BT-Drucksache 15/2511

Menschenrechte in der Republik Belarus

Vom 10. Februar 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/2511
15. Wahlperiode 10. 02. 2004

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Irmgard Karwatzki, Hermann Gröhe, Dr. Friedbert Pflüger,
Rainer Eppelmann, Holger Haibach, Siegfried Helias, Claudia Nolte, Dr. Egon
Jüttner, Melanie Oßwald, Daniela Raab, Karl-Theodor Freiherr von und zu
Guttenberg, Hubert Hüppe, Julia Klöckner, Werner Lensing, Albert Rupprecht
(Weiden), Dr. Wolfgang Schäuble, Arnold Vaatz und der Fraktion der CDU/CSU

Menschenrechte in der Republik Belarus

Durch die Auflösung der Sowjetunion erhielt die damalige Republik Weißruss-
land im Dezember 1991 die vollständige staatliche Unabhängigkeit. Wahlen
wurden jedoch nicht abgehalten. Daher bestand der Oberste Sowjet fort, der
unter sowjetischem Gesetz gewählt worden war. Vorsitzender wurde jedoch
Stanislaw Schuschkiewitsch, ein Vertreter der antisowjetischen Opposition, der
sich für ein unabhängiges und demokratisches Belarus einsetzte. Am 15. März
1994 verabschiedete der Oberste Sowjet die Verfassung von Belarus. Im Som-
mer 1994 ging Alexander Lukaschenko bei den Präsidentschaftswahlen als Sie-
ger hervor.
Im November 1996 ließ der Präsident ein Referendum zur Änderung der Verfas-
sung durchführen, das seine Machtbefugnisse erheblich vergrößerte. Dieses
Referendum wurde von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa (OSZE), dessen Mitglied Belarus seit 1995 ist, für ungültig erklärt, da es
gegen die der OSZE zugrunde liegenden demokratischen Grundlagen verstieß.
Die neue Verfassung setzte er unmittelbar danach in Kraft. Der Präsident verfügt
damit über umfangreiche legislative Rechte, z. B. kann er Dekrete, Erlasse und
Anordnungen mit bindender, Gesetzen übergeordneter Kraft erlassen und direkt
oder durch örtliche Verwaltungsorgane mittelbar die Einhaltung der Gesetz-
gebung (Artikel 84 der Verfassung von Belarus) kontrollieren. Der Oberste
Sowjet wurde aufgelöst und – ohneWahlen – durch die „Nationalversammlung“
ersetzt.
Die Parlamentswahlen im Oktober 2000 entsprachen nach dem Urteil der OSZE
keineswegs den internationalen Standards für demokratische und freie Wahlen.
Der Präsidentschaftswahl im September 2001 waren staatliche Willkürakte
gegenüber Oppositionspolitikern vorausgegangen, wie z. B. die Beschlagnah-
mung vonWahlunterlagen und die Durchsuchung von Büros von Wahlbeobach-
tern und unabhängigen Zeitungen. Auch diese Wahlen wurden von der Inter-
nationalen Wahlbeobachtermission ILEOM nicht als frei und demokratisch
anerkannt.
Zwar enthält die Verfassung der Republik von Belarus ein breites Spektrum an
Rechten und Freiheiten in den politischen, sozialökonomischen und kulturellen
Bereichen (Artikel 24 bis 27, 29, 30, 31 der Verfassung). Doch in der Realität
werden die Menschenrechte in der Republik von Belarus täglich verletzt, und

