BT-Drucksache 15/2334

Stärkung der wissenschaftlichen Zukunfts- und wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit des Raumfahrtstandorts Deutschland in Europa

Vom 13. Januar 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/2334
15. Wahlperiode 13. 01. 2004

Antrag
der Abgeordneten Dr. Georg Nüßlein, Katherina Reiche, Thomas Rachel,
Dr. Maria Böhmer, Ilse Aigner, Dr. Christoph Bergner, Helge Braun, Vera Dominke,
Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land), Helmut Heiderich, Michael Kretschmer,
Helmut Lamp, Werner Lensing, Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn), Bernward
Müller (Gera), Hans Raidel, Dr. Heinz Riesenhuber, Kurt J. Rossmanith, Christian
Schmidt (Fürth), Uwe Schummer, Marion Seib und der Fraktion der CDU/CSU

Stärkung der wissenschaftlichen Zukunfts- und wirtschaftlichen
Wettbewerbsfähigkeit des Raumfahrtstandorts Deutschland in Europa

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die Forschungsergebnisse der Raumfahrt haben viele Anwendungen im Alltag
gefunden und finden neben der militärischen Sicherheit auch Eingang u. a. in
Verkehr und Mobilität, Information und Kommunikation, industrielle Wett-
bewerbsfähigkeit, Umweltschutz, Meteorologie, Raumordnung, Landwirtschaft
und Fischerei. In der Praxis ist die Raumfahrt zu einer Quelle für technologi-
schen und wirtschaftlichen Fortschritt geworden.
Trotzdem sind die Grenzen der Kommerzialisierbarkeit zu berücksichtigen.
Raumfahrt ist von der Forschung und Entwicklung bis zu vielen Umsetzungen
staatlich dominiert. Nur mit einer effektiven und fundierten Grundlagenfor-
schung kann eine langfristige wissenschaftliche und wirtschaftliche Wettbe-
werbsfähigkeit erreicht werden.
Die strategische Bedeutung der Raumfahrt haben neben den Vorreitern USA
und Russland inzwischen auch Schwellenländer wie etwa China, Indien und
Brasilien erkannt. Die EU hat zahlreiche wichtige Schritte unternommen, um
eine tragende Rolle in der Raumfahrt einzunehmen und auszubauen:
l Seit 1980 verfügt Europa mit der Trägerrakete Ariane und dem Raketen-

startzentrum in Kourou über einen unabhängigen Zugang zum Weltraum.
l Ein gemeinsames Projekt für satellitengestützte Navigations- und Ortungs-

systeme, GALILEO, ist auf den Weg gebracht.
l Mit „Global Monitoring for Environment and Security“ (GMES) wurde eine

gemeinsame Initiative zur globalen Beobachtung zu Umwelt- und Sicher-
heitszwecken gestartet.

l Das „Digital Divide Programm“ der EU, das moderne Informations- und
Telekommunikationstechnologien einschließlich satellitengestützter Breit-
bandkommunikation auch osteuropäischen EU-Beitrittsländer zugänglich
machen soll, stellt eine weitere große Anwendungsperspektive für die euro-
päische Raumfahrt dar.

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l Die Raumfahrt ist als Aufgabe der Europäischen Union in ihrem Verfas-
sungsentwurf verankert.

l Die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen für eine strukturierte Zu-
sammenarbeit zwischen der ESA und der Europäischen Gemeinschaft sind
abgeschlossen und das Abkommen wurde am 26. November 2003 unter-
zeichnet.

l Das vor kurzem von der EU-Kommission vorgestellte Weißbuch enthält
einen mehrjährigen Weltraum-Aktionsplan mit einem Bündel von Vorschlä-
gen für ein Gemeinschaftsprogramm zur europäischen Raumfahrtpolitik,
das bereits im nächsten Jahr gestartet werden soll.

