigen den Handlungsbedarf bei der Bundesregierung, sich für eine erhebliche
Vereinfachung des Kommissionsentwurfs einzusetzen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder hat gemeinsam mit dem französischen Staats-
präsidenten Jacques Chirac und dem englischen Premierminister Tony Blair die
Kommission in einem Schreiben aufgefordert, die wirtschaftlichen Auswirkun-
gen der neuen Regelungen zu untersuchen, bevor eine Beratung im EU-Parla-
ment und im Ministerrat erfolgt. In der gemeinsamen Position der Bundesregie-
rung mit der chemischen Industrie wurde zudem präzisiert, dass diese Überprü-
fung durch eine dritte, unabhängige Stelle durchgeführt werden sollte.
Bisher ist eine solche Untersuchung nicht durchgeführt worden. Die EU-Kom-
mission hat zusammen mit ihrem REACH-Entwurf ein eigenes „Extended Im-
pact Assessment vorgelegt“. In ihrer Folgenabschätzung räumt die Kommis-
sion ein, dass das von ihr verwendete ökonomische Model zur Abschätzung der
wirtschaftlichen Kosten nicht berücksichtigt, dass die Industrie im globalen
Wettbewerb steht. Zudem werden dynamische Effekte wie eine abnehmende
Investitionsneigung oder Innovationsfähigkeit nicht eingerechnet. Seitens der
Wissenschaft wurden erhebliche Zweifel an der Aussagekraft der von der Kom-
mission vorgelegten Zahlen geäußert. Die Kommission plant daher weitere Stu-
dien zu den wirtschaftlichen Folgen ihres Verordnungsentwurfs. Kommis-
sionseigene Studien können jedoch eine unabhängige Folgenabschätzung durch
eine dritte Stelle nicht ersetzen.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. die Europäische Kommission gemeinsam mit anderen Mitgliedstaaten auf-

zufordern, eine umfassende Studie zu den Auswirkungen der neuen EU-
Chemikalienpolitik bei einer dritten, unabhängigen Stelle durchführen zu
lassen. Als eine unabhängige Stelle ist beispielsweise eine international an-
erkannte wissenschaftliche Institution anzusehen. Der Auftragnehmer sollte
möglichst selbständig und losgelöst von einzelnen Interessengruppen und
nicht bereits durch vorangegangene Untersuchungen zu dieser Thematik
vorgeprägt sein;

2. dafür Sorge zu tragen, dass die Studie alle relevanten Folgen umfasst.
Hierzu zählen insbesondere auch der entgangene Nutzen durch den Wegfall
chemischer Erzeugnisse, die Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit
der gesamten europäischen Wirtschaft, die Auswirkungen auf Innovationen
und Investitionen und der Wegfall von Arbeitsplätzen, aber auch eine Ab-
schätzung, ob und welchen Nutzen das REACH-System bringt. Die Studie
soll alle tierschutzrelevanten Daten erfassen, insbesondere die Gesamtzahl
der zu Erfassung aller Altstoffe notwendigen Tierversuche sowie die dafür
benötigten Laborkapazitäten und Versuchskosten;

3. die Kommission zu bewegen, die Ergebnisse dieser Studie ihren weiteren
Einlassungen zu Grunde zu legen;

4. soweit die EU-Kommission nicht bereit ist, eine entsprechende Studie zu
veranlassen, gemeinsam mit anderen Mitgliedstaaten und gegebenenfalls

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/2654

auch mit dem EU-Parlament eine Studie zu den Auswirkungen an eine unab-
hängige Stelle in Auftrag zu geben;

5. sich dafür einzusetzen, dass die Beratungen im Ministerrat für den gemein-
samen Standpunkt nicht abgeschlossen werden, bevor die Ergebnisse einer
solchen Studie vorliegen. Die Ergebnisse sind im gemeinsamen Standpunkt
zu berücksichtigen;

6. die Ergebnisse des Pilotprojekts von Nordrhein-Westfalen in die Positionie-
rung der Bundesregierung gegenüber der EU-Kommission einfließen zu las-
sen und auf eine Vereinfachung des Kommissionsentwurfs bezüglich der
identifizierten Probleme hinzuwirken.

Berlin, den 9. März 2004
Dr. Peter Paziorek
Marie-Luise Dött
Karl-Josef Laumann
Dagmar Wöhrl
Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach)
Veronika Bellmann
Dr. Rolf Bietmann
Wolfgang Börnsen (Bönstrup)
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Dr. Maria Flachsbarth
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)
Dr. Michael Fuchs
Georg Girisch
Dr. Reinhard Göhner
Tanja Gönner
Josef Göppel
Kurt-Dieter Grill
Holger Haibach
Ernst Hinsken
Robert Hochbaum
Volker Kauder
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Wolfgang Meckelburg
Friedrich Merz
Laurenz Meyer (Hamm)
Doris Meyer (Tapfheim)
Franz Obermeier
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Hans-Peter Repnik
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Hartmut Schauerte
Johannes Singhammer
Max Straubinger
Werner Wittlich
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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