Drucksache 15/2511 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

die tägliche Praxis ist gekennzeichnet durch Folter, Todesurteile, unmenschliche
und erniedrigende Strafen, willkürliche Festnahmen und Verschleppungen.
Auf die wachsenden Proteste der Opposition reagierte die Regierung von
Präsident Alexander Lukaschenko mit zunehmend härteren und willkürlichen
Maßnahmen. Journalisten, politische Gegner des Präsidenten sowie Menschen-
rechtsverteidiger sahen und sehen sich Schikanen und Einschüchterungen aus-
gesetzt. Prominente Oppositionelle, die sich gegen Präsident Lukaschenko aus-
sprachen, wurden inhaftiert oder verschwanden. Im Jahre 1999 verschwanden
beispielsweise der ehemalige Innenminister Jurij Sacharenko, der Oppositions-
politiker und ehemalige stellvertretende Ministerpräsident Viktor Gontschar so-
wie der Geschäftsmann Anatoli Krassowski; im Juli 2000 verschwand der Jour-
nalist Dimitri Sawadski. Medien werden zensiert, unabhängige Zeitungen
verboten, Journalisten verfolgt.
Ungeachtet des Drucks durch die Regierung im Vorfeld der Parlamentswahlen
im Herbst 2004 haben sich fünf oppositionelle politische Parteien – die Verei-
nigte Bürgerpartei, die Belarussische Volksfront, die Belarussische Sozialdemo-
kratische Partei Gramada, die Partei der Kommunisten von Belarus, die Belarus-
sische Partei der Arbeit – und mehrere gesellschaftliche Organisationen zur
Koalition „Fünf +“ zusammengeschlossen. Damit wollen sie der bisher herr-
schenden Zerstrittenheit der belarussischen Opposition entgegenwirken und in
den Parlamentswahlen in einem überparteilichen Bündnis gegen das bestehende
Regime antreten. Andere oppositionelle Parteien, wie unter anderem die so ge-
nannte Europäische Koalition „Swobodnaja Belarus“, sind diesem Bündnis bis-
her fern geblieben.
Im April 1996 wurde das Menschenrechtszentrum „Viasna“ („Frühling“) ge-
gründet, nachdem bei einer Massendemonstration in Minsk gegen das autoritäre
Regime Hunderte Menschen verhaftet worden waren. Das Ziel von „Viasna“ ist,
jede Art von Menschenrechtsverletzung in Belarus zu dokumentieren und be-
kannt zu machen sowie Opfer der politischen Unterdrückung zu unterstützen.
Im Herbst 2003 wurde „Viasna“ allerdings ebenso verboten wie die Menschen-
rechtsorganisationen „Rechtshilfe für die Bevölkerung“, „Hände der Hilfe“ und
die „Unabhängige Gesellschaft für Rechtsstudien“. Alle Versuche, neu gegrün-
dete demokratische Organisationen registrieren zu lassen, werden vom Justiz-
ministerium abgewehrt. Im Juni 2003 wurde die Registrierung der „Jungen
Christlichen Sozialen Union“ (JCSU) annulliert.
Mit Hilfe eines neuen Religionsgesetzes will Alexander Lukaschenko nun auch
staatliche Kontrolle über die Kirchen und Gläubige jedweder Glaubensrichtung
verstärken: alle Religionsvereinigungen müssen einer staatlichen Registrierung
unterzogen werden, religiöse Literatur darf nur nach staatlicher Begutachtung
nach Belarus eingeführt werden. Ausgenommen ist die Orthodoxe Kirche, der
in dem Gesetz eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und Entwicklung
geistlicher, kultureller und staatlicher Traditionen des belarussischen Volkes be-
scheinigt wird.
Nach wie vor leidet die Bevölkerung in Belarus unter den Folgen der Katastro-
phe von Tschernobyl. Die Gesundheitsbehörden schätzen, dass die medizinisch-
gesundheitliche Notsituation in Belarus im Jahr 2010 ihren Höhepunkt erreichen
wird. 22 % der Kinder, d. h. 500 000 Personen, sind chronisch erkrankt, vor
allem an Schilddrüsenkrebs. Es wird geschätzt, dass mehr als 400 000 Men-
schen seit dem Unfall an Krebs verstarben. Die damalige sowjetische Regierung
spielte aus innenpolitischen Gründen die Angelegenheit herunter und unterließ
es, die Bevölkerung über die Gefahren der Strahlung zu informieren, mit dem
Ergebnis, dass die Bevölkerung inzwischen in die am stärksten kontaminierten
Gebiete zurückkehrte.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/2511