Auch die deutsche Raumfahrt kann auf eine vielfältige Erfolgsgeschichte zu-
rückblicken. Ihr Beitrag zum gemeinsamen europäischen Erfolg vor allem bei
Ariane war beachtlich und verdient Anerkennung. Deutsche Ingenieurleistun-
gen bei Raketenantrieben, Boostern, Antennen, Solarpaneelen, Experimente
auf den D1 und D2-Missionen, extraterrestrische Missionen, in der Kamera-
technik, beim Columbusmodul der ISS und in der Missionskontrolle haben we-
sentlich zum Ruf des made in Germany beigetragen. Deutschland ist an den
oben aufgeführten europäischen Raumfahrtinitiativen als zweitgrößter Bei-
tragszahler der ESA und in der industriellen Führungsrolle bei GALILEO in
wesentlichem Umfang beteiligt und spielt nach wie vor eine tragende Rolle in
der europäischen Raumfahrtpolitik.
Eine internationale, über die EU hinausgehende Zusammenarbeit gilt nicht nur
unter Kostengesichtspunkten als geboten. Das Projekt einer Internationalen
Raumstation (ISS) ebenso wie die Kooperation mit Russland im Trägerbereich
(EUROCKOT) und die Einbeziehung der Sojus-Rakete in die Europäische Trä-
gerfamilie tragen dem Rechnung.
Dennoch befinden sich sowohl europäische als auch deutsche Raumfahrt in
einer besorgniserregenden Lage. Zeitliche Verzögerungen und technische Pro-
bleme bei der Einführung der ARIANE 5 stellen eine hohe finanzielle Belas-
tung dar. Eine schwierige Weltmarktsituation, u.a. bedingt durch den drasti-
schen Einbruch bei der Satellitennachfrage um 60 Prozent in 2002 im Vergleich
zu 2001, machen Konsolidierungsprozesse erforderlich, die im Bereich der
Systemindustrie bereits begonnen haben. Gleichzeitig stagnieren europäische
Raumfahrtbudgets bzw. gehen sogar leicht zurück. In Deutschland, wo der
kommerzialisierte Aspekt der Raumfahrt eine größere Rolle spielt, macht sich
die Marktlage besonders bemerkbar. Dagegen gleichen die USA diese Situation
durch verstärkt staatliches Engagement – insbesondere für Wehrtechnik – aus.
National wie europäisch liegt der Fokus auf der zivilen Raumfahrt, während
sicherheits- und verteidigungspolitische Bereiche bislang ausgeklammert wer-
den. Gerade die USA setzen andere Schwerpunkte, was eine Zusammenarbeit
erschweren wird. Im Übrigen sind Raumfahrttechnologien vielfach als „Dual-
Use-Techniken“ zu qualifizieren. Eine übermäßig strikte Exportkontrolle
schränkt dabei die deutsche Konkurrenzfähigkeit deutlich ein.
In Europa werden weniger als 15 Euro pro Einwohner und Jahr an öffentlichen
Mitteln für die Raumfahrt zur Verfügung gestellt. Dagegen investieren die USA
110 Euro pro Einwohner und Jahr. Dies dürfte zu großen Wettbewerbsnachtei-
len der europäischen Raumfahrtindustrie führen.
Gleichzeitig büßt Deutschland gegenüber seinen europäischen Partnern an
Konkurrenz- und Wettbewerbsfähigkeit ein, was deutlich wird, wenn man die
Budgets für die nationalen Raumfahrtaktivitäten Deutschlands mit denen Ita-
liens und Frankreichs vergleicht: Frankreich investiert rund das Dreifache und
Italien in etwa das Doppelte des bundesdeutschen Budgets für nationale Aktivi-
täten. Zudem steigen die italienischen Ausgaben stetig an oder bleiben zumin-