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie beurteilt die Bundesregierung die politische Entwicklung von Belarus

seit dem Amtsantritt von Präsident Alexander Lukaschenko?
2. In welcher Weise spricht sie auf bi- und multilateraler Ebene die eklatanten

rechtsstaatlichen Mängel an?
3. WelcheMöglichkeiten sieht die Bundesregierung, in Belarus auf die Einhal-

tung der Menschen- und Grundrechte, wie körperliche Unversehrtheit, Frei-
zügigkeit, Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit hinzuwirken?

4. In welcher Weise fordert die Bundesregierung die belarussische Regierung
auf, die von ihr unterzeichneten internationalen Menschenrechtsabkommen
einzuhalten?

5. Welche konkreten Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen, um ihre
Bemühungen zur Stärkung der Menschenrechte in Belarus mit vergleich-
baren Anstrengungen der EU, der OSZE, des Europarats sowie der USA so
eng wie möglich zu koordinieren?

6. Welche Möglichkeit sieht die Bundesregierung, auf die Unterzeichnung des
zweiten Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und
politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe durch die Regierung von
Belarus hinzuwirken?

7. In welcher Weise hat die Bundesregierung Stellung genommen zu den
Resultaten der Internationalen Wahlbeobachtermission ILEOM, denen zu-
folge die letzten Präsidentschaftswahlen im Herbst 2001 nicht den inter-
nationalen Kriterien für freie Wahlen entsprachen?

8. In welcher Weise wird sich die Bundesregierung finanziell und personell an
einer Wahlbeobachtermission bei den bevorstehenden Wahlen beteiligen?

9. Wie bewertet die Bundesregierung die Befürchtungen von „Viasna“, dass
im Vorfeld der in den Jahren 2004 und 2006 anstehenden Parlaments- und
Präsidentschaftswahlen die Opposition ausgeschaltet werden soll sowie
Wahlfälschungen größeren Ausmaßes zu erwarten sind?

10. Wie beurteilt die Bundesregierung vor diesem Hintergrund das Verbot von
„Viasna“ und den drei anderen Organisationen im Herbst 2003?

11. Wie steht die Bundesregierung zu der Koalition von Oppositionsparteien in
„Fünf +“?
Ist die Bundesregierung bereit, „Fünf +“ zu unterstützen?
Wenn ja, in welcher Form, wenn nein, warum nicht?

12. Unternimmt die Bundesregierung Schritte, um den Prozess des Zusammen-
schlusses der oppositionellen Kräfte, der mit der Koalition „Fünf +“ seinen
Anfang genommen hat, zu unterstützen?
Wenn ja, welche?

13. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, durch Menschenrechts-
und Nichtregierungsorganisationen demokratische Grundsätze zu verbrei-
ten, um das bürgerliche und politische Engagement zu stärken?

14. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, im Rahmen der deut-
schen und europäischen Entwicklungszusammenarbeit mit der Republik
von Belarus zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage beizutragen?

15. Welche Haltung nimmt die Bundesregierung bei der Überprüfung der
sozialen Rechte in Belarus ein, und unterstützt sie die Auffassung von
EU-Kommissar Pascal Lamy, dass bei einem festgestellten Verstoß der

Drucksache 15/2511 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

ILO-Richtlinien die EU-Zollvergünstigungen ausgesetzt werden müssten
(KNA vom 7. Januar 2004)?

16. Wie beurteilt die Bundesregierung die Aussicht, dass das im März 1995
unterzeichnete Partnerschafts- und Kooperationsabkommen doch noch in
Kraft treten kann?

17. Welche Informationen hat die Bundesregierung über Alexander Lukaschen-
kos politische Aktivitäten gegenüber Menschenrechtsorganisationen,
Hilfsorganisationen und internationalen Nichtregierungsorganisationen?

18. Wie beurteilt die Bundesregierung die Einschränkung der Religionsfreiheit
durch das im letzten Jahr in Kraft getretene Religionsgesetz?

19. Wie bewertet die Bundesregierung die Situation der Presse- und Meinungs-
freiheit in Belarus vor dem Hintergrund der Nachrichten über systematische
Einschüchterungskampagnen gegen Journalisten?

20. Hat die Bundesregierung Informationen über das Unterlassen der Aufklä-
rung von Mord- und Verschleppungsfällen von Politikern, Menschenrecht-
lern und Journalisten durch belarussische Behörden, und wenn ja, wie be-
wertet sie diese?

21. Wie beurteilt die Bundesregierung, dass bislang eine offizielle Stellungnah-
me zum Verschwinden von Jurij Sacharenko, Viktor Gontschar, Anatoli
Krassowski und Dimitri Sawadski ausgeblieben ist, sowie die Informatio-
nen, dass hochrangige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in diese
Kidnappings verstrickt sein sollen?

22. Wie beurteilt die Bundesregierung den Versuch der weißrussischen Behör-
den, den Direktor der Europäischen Humanistischen Universität (EHU) zur
Abdankung zu zwingen, und ist es zutreffend, dass EU-Länder damit ge-
droht haben, die bilateralen Beziehungen in diesem Fall abzubrechen?

23. Unterstützt die Bundesregierung finanziell oder auf andere Weise die Tätig-
keit der privaten deutschen, in Belarus tätigen humanitären Hilfsorganisa-
tionen?
Wenn ja, auf welche Weise, wenn nein, warum nicht?

24. Welche Möglichkeit sieht die Bundesregierung, auf die Regierung von
Belarus im bi- und multilateralen Dialog einzuwirken, die Behinderungen,
denen die Hilfsorganisationen ausgesetzt sind, zu beseitigen?

25. Was wird von der Bundesregierung unternommen, um die Folgen des
Tschernobyl-Unfalls gegenwärtig und auch in Zukunft im Rahmen der in-
ternationalen Entwicklungszusammenarbeit und der Verbesserung des Ge-
sundheitswesens in Belarus zu beseitigen?

26. Welche konkreten Projekte werden von der Bundesregierung zur Verbesse-
rung der Lebenssituation jener durch den Reaktorunfall von Tschernobyl an
Krebs und anderen schweren Leiden erkrankten Menschen unterstützt?

27. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über das Ausmaß des Waf-
fenhandels in Belarus?

28. Wie beurteilt die Bundesregierung im Einzelnen die Begründungen und Be-
schuldigungen der weißrussischen Behörden anlässlich der Ausweisung des
Deutschen Jan Busch im August 2003, der ein mit Geldern des Auswärtigen
Amtes finanziertes Projekt zur Demokratieförderung durchgeführt hatte
(vgl. Fankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. August 2003)?
Wie beurteilt sie insbesondere den zu diesem Vorfall am 17. August 2003 in
den Abendnachrichten des weißrussischen Staatsfernsehens gesendeten
fünfminütigen Bericht?

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/2511

Und welche Maßnahmen – über die Einbestellung des Geschäftsträgers der
Weißrussischen Botschaft hinaus – hat die Bundesregierung deshalb gegen-
über den Behörden von Belarus ergriffen?

Berlin, den 6. Februar 2004
Irmgard Karwatzki
Hermann Gröhe
Dr. Friedbert Pflüger
Rainer Eppelmann
Holger Haibach
Siegfried Helias
Claudia Nolte
Dr. Egon Jüttner
Melanie Oßwald
Daniela Raab
Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg
Hubert Hüppe
Julia Klöckner
Werner Lensing
Albert Rupprecht (Weiden)
Dr. Wolfgang Schäuble
Arnold Vaatz
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.