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/2334

dest konstant, während sie in Deutschland kontinuierlich und immer deutlicher
reduziert werden. Setzt man die Budgets darüber hinaus in Relation zum Brut-
toinlandsprodukt, wird dieser Eindruck noch verstärkt. Das deutsche Bruttoin-
landsprodukt (2 110,4 Mrd. Euro im Jahr 2002) ist im Vergleich zu Frankreich
(1 520,8 Mrd. Euro im Jahr 2002) und Italien (1 258,3 Mrd. Euro im Jahr 2002)
deutlich höher, während, wie eben dargestellt, die Ausgaben Deutschlands für
die Raumfahrt die geringsten sind. Die Bedeutung des nationalen Budgets im
nicht weg zu diskutierenden innereuropäischen Wettbewerb wird unterschätzt.
Das nationale Budget sichert nationale Kapazitäten und Kompetenzen und wird
über die künftige deutsche Wettbewerbsfähigkeit entscheiden. Vor dem Hinter-
grund der nunmehr im Weißbuch beschlossenen EU-Aktivitäten ist das von be-
sonderer Bedeutung.
Dies wird in Zukunft immer wichtiger, da bei Projekten, wie z. B. GALILEO
und GMES, die Rückflusskriterien der ESA bei einem 50-prozentigen EU-An-
teil nicht weiter angewandt werden und deshalb ausschließlich die Kompeten-
zen von Bedeutung sind.
Trotzdem ist ein deutliches Missverhältnis zwischen dem deutschen ESA-Bei-
trag und dem nationalen Raumfahrtprogramm auszumachen. Die Ausgaben für
den deutschen ESA-Beitrag wurden in den letzten Jahren konstant gehalten
bzw. sind sogar angestiegen, was ebenfalls auf Kosten der nationalen Raum-
fahrtbudgets realisiert wurde. Der deutsche ESA-Beitrag stand ursprünglich im
Verhältnis von 65:35 zum nationalen Budget. Das aktuelle Verhältnis beläuft
sich auf fast 80:20. Frankreich und Italien gehen zur Stärkung ihrer nationalen
Raumfahrtkapazitäten den umgekehrten Weg.
Im Jahr 2003 wurde im Ministerrat ein Ausgleich für das deutsche Rückfluss-
defizit in Höhe von 155 Mio. Euro beschlossen. Nur die nachhaltige Beseiti-
gung dieses Defizits wird die Bundesrepublik Deutschland in der derzeitigen
Finanzsituation in die Lage versetzen, den Raumfahrtstandort Deutschland über
nationale Anstrengungen zu sichern.
Das Fortexistieren kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) mit Luft- und
Raumfahrtengagement hängt ab vom nationalen Raumfahrtprogramm. Sie stel-
len nicht nur wichtige Arbeitgeber dar, sondern wirken der faktischen Mono-
polsituation zumindest eingeschränkt entgegen. Das gilt für den typischen Mit-
telstand wie die Konzerntöchter in mittelständischer Struktur und Größe. Mit
dem Verschwinden von KMU geht ein hohes Maß an Raumfahrtkompetenz
verloren.
Gleiches bewirken der Rückgang der Zahl junger, flexibler Nachwuchskräfte
bzw. eine vermehrte Abwanderung fähiger Fachleute aus Deutschland („brain
drain“) und die Verlagerung von Unternehmensstandorten. Dies hat verschie-
dene Ursachen. Motivation sind z. B. steuerliche Bedingungen sowie ein noch
besseres Image der Raumfahrt im Ausland.
Insgesamt besteht Handlungsbedarf, um die wissenschaftliche Zukunfts- und
wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit des Raumfahrtstandorts Deutschland in
Europa zu stärken.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. Raumfahrt als visionenbasiertes Wissenschaftsfeld zu begreifen und deshalb

l an der bemannten Raumfahrt festzuhalten und ISS zu stützen,
l künftig auf visionäre Programme, wie z. B. AURORA, an dem Deutsch-

land nicht beteiligt ist, nicht grundsätzlich zu verzichten;
2. eine langfristige Strategie zu entwickeln, indem sie

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l die Raumfahrtpolitik noch mehr als eine ressortübergreifende Politik be-
greift und dementsprechend in Abstimmung der beteiligten Ressorts ein
konsistentes deutsches Raumfahrtprogramm entwickelt, um gegenläufige
Strategien zu vermeiden und auch in der Finanzierung größtmögliche
Synergieeffekte zu erzielen,

l sich dafür einsetzt, dass die nationalen Raumfahrtprogramme und der im
Weißbuch von der EU-Kommission zugrunde gelegte Weltraum-Aktions-
plan aufeinander abgestimmt werden,

l den Technologiebedarf für die nächsten Jahrzehnte frühzeitig ermittelt
und sich hier im Hinblick auf die knappen finanziellen Mittel auf die Zu-
kunftsfelder und -kompetenzen konzentriert,

l sich gegen den Ausbau redundanter Kapazitäten wendet, wie sie z. B.
durch VEGA und EUROCKOT parallel entstehen werden;

3. kleinen und mittleren Unternehmen die Chance zur Partizipation zu erhalten
durch
l Aufbau und Förderung von Public Private Partnerships über einen lang-

jährigen Zeitraum, wobei für Industrie und Wirtschaft die notwendige
Verlässlichkeit geschaffen wird, die diese für eine wirtschaftliche Beteili-
gung an Raumfahrtprogrammen benötigt,

l Schaffung der notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen für diese
Zusammenarbeit zwischen Privaten und Staat,

l Stärkung des nationalen Programms;
4. nationale Interessen zu vertreten und durchzusetzen durch

l Sicherung der nationalen Zuständigkeiten statt einer ausschließlichen
Kompetenzübertragung auf die EU,

l Stärkung der deutschen Raumfahrtstandorte,
l Gewährleistung des „Sockelbetrags“ für Unternehmen und Institute, wie

z. B. das DLR, da ansonsten deren Beteiligung an wichtigen Projekten
des nationalen Programms (u. a. CHAMP, GRACE, ENVISAT, Mars-
Express) gefährdet wird,

l Sicherstellung der deutschen Präsenz in wichtigen europäischen Gremien
durch Erhöhung des Anteils der deutschen Mitarbeiter innerhalb der ESA
und der EU,

l Erhalt und Ausbau einer dem deutschen ESA-Beitrag entsprechenden
Wertschöpfung aus europäischen Programmen in Deutschland,

l dauerhafte und konsequente Verringerung des Rückflussdefizits,
l Abbau der zu hohen Kassenmittel der ESA, um dadurch den deutschen

ESA-Beitrag zu verringern,
l den Verzicht auf eine ideologisch getriebene rigide Exportkontrolle, die

derzeit den Export von Dual-Use-Gütern unangemessen beeinträchtigt
und zu einer Verlagerung von Produktion und/oder Vertrieb ins Ausland
führt, und Drängen auf eine weitere Harmonisierung der Exportkontrolle;

5. den wissenschaftlichen und technischen Nachwuchs zu fördern durch
l Steigerung der Attraktivität der Raumfahrtforschung in den natur- und in-

genieurwissenschafftlichen Studiengängen,
l Unterstützung von Kooperationen staatlicher Forschungs- und Entwick-

lungseinrichtungen sowie Hochschulen mit Industrie und Wirtschaft, die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/2334

demNachwuchsMöglichkeiten zur Beteiligung an Projekten, zur Diplom-
arbeit und zur Promotion eröffnen,

l Schaffung entsprechender wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, die es
den Unternehmen ermöglichen, neue Arbeitsplätze zur Verfügung zu stel-
len;

6. internationale Zusammenarbeit anzustreben und zu unterstützen, indem
l internationale Kooperationen wie die der EU mit China im Rahmen von

GALILEO vorangetrieben werden, um Erfahrungen mit anderer Raum-
fahrtnationen, insbesondere der USA und Russland, austauschen und nut-
zen zu können,

l gleichwertige Partnerschaften erreicht werden,
l ein noch intensiveres Engagement der Europäischen Union eingefordert

wird und man sich für eine Verschmelzung der Raumfahrtpolitik von
Europäischer Union und ESA einsetzt,

l die ESA in die Rolle einer Implemtierungsagentur für eine gemeinsame
europäische Raumfahrtpolitik gehoben wird,

l neben den zivilen Zwecken auch sicherheits- und verteidigungspolitische
Bereiche in die künftige Raumfahrtpolitik einbezogen werden.

Berlin, den 13. Januar 2004
Dr. Georg Nüßlein
Katherina Reiche
Thomas Rachel
Dr. Maria Böhmer
Ilse Aigner
Dr. Christoph Bergner
Helge Braun
Vera Dominke
Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)
Helmut Heiderich
Michael Kretschmer
Helmut Lamp
Werner Lensing
Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn)
Bernward Müller (Gera)
Hans Raidel
Dr. Heinz Riesenhuber
Kurt J. Rossmanith
Christian Schmidt (Fürth)
Uwe Schummer
Marion Seib
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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